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Kontinuität und Wandel – die Zukunft der deutschen Außenpolitik

מאת Dr. Wolfgang Schäuble
Rede von Dr. Wolfgang Schäuble, MdB, am 10. März 2003 bei der KAS

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Von Paul Kennedy, dem Autor von „Aufstieg und Fall der großen Mächte“, war dieser Tage ein Aufsatz über den erstaunlichen Niedergang Japans zu lesen. Wenig wirtschaftliche Dynamik, kollabierender Aktienmarkt, steigende Arbeitslosigkeit, eine mehr als bedenkliche demographische Entwicklung und geringes Gewicht in der internationalen Politik. Das könnte auch über Deutschland geschrieben sein, und tatsächlich wird in der internationalen Öffentlichkeit zunehmend die Frage gestellt, ob Deutschland an der „japanischen Krankheit“ leide. Beide Länder, im Zweiten Weltkrieg verbündet und vernichtend geschlagen, hatten in den Jahrzehnten danach auferlegte und zunehmend als wohltuend empfundene außenpolitische Zurückhaltung zu einem fast beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung genutzt und schienen übrigens vor wenigen Jahren, dank ihres wirtschaftlichen Gewichts, für den Fall einer gelingenden UNO-Reform chancenreiche Aspiranten auf ständige Sitze im Weltsicherheitsrat. Abgesehen davon, dass ich immer einen europäischen Sitz im Sicherheitsrat bevorzugt und deshalb jedenfalls von diesen deutschen Ambitionen nicht viel gehalten habe, scheint das jetzt auch in weiter Ferne.

Ich will die Parallele zu Japan nicht zu weit treiben. Anders als dieses war Deutschland in der Nachkriegszeit geteilt und lange im Brennpunkt der weltpolitischen Auseinandersetzung im Kalten Krieg. Europäische Einigung und atlantische Partnerschaft waren deshalb Grundaxiom und Grundkonsens deutscher Außenpolitik, und diese Politik – der doppelten Westintegration war so erfolgreich, dass Deutschland seine Einheit wieder fand und die Anziehungskraft des europäisch-atlantischen Erfolgsmodells den eisernen Vorhang beseitigte.

Der Versuchung, nach der Wende von 1989/1990 nun wieder eine eher national bestimmte, weniger auf Integration zielende Politik zu betreiben, uns als „Zentralmacht in Europa“ zu verstehen, haben wir zunächst widerstanden und die Wiedervereinigung im Gegenteil als Impuls für die Verstärkung der europäischen Einigungsdynamik, für Erweiterung und Vertiefung genutzt. Das Wissen, dass die Integration in Europäische Union und NATO für unsere Partner die Wiedervereinigung erträglicher machte und dass Vertrauen in unsere Verlässlichkeit und Berechenbarkeit als Partner unentbehrliches Kapital deutscher Politik ist, war bei jeweiliger Regierung und Opposition stark genug verankert. Und auf das Angebot des amerikanischen Präsidenten Bush 1991 für partnership in leadership haben wir im Wesentlichen so geantwortet, dass wir uns um ein einiges Europa als starken Partner der USA bemühen wollen.

Und nun, gut 10 Jahre danach, stellen wir fest, dass sich doch ziemlich schnell ziemlich viel verändert hat. Schon beim beginnenden Zerfall des ehemaligen Jugoslawien 1991 spielte Deutschland eine treibende, nicht von allen als unproblematisch, empfundene Rolle. Wie schnell alte, längst überholt geglaubte politische Strukturen und Konfliktlinien wieder aufleben können, konnte man damals schon ahnen. Manches an unterschiedlicher Positionierung zum Balkan zwischen London, Paris und damals noch Bonn erinnerte zwischendurch fast an die Konstellation zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aber Weiterungen daraus konnte Europa Anfang der 90er Jahre glücklicherweise vermeiden.

Dann mussten wir uns damit auseinandersetzen, dass Andere mit gleichen Rechten auch gleiche Pflichten verbinden. Also, nach Wiedererlangung staatlicher Einheit und uneingeschränkter Souveränität sollten auch wir einen unseren Verhältnissen entsprechenden Anteil an Verantwortung für Krisenprävention und Konfliktlösung, notfalls auch mit militärischen Mitteln, übernehmen. Leicht ist das nicht gefallen, und denjenigen, die uns ein zu großes Maß an Zurückhaltung im Umgang mit militärischer Macht kritisch vorhielten, konnte man ja auch antworten, dass Europa und die Welt mit einem Deutschland, das mit militärischer Macht weniger zimperlich umgegangen war, auch nicht die besten Erfahrungen gemacht haben. Aber weil Partnerschaft keine Einbahnstrasse ist, blieb uns keine Nische und keine andere Wahl, und es ging schneller als die Meisten dachten. Volker Rühe, seit 1993 Verteidigungsminister, sagte: 10 Jahre brauche die Bundeswehr mindestens, um sich auf solche Einsätze vorzubereiten. Ich habe geantwortet, nicht sicher zu sein, ob uns die Geschichte so viel Zeit lassen würde. Sie hat es nicht getan.

