Während bei den Vorwahlen (PASO) das Land am Río de la Plata noch von einer blauen Welle - Farbe des peronistischen Bündnisses Frente de Todos - überrollt wurde, fiel das Wahlergebnis der Präsidentschaftswahlen entgegen der Prognosen privater Forschungsinstitute deutlich knapper aus: Die Regierungsallianz, welche in den verpflichtenden Vorwahlen am 11. August nur 32,9 Prozent erreichte, konnte das Ergebnis bei den Präsidentschaftswahlen um knapp 7,5 Prozentpunkte steigern. Dies ist unter anderem den abgewanderten Stimmen der „dritten Option“ Consenso Federal sowie der erhöhten Wahlbeteiligung und dem Stimmenzuwachs in den zentralen Provinzen Argentiniens zuzuschreiben.
Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen auf nationaler Ebene
Nach Angaben des Innenministers Rogelio Frigerio nahmen 80,86 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung (rund 34 Millionen) an den Präsidentschaftswahlen teil. Im Laufe der Wahlkampagne konzentrierte sich die Regierungsallianz Cambiemos darauf, Bürgernähe mittels Kundgebungen in verschiedenen argentinischen Städten zu demonstrieren. Zudem lag ein besonderer Schwerpunkt auf dem Aufruf zur Wahlbeteiligung, um insbesondere ältere Bevölkerungsschichten, die in Argentinien von der Wahlpflicht ausgenommen sind, zum Urnengang zu mobilisieren. Je höher die Wahlbeteiligung, desto mehr Stimmen würden an das aktuelle Regierungsbündnis Juntos por el Cambio gehen, so die allgemeine Annahme.
Während die nördlichen wie südlichen Provinzen Argentiniens mehrheitlich für Alberto Fernández stimmten, konnte Präsident Macri im Zentrum des Landes, dessen Wirtschafsleistung den größten Anteil des argentinischen Bruttoinlandsprodukts darstellt, nämlich in den Provinzen Córdoba (61,3 Prozent), Entre Ríos (44,49 Prozent), Mendoza (50,02 Prozent), San Luis (45,09 Prozent), Santa Fe (43,5 Prozent) sowie in der Hauptstadt Buenos Aires (52,38 Prozent), Erfolge verzeichnen. In den Vorwahlen, welche vor allem die Unzufriedenheit der Bürger mit der wirtschaftlichen Situation des Landes widergespiegelt hatten, konnte die Regierungsallianz lediglich die Mehrheit der Wählerstimmen in der Provinz Córdoba (50,12 Prozent) und der Hauptstadt Buenos Aires (46,21 Prozent) auf sich vereinigen.
Zwar verbesserte sich das Ergebnis der Regierungsallianz im Vergleich zu den Vorwahlen mit einem Plus von 7,5 Prozentpunkten deutlich, dennoch gelang es nicht, die Stichwahl zu erreichen. Eine Stichwahl muss in Argentinien verfassungsgemäß stattfinden, wenn keiner der Kandidaten mehr als 45 Prozent der Stimmen erhält und wenn der Abstand zwischen den beiden Spitzenkandidaten weniger als zehn Prozentpunkte beträgt, sollte einer von beiden die 35-Prozent-Marke überschreiten.
Trotz der Wahlniederlage bezüglich der Präsidentschaft gelang es der Allianz um Mauricio Macri, für die kommende Legislaturperiode eine zahlenmäßig starke Opposition in den beiden Parlamentskammern zu bilden. Dies ist anhand der Sitzverteilung im argentinischen Abgeordnetenhaus und Senat ersichtlich. So stellt Juntos por el Cambio nunmehr 119 der 257 Sitze im Abgeordnetenhaus. Dem stehen 120 Sitze, und damit nur ein Sitz mehr, des peronistischen Bündnisses Frente de Todos gegenüber. Da im Abgeordnetenhaus für einfache Beschlüsse eine absolute Mehrheit von 129 Mandaten benötigt wird, ist die kommende peronistische Regierungsallianz auf die Unterstützung aus der Opposition angewiesen. Im argentinischen Senat (72 Sitze) erreichte das peronistische Bündnis 37 Sitze. Dies entspricht exakt der erforderlichen Anzahl an Senatoren für die notwendige Mehrheitsbildung. Juntos por el Cambio kommt in dieser Kammer auf 29 Mandate. Die ehemalige Präsidentin und amtierende Senatorin Cristina Fernández de Kirchner, kurz „CFK“ genannt, wird ab dem 10. Dezember als Vizepräsidentin den Vorsitz des Senats innehaben.
