Reportajes internacionales
Für großes Aufsehen und heftige Reaktionen sorgte dabei Hillary Clinton, als sie die Situation in Mexiko mit der in Kolumbien vor zwanzig Jahren verglich. Zahlreiche mexikanische Politiker beeilten sich, diese Aussage zurückzuweisen und zu relativieren. Mexiko, so Clinton allerdings auch und unter Bekundung ihrer Unterstützung für die Maßnahmen der Regierung Calderón, habe die Kapazität, das organisierte Verbrechen wirkungsvoll zu bekämpfen. Dies gelte für verschiedene zentralamerikanische Staaten allerdings nicht unbedingt – einige von ihnen befinden sich jetzt sogar neu auf der „schwarzen Liste“ derer, die nach US-Ansicht in Sachen Drogenbekämpfung nicht wirklich kooperieren. Am folgenden Tag widersprach ihr dann auch ihr eigener Präsident: Barack Obama. Mexiko sei eine umfassende und fortschrittliche Demokratie mit einer wachsenden Wirtschaft und könne daher nicht mit Kolumbien vor zwanzig Jahren verglichen werden.
Immerhin der Vorsitzende der linken Arbeitspartei PT, Senator Alberto Anaya, hatte Clinton Recht gegeben und sprach von Mexiko als einem „failed state“. Der kolumbianische Sicherheitsexperte Alfredo Rangel bestätigte in Bogota ebenfalls die Einschätzungen der Außenministerin: „Dies ist ein Vergleich, den viele Sicherheitsexperten schon lange vorgenommen haben. Wir haben gesehen, wie in Mexiko viele Phänomene wiederbelebt wurden, die wir in Kolumbien vor zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren hatten.“ Die außer Kontrolle geratene organisierte Kriminalität, ihre Barbarei und ihre Operationsformen, die Ohnmacht des Staates sowie die Korruption bis in seine höchsten Sphären seien hier zu nennen, so Rangel in einem Interview mit der Zeitung Reforma (9. September).
Auch der mexikanische Rauschgiftexperte Edgardo Buscaglia (ITAM) sprang Clinton bei – lediglich die Ursachen der Gewalt in beiden Ländern seien unterschiedlich, nicht aber die Effekte. Gruppen wie La Familia in Michoacan seien als „mafiöse Aufstandsbewegung“ durchaus mit den Taliban in Afghanistan zu vergleichen – auch sie würden von ihrem sozialen Umfeld geschützt. Ihre Operationsformen und Bewaffnung glichen sich ebenfalls.
Reisewarnungen erneuert
Vor dem amerikanischen Senat räumten derweil auch Janet Napolitano und der Chef des FBI, Robert Mueller ein, dass die Gewalt in Mexiko erheblich zugenommen habe und eine Bedrohung für die Sicherheit der Vereinigten Staaten darstelle. Napolitano erwähnte dabei besonders die mexikanischen Bundesstaaten Chihuahua und Tamaulipas. Das Außenministerium erinnert zudem mit eindringlichen Reisewarnungen amerikanische Staatsbürger an die Gefährlichkeit von Aufenthalten in Teilen des Nachbarlandes. Amerikanische Diplomaten werden in manche mexikanische Städte nur noch ohne Familie entsandt. Nach Aussagen von Mexikos Finanzminister Ernesto Cordero kostet die Gewalt im Lande Mexiko rund 1,2 Prozent Wachstum seines Bruttoinlandsprodukts.
Auch Mauro Leos, Chefanalytiker der Rating-Agentur Moody´s sieht diese Einflüsse und vergleicht Mexiko mit Kolumbien vor einigen Jahren. Allerdings würden sich die Effekte erst auf mittlere Sicht einstellen, falls die Gewaltsituation anhalte. Viel gravierender für Mexiko sei das Fehlen struktureller Reformen, die Leos aufgrund politischer Blockaden bis zur Präsidentschaftswahl 2012 auch nicht mehr erwartet. Hinzu komme die Abschwächung des Wachstums in den USA, von denen Mexiko nach wie vor in höchstem Maße abhängig sei.
Dazu passt die Analyse von Rogelio Ramírez de la O, der darauf hin weist, dass die mexikanischen Banken derzeit kaum Kredite in den Privatsektor vergeben: „Ein Grund ist, dass die Banken keine attraktiven Projekte entdecken können“, so der Analytiker am 1. September in der Zeitung El Universal. Das Problem, dass Kunden ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkämen, sei „ernst“. Parallel steige die Langzeitarbeitslosigkeit, neugeschaffene Arbeitsplätze hätten nicht die gleiche Qualität wie die, die verlorengegangenen seien. All dies habe Auswirkungen auf die Kaufkraft der Konsumenten.