Und dann kam Kosovo, wobei sich wieder einmal erwies, wie listig die Geschichte sein kann. Ohne den Regierungswechsel 1998 hätten wir den Kosovo-Einsatz gewiss nicht ohne dramatische innere Auseinandersetzungen zustande gebracht – wenn überhaupt. Auch heute würde eine oppositionelle Linke unter der Führung von Schröder und Fischer alles in Bewegung setzen, hätten wir den Amerikanern die vom Kanzler bereits gegebenen Zusagen gemacht. Übrigens hat Schröder 1999 die außenpolitische Herausforderung genutzt, um nach dem Desaster des rot-grünen Anfangs bis zum Rückzug von Lafontaine politische Statur neu zu gewinnen, und manchmal in diesen Tagen frage ich mich, ob darin jetzt ein Motiv für sein außenpolitisch weder zu erklärendes noch zu verantwortendes Verhalten liegen könnte.

Der 11.09.2001 hat die Welt so sehr verändert wie der 09.11.1989, und das Außergewöhnliche war übrigens auch, dass man das bei beiden Ereignissen unmittelbar ahnte, was ja sonst in der Geschichte bei weltpolitischen Weichenstellungen eher die Ausnahme ist. Von der „uneingeschränkten Solidarität“ ging es in der regierungsamtlich verlautbarten Politik dann schnell zur neuen „Normalität Deutschlands“, und daraus wurde der „deutsche Weg“, und jetzt haben wir eine Achse Paris-Berlin-Moskau. Atemberaubend – und man frägt sich, welche Deutungsversion die Schlimmere ist: die, die kalkulierte Absicht unterstellt, oder die, die auf geschichtliche ahnungs- bzw. außenpolitische Rücksichtslosigkeit gegenüber innenpolitischem Kalkül abhebt.

In der Irak-Debatte beschäftigen wir uns, so scheint es, mehr mit der Frage, welches nach unserer Auffassung die richtige amerikanische Politik sein sollte. Dagegen klammern wir die Frage eher aus, welches denn die richtige deutsche Politik ist. Das wird in dem Paradoxon deutlich, das vor unilateralen Entscheidungen der Amerikaner gewarnt und zugleich erklärt wurde, was immer die Vereinten Nationen ggf. entscheiden werden, Deutschland werde sich auf keinen Fall beteiligen. Um das Widersprüchliche noch weiter auf die Spitze zu treiben, hat der Bundeskanzler ja dann noch am 13. Februar im Bundestag erklärt, dass längst entschieden und zugesagt sei, was an konkreter militärischer Unterstützung überhaupt von uns erbeten wurde – Schutz amerikanischer Basen, Überflugrechte, AWACS-Teilnahme und Patriot-Raketen-Abwehrsysteme, ABC-Spürpanzer, Sanitäts- und maritime Komponenten. Es geht also gar nicht so sehr um Streit über eine konkrete Beteiligung, als vielmehr um politische Unterstützung und Geschlossenheit, und genau die wird verweigert.

Wer Unilateralismus vermeiden will, muss multilaterale Strukturen stärken. Durch Solidaritätsverweigerung erreicht deutsche Außenpolitik allenfalls das Gegenteil. Unbehagen an Gewalt und Empörung über Ungerechtigkeit und Leid sind für sich allein noch kein außenpolitisches Konzept. Wer eine friedliche Entwaffnung des Irak will, muss Druck auf Saddam Hussein ausüben. Auch das ist unstreitig, steht sogar in der deutsch-französischen Erklärung. Nur auf Druck, in allerletzter Minute, wenn er gar keinen anderen Ausweg mehr sieht, lenkt ein Diktator wie Saddam Hussein ein. Den aber stärkt man nicht durch den Eindruck von Uneinigkeit der Europäer, Zerstrittenheit der atlantischen Partner und tiefgreifender Meinungsverschiedenheiten im Weltsicherheitsrat.

