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Reportajes internacionales

Verfassungskrise in El Salvador

de Dr. iur. Christian Steiner

Verfassungssenat behauptet sich

Am 20. August 2012 legten das Parlament und der Verfassungssenat des Obersten Gerichtshofs von El Salvador (OGH) nach monatelangem Tauziehen einen Konflikt bei, der das Verfassungsleben des kleinen zentralamerikanischen Staates erheblich zerrüttet hatte.

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Der nunmehr beigelegte Konflikt nahm seinen Anfang mit der Wahl vier neuer Richter des Verfassungssenats im Jahr 2009. Damals wurden José Belarmino Jaime Flores, Florentín Meléndez, Edward Sidney Blanco Reyes und Rodolfo Ernesto González Bonilla neu in den Senat gewählt. Der Senat hat seitdem eine Reihe wegweisender Urteile gefällt, die das Machtgefüge im Land gegen den Widerstand der verkrusteten politischen Eliten neu zu justieren suchen. Die vier Richter haben sich in ihrer Rechtsprechung entschlossen gezeigt, dem Verfassungstext und den in El Salvador anwendbaren völkerrechtlichen Instrumente zum Schutz der Grund- und Menschenrechte praktische Wirksamkeit zu verleihen.

Beispiele aus der Rechtssprechung des Verfassungssenats

Im Jahr 2010 urteilte der Verfassungssenat, die reine Listenwahl der Parlamentsabgeordneten sowie das Verbot parteiloser Mandate sei mit der Verfassung des Landes und der Amerikanischen Menschenrechtskonvention nicht vereinbar. Das Urteil ist fundiert und gut argumentiert. Es legt den Verfassungstext unter Berücksichtung der Motive des Verfassungsgebers und der Rechtsprechung des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus.

Die Reaktionen auf dieses Urteil fielen sehr unterschiedlich aus, während die FMLN erklärte, das Urteil durch eine Neuregelung des Wahlgesetzes umsetzen zu wollen, kam aus den Reihen der ARENA-Partei und der PDC (Rodolfo Parker) massive Kritik bis hin zu dem Aufruf, das Urteil zu missachten, und der Warnung, das Parlament könne die Richter des Verfassungssenats ebenso gut absetzen, wie es diese ernannt habe. Neutrale Beobachter halten das Urteil nicht nur für juristisch korrekt, sondern auch für erforderlich, um die politischen Parteien aus ihrer Bequemlichkeit zu holen. Das bisherige Wahlrecht ohne personenbezogene Wahlelemente fordere vom Abgeordneten keine Verantwortlichkeit gegenüber dem Wähler ein.

In einer anderen Entscheidung stärkte der Senat die Aufsichtsrechte des Parlaments gegenüber der Exekutive. Die Regierung dürfe nicht ohne Zustimmung des Parlaments Haushaltsposten zwischen den Ministerien verschieben, außer das Parlament erteile hierfür innerhalb bestimmter Grenzen im Haushaltsgesetz die Befugnis.

In einer weiteren, außerordentlich differenzierten und von Fachkreisen applaudierten Entscheidung, erklärte der Verfassungssenat eine Vorschrift zur absoluten Straffreistellung der Medien bei Ehrverletzung und Verleumdung für verfassungswidrig. Die Privilegierung dieser Personen und Organisationen gegenüber dem gemeinen Bürger, der wegen der Verletzung der Ehre und Privatsphäre Dritter bestraft werden könne, sei diskriminierend und vernachlässige im Übrigen in unangemessener Weise das gleichfalls verfassungsrechtlich garantierte Persönlichkeitsrecht des Opfers. Das Urteil wurde von interessierten Gruppen fälschlicherweise so dargestellt, als verlange der Verfassungssenat die Strafbedrohung der freien und unabhängigen Presse und begehe damit einen Rückschritt gegenüber den internationalen Standards zur Pressefreiheit. Auch hier hat sich der Senat – ganz im Gegenteil – in seinem Urteil eingehend mit eben diesen Standards auseinandergesetzt und sucht eine Lösung im Sinne der praktischen Konkordanz zwischen den betroffenen Rechten (Persönlichkeit und Meinungsfreiheit).

2011 befand der Senat ein Ausnahmedekret für verfassungswidrig, mit dem die Parteien PDC und PCN nach den Präsidentschaftswahlen von 2004 trotz Verfehlens der 3%-Hürde vor dem politischen Aus bewahrt wurden. Damals hatte der OGH – in einer zweifelhaften Entscheidung –sogar noch eine Beschwerde zugunsten der Parteien beschieden, weil ihr Ausscheiden nicht mit dem Verfassungsgrundsatz des politischen Pluralismus zu vereinbaren sei.

Der Verfassungssenat sah sich massivem Druck ausgesetzt

Die engagierte und unabhängige Rechtsprechung des Verfassungssenats hat nicht nur Angriffe von außen, sondern auch Konflikte zwischen dem Senat (insb. den vier erwähnten Richtern) und den übrigen Richterkollegen des OGH ausgelöst. Diese wurden auf den Schauplätzen des Gerichtshaushalts, der Personalpolitik und der internen Hierarchien ausgetragen.

Seit 2010 versuchen verschiedene Gruppen, die ihre Interessen durch die Rechtsprechung des Verfassungssenats gefährdet sehen, diesen in seiner Funktionsfähigkeit zu behindern: So verabschiedete zunächst das Parlament im Juni 2011 ein Gesetzesdekret (Nr. 743), demzufolge der Senat nur noch einstimmig abstimmen konnte. Das Einstimmigkeitsgebot zielte darauf ab, dem einen im Senat vertretenen Richter, welcher der Rechtsprechungslinie der übrigen vier kritisch gegenüberstand, ein Vetorecht einzuräumen. Auf massiven internationalen Druck hin wurde das Dekret allerdings kurze Zeit später wieder zurückgezogen.