Bürgermeister als Gewaltopfer
Wie zur Bestätigung düsterer Prognosen wurde am 8. September – diesmal in San Luis Potosí – ein weiterer Bürgermeister ermordet. Diesmal fiel Alexánder López García, PRI-Gemeindevorstand der in der Huasteca liegenden und dem Bundesstaat Tamaulipas benachbarten Gemeinde El Naranjo Mördern zum Opfer, die in sein Amtszimmer eingedrungen waren. Sicherheitskräfte waren nicht zur Stelle – seit Monaten verfügt die Gemeinde nicht über eine Polizeieinheit. Am 23. September ermordete das organisierte Verbrechen dann den Bürgermeister von Doctor González im Bundesstaat Nuevo León, Prisciliano Rodríguez Salinas von der PRI, zusammen mit einem seiner Begleiter.
Innerhalb von etwas mehr als einem Monat ist Rodríguez Salinas nun der vierte Bürgermeister, der einem Gewaltverbrechen zum Opfer fällt – im laufenden Jahr sind es bereits zehn ermordete Gemeindevorstände. Dies bestätigt den Kommentar von Senator Ramon Galindo, der einen erheblichen Teil der Gemeinden Mexikos unter Narco-Einfluss sieht und äußerte, eigentlich nehme nur der narcotrafico die kommunale Ebene ernst.
Anderswo nehmen die Bürger mittlerweile die Sicherheit in ihre eigenen Hände – mit absehbaren und mehr als problematischen Konsequenzen: In der Gemeinde Ascensión im Bundesstaat Chihuahua erschlug eine aufgebrachte Menge jetzt zwei Mitglieder einer Bande, die für Raub und Entführung verantwortlich gemacht wird. Gleichzeitig löste der Bürgermeister dort die örtliche Polizei auf und ersetzte sie durch ein „nachbarschaftliches Schutznetz“. Bürger kündigten an, dass Straftäter künftig mit dem Tod rechnen müssten – Polizei und Justiz hätten bewiesen, dass von ihnen keine Hilfe zu erwarten sei. „Wenn die Kriminellen wissen, wie man tötet, werden wir das auch lernen“, ließ sich eine anonyme Stimme von der Zeitung El Universal zitieren. Noch scheinen das Einzelfälle zu sein.
Journalistenberuf immer gefährlicher
Anfang September veröffentlichte auch das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) seinen Jahresbericht 2010. Seit dem Amtsantritt von Präsident Calderón, so die Organisation, seien in Mexiko 22 Journalisten ermordet worden. Hinzu kämen Dutzende von Fällen, bei denen der Berufsstand Opfer von Attacken oder Entführungen geworden sei, andere hätten ins Exil gehen müssen oder übten Selbstzensur.
Breite Öffentlichkeit erhielt die Lage der Journalisten jetzt durch die Ermordung des Fotojournalisten Armando Rodríguez Carreón von der Zeitung El Diario in Ciudad Juarez und vor allem die Reaktion des Blattes. El Diario hatte in einem Leitartikel das organisierte Verbrechen aufgefordert zu sagen, „was man denn wolle“, damit man sich seitens der Redaktion darauf einstellen könne – eine Art „Waffenstillstand“ kam ins Gespräch.
Die Reaktionen seitens der Regierung zu einer solchen „Kapitulation“ fielen heftig aus, brachten der Zeitung aber auch viel Solidarität: hier werde, so zahlreiche Beobachter, lediglich offen angesprochen, was in vielen Landesteilen längst gängige Praxis sei, nämlich Selbstzensur und Stillschweigen als Gegenleistung für den Verzicht auf Repressalien. Mitglieder der Redaktion haben derweil, so wie früher schon andere Kollegen anderer Medien, in den USA um politisches Asyl nachgesucht.
Jetzt wird wieder einmal hektisch an Schutzmaßnahmen für Medien und ihre Mitarbeiter gebastelt, genutzt hat das alles bisher nichts. Die Straflosigkeit der Täter sei dabei besonders alarmierend, so CPJ. Die noch von Präsident Fox eingerichtete Sonderstaatsanwaltschaft für solche Verbrechen habe bisher keine Erfolge vorzuweisen. Präsident Calderón müsse sein Versprechen erfüllen, Übergriffe auf Journalisten und Medien zu einem Verbrechen zu machen, dass von Bundesseite direkt verfolgt werde.