Es ist wahr, dass die transatlantische Debatte durch ganz unterschiedliche Erfahrungen belastet ist. Für die Europäer und für uns Deutsche zumal ist die Erfahrung von Krieg so existenziell, dass wir schon vor der Begrifflichkeit zurückschrecken. Für die Amerikaner ist Krieg nicht unmittelbare Erfahrung der Zivilbevölkerung, und die Risiken für die Soldaten hat man durch hohen materiellen Aufwand immer viel kleiner gehalten, wobei jetzt die technologische Revolution im Rüstungsbereich diese Risiken für die eigenen Soldaten im Denken und Planen noch einmal ganz anders begrenzen lässt. Aber die Erfahrung, dass die Unverwundbarkeit der Amerikaner in der neuen Welt von Globalisierung, failing states, internationalem Terrorismus und asymmetrischer Kriegführung nicht mehr gilt, das ist der Schock des 11. September, und darauf reagieren sie mit dem amerikanischen Urinstinkt, dass letztlich jedes Problem mit Einsatzwillen und dem entsprechenden materiellen und technischen Aufwand lösbar sein müsse. Toqueville beschrieb schon vor fast 175 Jahren amerikanische Mentalität: „Der Bewohner der Vereinigten Staaten lernt von Geburt an, dass man sich im Kampf gegen die Übel und Hemmnisse des Lebens auf sich selber verlassen muß Es gibt nichts, das der menschliche Wille nicht durch freies Handeln der vereinigten Macht einzelner zu erreichen hoffte.“ „Get a man to the moon in ten years, war Kennedys Antwort auf den Sputnikschock.

Europäer sind da skeptischer, und wenn man amerikanische Pläne für eine Nachkriegsordnung nicht nur im Irak, sondern für die Stabilisierung des ganzen Nahen und Mittleren Ostens zur Kenntnis nimmt, bleiben Zweifel, ob das so mechanistisch Schritt für Schritt funktionieren kann. Der Hinweis auf die Demokratisierung Deutschlands und Japans nach dem Zweiten Weltkrieg vermag angesichts so unterschiedlicher Vorgeschichte und Voraussetzungen auch nicht so recht zu überzeugen. Aber dass von Saddam Hussein die Stabilität zumindest der Region potentiell bedroht bleibt, dass die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen im Zeitalter des internationalen Terrorismus – unabhängig wie konkret die Beziehungen zwischen Saddam Hussein und Al Quaida tatsächlich sind – eine Bedrohung für die ganze Menschheit im Allgemeinen und für die westliche Welt im Besonderen bedeutet und dass Saddam Hussein wieder und wieder gegenüber ihm vom Weltsicherheitsrat auferlegte völkerrechtliche Verpflichtungen verstoßen hat, dass also die Frage, ob er das weiter fortsetzen kann, tatsächlich auch als eine Frage der Relevanz der Vereinten Nationen angesehen werden kann - das alles ist auch schwer zu bestreiten.

Es erscheint leider zunehmend wahrscheinlich, dass tatsächlich nur noch die Wahl zwischen zwei Übeln bleibt, nämlich zwischen Krieg mit allen doch nicht so ganz absehbaren, geschweige denn zu unterschätzenden Risiken und Folgewirkungen, oder eine kalkulierte Demütigung der USA in ihrer Dominanz, die jenseits aller Folgen für amerikanische und atlantische Entwicklungen wiederum ein kaum zu überschätzendes Risiko für Stabilität angesichts künftiger Bedrohungen darstellt, weil eine konkurrenzlose Führungsmacht, die sich als schwach erweist, ihre Glaubwürdigkeit verliert und damit ihre Funktion, Ordnung zu stiften und Chaos zu verhindern.

Im übrigen, auch das muss man ebenso behutsam wie deutlich aussprechen: wenn ein Krieg tatsächlich unvermeidbar werden sollte, dann scheint mir klar, dass er besser mit der Legitimation durch ein geschossenes Votum des Weltsicherheitsrates geführt wird als im Streit um seine völkerrechtliche Legitimation; und wenn die USA, wie auch ihre Kritiker behaupten, entschlossen sind, in jedem Fall zu handeln, dann muss man sich fragen, ob man sie davon abbringen kann, und wenn man diese Frage verneinen muss, bleibt wieder die Überlegung, ob sie nicht besser durch Partnerschaft in multilateralen Strukturen gehalten werden. Es könnte sein, dass die Achse Paris-Berlin-Moskau im Ergebnis die USA gerade zu dem kritisierten Alleingang treibt.

Jetzt rasen im Weltsicherheitsrat zwei Züge aufeinander zu, scheinbar unausweichlich und unaufhaltsam. Ich mag nicht aufhören, nach einem Ausweg zu suchen. Präzise, zeitlich eng befristete Auflagen an den Irak, mit ultimativer Drohung bei Nichterfüllung verbunden, ein dauerhaft und robust abgesichertes Abrüstungs- und Kontrollregime und eine partnerschaftliche Vereinbarung zwischen Europäern, den USA und möglichst weiteren Mächten, wie die zur Druckausübung auf Saddam Hussein und für die Stabilität der Region notwendige militärische Präsenz längerfristig aufrechterhalten und getragen werden kann, das könnte noch immer eine bessere Lösung sein. Die Chancen allerdings werden von Stunde zu Stunde schlechter.