Die Wahlen in der Provinz und der Hauptstadt Buenos Aires
Am Sonntag konnten die Bürger nicht nur ihre Stimme für ihren favorisierten Präsidentschaftskandidaten, sondern auch für den Gouverneurskandidaten der Provinz Buenos Aires abgeben. Dieser sollte ursprünglich Anfang des Jahres gewählt werden. Dass sich bereits nach den Vorwahlen abzeichnende klare Ergebnis für den Oppositionskandidaten Axel Kicillof, ehemaliger Wirtschaftsminister unter Präsidentin Kirchner, sowie Mitglied der linkspopulistischen Bewegung „La Cámpora“ und Verfechter des Kirchnerismus, wurde in den Wahlen am vergangenen Sonntag bestätigt. Gouverneurin Vidal verbesserte zwar mit 38,39 Prozent der Stimmen ihr Resultat der Vorwahlen PASO, konnte jedoch nicht Axel Kicillof einholen, welcher mit 52,28 Prozent sein sehr gutes Resultat aus den Vorwahlen wiederholte.
Vidal konnte zwar neben La Plata, der Hauptstadt der Provinz Buenos Aires, und den Küstenstädten Bahía Blanca und Mar del Plata mehrheitlich die ländlichen Wahlbezirke der Provinz für sich gewinnen, dennoch reichten diese Ergebnisse nicht aus, um den deutlichen Abstand zu Kicillof zu verringern. Kicillofs Erfolge sind vor allem auf die Stimmen der bevölkerungsreichen Wahlbezirke zurückzuführen, welche die Hauptstadt Buenos Aires umgeben.
Wie bereits in den PASO konnte die Allianz des Präsidenten, trotz der Wahlniederlagen auf National- sowie Provinzebene, einen Wahlsieg des Regierungschefs der autonomen Stadt Buenos Aires erringen. Amtsinhaber Horacio Rodríguez Larreta setzte sich mit 55,9 Prozent der Stimmen deutlich gegenüber dem peronistischen Kandidaten Matías Lammens (35,06 Prozent) durch. Die Hauptstadt Buenos Aires gilt als Hochburg der konservativ-liberalen Partei PRO. Für das Regierungsbündnis ist dieser Wahlsieg von großem symbolischen Wert, da Mauricio Macri die autonome Stadt Buenos Aires zwischen 2007 und 2015 regierte.
Erste Schritte zur Amtsübergabe
Noch in der Wahlnacht gestand Präsident Macri seine Niederlage ein und gratulierte seinem Kontrahenten Alberto Fernández zum Sieg. Anders als Macris Vorgängerin CFK, welche ihm 2015 die Insignien der Präsidentschaft nicht persönlich übergeben wollte, sicherte Macri dem designierten Präsidenten Fernández seine Unterstützung bezüglich der Amtsübergabe zu. So lud er den zukünftigen Präsidenten Fernández am Folgetag der Präsidentschaftswahlen in den Regierungspalast „Casa Rosada“ ein, um mit ihm die sechswöchige Übergangsphase abzustimmen. Die Anerkennung des Wahlsiegs und die Bemühungen um eine geordnete Amtsübergabe sollen die wirtschaftlich angespannte Situation des Landes und die daraus resultierende Furcht vor einem erneuten Vertrauensverlust der Anleger, wie unmittelbar nach den Vorwahlen, vermeiden.
Nichtsdestotrotz verloren die Aktien zahlreicher argentinischen Unternehmen direkt nach den Wahlen an Wert. Um die Landeswährung zu stützen und die Reserven zu sichern, senkte die argentinische Zentralbank zudem die Erwerbsgrenze für Devisen von 10.000 US-Dollar auf 200 US-Dollar pro Monat und Einzelperson. Immobilien- und Exportgeschäfte sind von dieser Regelung ausgenommen. Vor den Wahlen hatten bereits zahlreiche Bankkunden ihre Ersparnisse in US-Dollar von ihren Konten abgehoben und Devisen zum Sparen erworben. Dies kostete die Zentralbank allein am Freitag vor den Wahlen 1,8 Milliarden US-Dollar an Reserven. Aufgrund dieser überdurchschnittlich hohen Nachfrage schoss der Wechselkurs in die Höhe. Angesichts der nun eingeführten Devisenbeschränkungen ist ein Anstieg der Nachfrage nach Fremdwährungen in den illegalen Wechselstuben absehbar. Diese Entwicklung könnte die Bemühungen der Regierung, die Inflation und den Wechselkurs des argentinischen Pesos zu kontrollieren, erheblich beeinträchtigen. Kritische Stimmen der Opposition beschwerten sich außerdem darüber, dass diese Maßnahme nicht mit der Folgeregierung abgestimmt worden sei.
Fazit: Peronismus = Populismus?
Das Ergebnis der Präsidentschaftswahl in Argentinien fiel wesentlich knapper aus, als von den meisten Wahlexperten angekündigt. Somit haben wieder einmal die Meinungsforschungsinstitute mit ihren Prognosen versagt: Die unmittelbar vor der Wahl veröffentlichten Umfragen gingen von einem deutlichen Sieg von Frente de Todos (zwischen 51 Prozent und 56 Prozent) aus, während Präsident Macri abgeschlagen zurücklag und diesem ein Wahlergebnis zwischen 27 und 34 Prozent prognostiziert wurde.