Angesichts der Schutznetze, die das organisierte Verbrechen durch Korruption errichtet hat, eine schwierige Aufgabe. Die Kartelle „kontrollieren örtliche Polizeien, Bürgermeister, Richter und Gouverneure und deren Regierungen in den Bundesstaaten“, schreibt dpa-Korrespondent Franz Smets und fährt fort: Sie „kontrollieren alles, was in einer Region geschieht. Unbequeme Journalisten werden zum Schweigen gebracht.“ Dies führe dazu, dass über viele Verbrechen gar nicht mehr berichtet werde, selbst zahlreiche Redaktionen seien von den Kartellen unterwandert.
Apropos Straflosigkeit: Ausgerechnet im Bundesstaat Tamaulipas, jüngst gekennzeichnet durch den Mord an einem Gouverneurskandidaten und dem Massaker an einer großen Migrantengruppe, gelang gleich 89 Gefangenen die Flucht aus einem Gefängnis - offenbar mit Unterstützung der Wärter. Alle waren wegen Narco-Verbrechen in Haft. Damit erhöht sich die Zahl der Ausbrecher in Tamaulipas im laufenden Jahr auf 205. Die Gefängnisse des Bundesstaates, so Gouverneur Eugenio Hernández Flores, seien der Feuerkraft der Narco-Banden einfach nicht gewachsen – man brauche mehr Bundestruppen. Angesichts solcher Ereignisse relativieren sich dann auch Verhaftungen wichtiger Narco-Größen, wie jetzt gerade (12. September) in Puebla, wo die Nummer 2 des Kartell der Beltrán Leyva, Sergio Villareal Barragán, El Grande, den Sicherheitskräften ins Netz ging.
Mit Besorgnis registriert die Öffentlichkeit, dass auch fehlende berufliche Perspektiven speziell junge Menschen in die Arme des organisierten Verbrechens treiben. Auf sieben Millionen sogenannter ninis („ni trabajan, ni estudian“ – weder arbeiten, noch studieren sie) kommen Erhebungen, die für seine jugendliche Klientel auch von Erziehungsminister Alonso Lujambio eingeräumt werden. Der Ausweg Migration scheint dabei an seine Grenzen zu stoßen.
Gebremste Migration in die USA
Interessante Zahlen legte dazu das Pew Hispanic Center in Washington vor: Danach zeige sich ein deutlicher Rückgang der mexikanischen Migranten in die USA. Wären im Durchschnitt der vergangenen Dekaden jährlich rund 500.000 Mexikaner in die Staaten gekommen, wären es derzeit – verfolgt wurde insbesondere der Zeitraum zwischen März 2007 und März 2009, 70 Prozent weniger, also nur noch rund 150.000.
Die Zahl derer, die aktuell ohne gültige Aufenthaltserlaubnis in den USA lebten, beziffert das Forschungsinstitut auf 11,1 Millionen und legt Daten der aktuellsten Bevölkerungsstatistik zugrunde. 7.8 Millionen dieser „Illegalen“ seien Teil des Arbeitskräftemarktes, 5,1 Prozent von dessen Gesamtheit. Die Arbeitslosigkeit liege bei ihnen mit 10,4 Prozent leicht über dem Gesamtdurchschnitt. Nicht nachweisbar sei, dass mexikanische Migranten massiv in ihr Heimatland zurückkehrten. Der Gesamtreport ist übrigens im Internet abrufbar.
Ein Grund für die zurückgehende illegale Einwanderung dürfte – neben den schlechteren Wirtschaftsaussichten in den USA – auch darin liegen, dass die Wege gefährlicher und die Kosten für Schleuserdienste teurer geworden sind. Das Massaker an 72 Migranten im mexikanischen Bundesstaat Tamaulipas und die hohe Zahl von Entführungen und Lösegelderpressungen legt davon Zeugnis ab. Entsprechend attraktiver allerdings ist das Geschäft auch für Schleuserbanden geworden, die sich gegenseitig den Markt streitig machen und dabei vor Gewalttagen nicht zurückschrecken.
Heiße Haushaltsdebatte
Vor diesem Hintergrund wird in Mexiko zur Zeit der Haushalt für das Jahr 2011 diskutiert – sensibel nicht zuletzt deshalb, weil hier in einem Vorwahljahr auch die Mittel verteilt werden, mit denen politische Akteure in Bund und Ländern bei ihrer potentiellen Wählerschaft für Gutwetter sorgen können.