Die zuweilen grotesk anmutende Krise gipfelte in dem Streit um den Verbleib von insgesamt zehn Richtern im OGH, die das Parlament in den Jahren 2006 und 2012 in das oberste Justizorgan gewählt hatte. Im Juni 2012 hatte der Verfassungssenat nämlich in zwei Urteilen beide Richterwahlen für verfassungswidrig erklärt. Nach Ansicht des Senats durfte das Parlament in jeder (dreijährigen) Legislaturperiode die Nachfolge von lediglich fünf von insgesamt 15 Richtern des OGH bestimmen. Die Richter haben eine Amtszeit von neun Jahren. Am 24. April 2012 hatte das Parlament jedoch sechs Tage vor Ende der Legislaturperiode noch fünf weitere Richter gewählt, obwohl zu Beginn der Legislaturperiode schon fünf Richter ernannt worden waren. Selbiges hatte sich in der Legislaturperiode 2003-2006 ereignet. Auch damals hatte das Parlament innerhalb einer Legislaturperiode fünf Richter am Anfang und fünf weitere am Ende gewählt. Mit der Beschränkung auf die Ernennung von fünf Richtern pro Legislaturperiode versucht der Verfassungsgeber – basierend auf der Erwartung wechselnder Mehrheiten in der Legislative – ein politisches Gleichgewicht im OGH zu erreichen.

Der Verfassungssenat bemängelte auch den Versuch der Legislative, seine Zusammensetzung zu verändern. In den Richterwahlen vom April 2012 hatte das Parlament nämlich zwei Richter speziell für den Verfassungssenat ernannt, obwohl lediglich die Amtszeit eines diesem Senat angehörenden Richters zum 1. Juni 2012 auslief. Für den zweiten Richter sollte der Präsident des Verfassungssenats (und zugleich des OGH), Belarmino Jaime, in einen anderen Senat des OGH versetzt werden. Hierin sah das Gericht zu Recht einen Verstoß gegen die Unabhängigkeit des Richters.

Gegen diese Urteile legte das Parlament Klage beim Zentralamerikanischen Ge-richtshof (ZAG), der die fraglichen Urteile des Verfassungssenats zunächst vorläufig für unanwendbar erklärte und mit der Hauptsacheentscheidung vom 15. August die streitgegenständlichen Richterwahlen für gültig erklärte. Im Verfahren vor dem ZAG trat der (verfassungswidrig gewählte) „neue“ Präsident des OGH, Bonilla Flores, in vermeintlicher Vertretung für den OGH auf. Darauf reagierte der Verfassungssenat zwei Tage später seinerseits mit einem Beschluss, in dem er die ZAG-Entscheidung für unanwendbar erklärte und – entsprechend dem Urteil vom Juni 2012 – auf der Durchführung von Neuwahlen für die Ernennung der Richter bestand. Der Beschluss enthält interessante Ausführungen zum Verhältnis zwischen der nationalen Verfassungsgerichtsbarkeit und dem Gerichtshof der Zentralamerikanischen Integrationsgemeinschaft (SICA), dessen Legitimität und Professionalität in Fachkreisen angefochten wird.

Parallel zu dem Rechtsstreit versuchten die im Jahr 2012 fünf neu gewählten Richter Fakten zu schaffen. Am 1. Juli 2012 verschafften sie sich gewaltsam Zutritt zu den Büros im OGH. Dabei kam es sowohl zu Sympathiebekundungen sozialer Organisationen als auch zu Gegendemonstrationen. Zeitweise tagten und entschieden in El Salvador parallel zwei Oberste Gerichtshöfe.

Am Ende steht eine Verhandlungslösung

Nach 17 Verhandlungsrunden einigten sich schließlich am 20. August alle im Parlament vertretenen Parteien auf einen Ausweg aus der Krise im Einklang mit den Urteilen des Verfassungssenats. Das im April neu gewählte Parlament bestätigte die zehn in den Jahren 2006 und 2012 zunächst verfassungswidrig gewählten Richter im Amt und heilte so den Fehler mangelnder Zuständigkeit der jeweiligen Legislativen. José Salomón Padilla wurde für den Zeitraum von 2012 bis 2021 zum Präsidenten des OGH ernannt. Ovidio Bonilla, der im April noch für dieses Amt bestimmt worden war, konnte sich nicht behaupten. Belarmino Jaime und die übrigen Richter des Verfassungssenats verbleiben in diesem. Nur der turnusmäßig ausscheidende Kollege wurde ersetzt. In der Presse wurde die Einigung als historischer Erfolg gefeiert.

Um ähnliche Konflikte für die Zukunft zu vermeiden, beschloss das Parlament am 10. August 2012 eine klarstellende Verfassungsänderung, die in der Legislaturperiode 2015 bis 2018 ratifiziert werden soll. Danach können – ganz im Sinne der Interpretation des Verfassungssenats – innerhalb einer Legislaturperiode lediglich einmal Richter in den OGH gewählt werden.

Der Verfassungssenat geht aus der Krise zweifelsohne gestärkt hervor. Er konnte sich nicht nur gegen Angriffe aus dem Parlament, sondern auch gegen eine politische Instrumentalisierung des Zentralamerikanischen Gerichtshofs behaupten.

Dr. iur. Christian Steiner, Programmleiter

Jella Forster-Seher, Referendarin in der Wahlstation

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