Der deutliche Anstieg der Stimmen für Juntos por el Cambio im Vergleich zur Vorwahl ist überraschend. Die Wahlkampagne der letzten dreißig Tage, an welchen Mauricio Macri das gesamte Land bereiste und mit den Menschen in direkten Kontakt trat, spielten bei seiner Aufholjagd eine bedeutende Rolle. Hierzu zählt ebenfalls der Auftritt Macris, welcher am 19. Oktober in Buenos Aires stattfand und von 350.000 bis 500.000 Menschen begleitet wurde, die ihm ihre Unterstützung signalisierten. Die Mobilisierung, der von der Wahlpflicht befreiten Rentner, welche zahlreich den Urnengang antraten und sich mehrheitlich auf Macris Seite stellten, steht ebenfalls in diesem Kontext. Die persönliche Begegnung mit den Wählern – vor allem in den von PRO lange Zeit vernachlässigten Provinzen - hat das Wahlergebnis maßgeblich beeinflusst. Die Nutzung von Sozialen Medien und besonders WhatsApp zur Vermittlung von kurzen und knappen Wahlparolen sowie die Segmentierung der Wahlbotschaft konnten im Vorfeld der obligatorischen PASO nicht die erhoffte Wirkung erzielen.
Eine weitere Ursache des unerwarteten Anstieges der Wahlstimmen für den amtierenden Präsidenten stellte die Ambivalenz der politischen Botschaften von Alberto Fernández dar. Während des Wahlkampfes sendete der neugewählte Präsident widersprüchliche politische Signale aus. Er betonte beispielsweise die Notwendigkeit der Begleichung des beim Internationalen Währungsfonds aufgenommenen Kredits, was jedoch nicht „auf Kosten der Argentinier“ geschehen solle. Oder: Man werde die florierende argentinische exportorientierte Landwirtschaft unterstützen und fördern, jedoch weitere Ausfuhrabgaben zur Stabilisierung der kriselnden Wirtschaft nicht ausschließen können. Unmittelbar vor den Präsidentschaftswahlen betonte Fernández, dass “er und Cristina [Fernández de Kirchner] ein und dasselbe seien“. Diese Aussagen haben viele Wähler der Mittelschicht, welche bei den PASO für Fernández gestimmt haben, dazu bewegt, ihr Votum wieder – wie im Jahr 2015 – Macri zu geben, obwohl sie durch die langandauernde Wirtschaftsrezession stark in Mittleidenschaft gezogen wurden.
Für die argentinische Demokratie ist die Erstarkung von PRO im Vergleich zu den Vorwahlen eine gute Nachricht. Der Peronismus unter Fernández wird nicht alleine regieren können. Viel mehr wird er darauf angewiesen sein, sich mit der kommenden Opposition in der Legislative abzustimmen. Dies wird voraussichtlich dazu führen, dass sich der Peronismus unter Fernández eher in der Mitte des politischen Spektrums positioniert. Ist daher eine Rückkehr zum Populismus ausgeschlossen? Leider nein. Alberto Fernández ist kein Outsider in der argentinischen Politik. Während seiner politischen Karriere hat er zwar stets eine Position der Mitte eingenommen, trotzdem ist Fernández von der ehemaligen Staatspräsidentin Cristina de Kirchner zum Präsidentschaftskandidaten „inthronisiert“ worden. Im Mai 2019 hatte Kirchner in einem Youtube-Video mitgeteilt, „sie habe Alberto Fernández gebeten, als Präsidentschaftskandidaten anzutreten und sie werde ihn als Vizepräsidentschaftskandidatin begleiten“. Dies wurde als deutliches Signal interpretiert, dass die ehemalige Präsidentin und amtierende Senatorin die politische Marschroute bestimmen werde. Alberto Fernández hat aber seitdem immer wieder versucht, sich als Peronist der Mitte zu präsentieren und sich diskret von der linkspopulistischen Regierung von CFK zu distanzieren; sein Beraterstab besteht fast ausschließlich aus Peronisten der politischen Mitte. Schlüsselpositionen, wie die des zukünftigen Gouverneurs der bevölkerungsreichen Provinz Buenos Aires, werden jedoch von Hardlinern des Kirchnerismus wie Axel Kicillof übernommen.
Erst wenn Alberto Fernández sein Kabinett vorstellt wird Klarheit über die politische Ausrichtung des neugewählten Präsidenten herrschen. Der Amtsantritt ist auf den 10. Dezember 2019 datiert. Bis dahin hat Alberto Fernández Zeit, sich politisch klar zu positionieren.