Vor allem die PRI – gemeinsam mit den verbündeten Grünen verfügt sie im Abgeordnetenhaus, bei dem das Haushaltsrecht liegt, über eine absolute Mehrheit - versucht dabei, die Einkünfte der Bundesregierung wo immer möglich zu beschneiden und ihre Gouverneure zu unterstützen. Die Idee, die Mehrwertsteuer deutlich zu senken, scheint ihr dabei ein probates Mittel – hält sie doch das Steuersenkungsversprechen auch wahltaktisch für zugkräftig.
Dabei hat Mexiko bereits die geringste Steuerquote innerhalb der OECD und weit unterhalb selbst derer anderer lateinamerikanischer Länder. Entsprechend warnen Finanzminister, Zentralbank und OECD unisono, dies könne für Mexikos Finanzen eine zu große Belastung darstellen und selbst die Kreditwürdigkeit des Landes reduzieren. Die Wirtschaftsperspektiven seien zudem nicht so, dass der Staat solche Einnahmeausfälle kompensieren könne. Aktuelle Studien legen den Finger einmal mehr in die Wunde.
Wettbewerb: Mexiko fällt zurück
In seiner Analyse 2010/2011 über die globale Wettbewerbsfähigkeit bescheinigt das Weltwirtschaftsforum Mexiko deutliche Rückschritte bei der institutionellen Stärke, bei Infrastruktur, Gesundheit und Ausbildung sowie beim Arbeitsrecht und der Effizienz der Märkte. Das Land verliert im weltweiten Ranking sechs Plätze und liegt nun auf Rang 66 von 139.
Gleichzeitig legte das Mexikanische Institut für Wettbewerbsfähigkeit IMCO seinen aktuellen Bericht zum innermexikanischen Vergleich vor und beklagt vor allem mangelnde Transparenz bei den öffentlichen Ausgaben auf kommunaler und bundesstaatlicher Ebene. Während dem Hauptstadtdistrikt die höchste Wettbewerbsfähigkeit bescheinigt wird, gefolgt von Nuevo Leon, liegen der Bundesstaat Mexiko, Guerrero, Tabasco, Oaxaca und Chiapas auf den letzten Plätzen. Während einige Bundesstaaten es in punkto Wettbewerb etwa mit Griechenland aufnehmen könnten schon das nicht gerade eine beeindruckende Benchmark -, so Juan E. Pardinas von IMCO, lägen andere auf dem Niveau von zentralamerikanischen Staaten wie Nicaragua. Mexiko werde nach dem augenblicklichen Stand der Dinge im Jahr 2017 aufhören, ein Eröl-Exportland zu sein und dann vor der Frage stehen, wie man dann die gewaltigen Einnahmeausfälle decken könne. Als Maßnahme schlug Pardinas schon jetzt vor, für die Bundesstaaten eine Schuldenbremse vorzusehen und sie zu verpflichten, höchsten 60 Prozent ihres Haushaltes für Personalkosten zu verwenden. Auch sollte es Gouverneuren im letzten Amtsjahr überhaupt untersagt sein, neue Schulden aufzunehmen.
In einer Analyse über Arbeitsmarkt und Produktivität in Mexiko machte der Hintergrunddienst Seminario Político schon in seiner Mai-Ausgabe 2010 folgende Rechnung aus: Im Rahmen des immer wieder reklamierten „demographischen Bonus“ in Mexiko drängten jedes Jahr eine Million junger Menschen auf den Arbeitsmarkt. Lege man zugrunde, dass ein Punkt Wachstum beim Bruttoinlandsprodukt etwa 180.000 Arbeitsplätze im formalen Sektor hervorbringe, müsse Mexiko um sechs bis sieben Prozent jährlich wachsen, um diesen jungen Menschen eine Perspektive zu bieten und ihre Arbeitskraft sinnvoll für das Land einzusetzen. Derzeit habe man hier jährlich ein Arbeitsplatzdefizit von 700.000 Plätzen, wi e Statistiken des IMSS bewiesen. Ein weiteres Problem: die mangelnde Produktivität lasse höhere Einkommen nicht zu, mit den entsprechenden Konsequenzen für die Armutsbekämpfung bzw. die Reduzierung der sozialen Ungleichheit.
Anderseits, so der Bericht, schwäche sich das Bevölkerungswachstum ab und betrage derzeit nur noch 1,7 Prozent, die Hälfte dessen, was vor dreißig Jahren die Normalität gewesen sei. So werde die Altersdurchschnitt der mexikanischen Bevölkerung bis 2030 von 25 auf 34 Jahre ansteigen – im Vergleich zu anderen Weltregionen natürlich immer noch eine vergleichsweise beruhigende Perspektive.