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Der brasilianische Rechtstaats steht vor historische Herausforderungen. Der Verfall des Ölpreises hat den wirtschaftlichen Aufschwung gestoppt. Das Land befindet sich tief im Sumpf der Korruption. Mehr als je zuvor sind Politik und Justiz gefordert, das beim Bürger verloren gegangene Vertrauen in die Staatlichkeit wieder herzustellen.
Eine der in einer Demokratie natürlichsten Formen der Meinungsäußerung, auch der Äußerung von Unmut und Unzufriedenheit, ist dabei diejenige der kollektiven Kundgebung dieser Meinungen in Form von Demonstrationen und Aufzügen. Dieses Recht ist in so gut wie jeder modernen Verfassung durch das Recht auf Versammlungsfreiheit geschützt. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um ein Abwehrrecht gegen den Staat, das dem Bürger die freie Meinungsäußerung im Kollektiv ermöglicht, und dies – solange gewisse äußere Grenzen eingehalten werden – frei von jeglicher inhaltlicher Wertung der geäußerten Meinung. Gerade in politisch unruhigen Zeiten erscheint es daher unverzichtbar festzulegen, was genau in den Schutzbereich dieses Grundrechts auf Freiheit von Versammlungen fällt und inwieweit Eingriffe des Staates – etwa durch Polizei oder Staatsanwaltschaft – zulässig und verhältnismäßig sind.
Gerade jetzt gilt es, das Funktionieren des brasilianischen Justizapparates zu stärken und den Richtern, Staatsanwälte, Anwälte und Polizisten die in den letzten Wochen und Monaten regelmäßig mit Fällen eskalierender Demonstrationen konfrontiert worden sind, passendes Handwerkzeug zur Verfügung zu stellen, um gegebenenfalls auch in Eilsituation vorbereitet sein. Auf der anderen Seite muss der Bürger wissen, dass die Verfassung ihm Abwehrrechte gegen den Staat einräumt, die alle drei Gewalten in ihrem Eingriffsrecht beschränken und – noch viel wichtiger – dass er diese Rechte auch effektiv durchsetzen kann.
Am Abend des 5. Oktober fand deshalb zunächst eine öffentliche Veranstaltung in der Anwaltskammer in São Paulo statt, bei der Herr Prof. Martins die verfassungsrechtliche Ausgestaltung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit in Brasilien vorstellte, das Fehlen einfachgesetzlicher Konkretisierung dieses Rechts in Brasilien monierte und die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Schaffung eines brasilianischen Bundesgesetzes zur Regelung von Demonstrationen darlegte. Prof. Ralf Poscher, Völkerrechtslehrer an der Universität Freiburg, berichtete kurz über die deutsche Rechtslage zu diesem Thema und stellte danach ausführlich den deutschen Musterentwurf der Bundesländer für ein einheitliches Versammlungsgesetz auf Länderebene vor. Er betonte, dass es neben dem Erlass von Gesetzen insbesondere einer demokratischen Rechtskultur bedürfte. Demonstrationen müssten als wesentliches Element bürgerlicher Selbstorganisation und nicht als Störung empfunden werden. Ergänzt werden müsse jegliche Versammlungsgesetzgebung durch „deeskalative“ Strategien und entsprechende Schulungen von Polizisten. Prof. Flavia Pióvesan, Spezialsekretärin für Menschenrechte im brasilianischen Justizministerium hob hervor, dass eine rechtsvergleichende Perspektive für die brasilianische Rechtsrealität nur bereichernd sein könne. Herr Prof. Marco Zilli, Strafrechtsprofessor und langjähriges Mitglied der Studiengruppe zum Internationale n Strafrechts des Rechtsstaatsprogamms, erläuterte zuletzt den Einsatz des Strafrechts als „ulitma ratio“ zur Regulierung gewaltsamer Versammlungen.
Am Morgen des 6. Oktober wurde die Diskussion im kleinen Kreis im Rahmen eines Arbeitsfrühstück fortgesetzt, bei dem Rechtsprofessoren, Staatsanwälte, Mitglieder der Militärpolizei und Repräsentanten der Zivilgesellschaft sehr offen diskutierten, wie es in Brasilien um die Versammlungsfreiheit steht ,wo es Ansätze zur Verbesserung gibt und in wie fern der Erlass eines Versammlungen regelnden Bundesgesetzes sinnhaft ist.