Zu diesem Dilemma hat deutsche Politik maßgebliche Beiträge geleistet, und sie hätte alles tun müssen, um genau diese Zwickmühle zu vermeiden.

Ich behaupte nicht, dass die amerikanische Administration alles nur richtig macht und dass die entgegengesetzten Bedenken nur unbegründet wären. Das ist nicht meine Frage. Sondern meine Frage ist, dass deutsche Politik im Rahmen unserer Möglichkeiten, Interessen und Verantwortung nahezu alles falsch gemacht hat, wenn Ziel sein sollte, den Irak zu einer friedlichen Entwaffnung und die USA zu einem partnerschaftlich abgestimmten Vorgehen zu beeinflussen. Dass man mit Uneinigkeit weder in Bezug auf den Irak noch gegenüber Washington das erreicht, was man als Ziel vorgegeben hat, liegt auf der Hand. Jetzt sind die eingetretenen Schäden schon gewaltig, und dabei ist noch gar nichts wirklich passiert, es steht also alles Schlimme noch eigentlich bevor. Die atlantische Partnerschaft ist dramatisch beschädigt, und der europäische Einigungsprozess steckt in der größten Krise seit Jahrzehnten.

Die entgegen diplomatischer Logik bewusst gegen die Amerikaner betriebene Entwicklung alternativer Positionen verringert die amerikanische Flexibilität und führt zu einer Verhärtung, nicht zu einer Annäherung der Positionen, was wiederum fatale Auswirkungen für die Autorität des Sicherheitsrats hat.

Was bleibt zu tun? Wie immer die Irak-Krise zu Ende gehen wird, deutsche Außenpolitik muss wieder klarer und verlässlicher werden. Ich will sieben Punkte nennen:

  1. Der europäische Einigungsprozess muss fortgesetzt werden im Sinne von Erweiterung und Vertiefung. Nur ein großes und starkes, politisch einiges und handlungsfähiges Europa entspricht in der immer größeren Interdependenz der globalisierten Welt im 21. Jahrhundert unseren Interessen und unserer Verantwortung. Aber dieses Europa ist keine Alternative zu atlantischer Partnerschaft, sondern ein wesentlicher Teil. Gegen die USA ist Europa nicht zu einen. Nach dem Ersten Weltkrieg gelang europäische Einigung auch wegen des schnellen Rückzugs der Amerikaner aus Europa nicht, und nach dem Zweiten Weltkrieg wurden europäische Einigung und atlantische Partnerschaft zwei Seiten – untrennbar - derselben Medaille. Die letzten Wochen haben übrigens gezeigt, dass Europa spaltet, wer es gegen die USA einen will. Im Übrigen heißt europäische Einigung, dass in ganz Europa Stabilität gesichert wird, und deshalb ist di e Osterweiterung noch vor dem Balkan das erste Projekt, in dem sich europäische Handlungs- und Zukunftsfähigkeit bewähren muss, in unserem ureigenen Interesse. Für Deutschland in unserer Zentrallage ist der Beitritt der östlichen Nachbarn nicht Gunsterweis, sondern Zukunftssicherung. So wenig wie die Befriedung des Balkan in den 90er Jahren schaffen die Europäer heute ohne oder gegen die USA die dauerhafte Stabilisierung Ostmittel–und Südosteuropas. Das gilt auch für die unumkehrbare Anbindung Russlands an die europäischen und transatlantischen Strukturen, die zentrales Ziel europäischer Politik sein muss.

    Die deutsch-französische Zusammenarbeit bleibt für die europäische Einigung essentiell. Deutsch-französiche Zusammenarbeit ist nicht Alles, aber ohne sie bewegt sich in Europa wenig in die richtige Richtung. Aber auch das erfordert Sensibilität. Frankreich hat sich immer eine größere Neigung zur Unabhängigkeit bewahrt, gegenüber den USA und der atlantischen Allianz, zu Zeiten auch gegenüber Großbritannien oder kleineren Mitgliedsstaaten in der Europäischen Union. Das hat viele Gründe in der Geschichte und in geschichtlichen Erfahrungen. Deutsches Interesse und deutsche Aufgabe war immer, das zu balancieren, nicht selbst vor eine Alternative gestellt zu werden, zwischen Paris und Washington oder Paris und London, enge Freundschaft mit Frankreich zu wahren und zugleich Anwalt auch der kleineren EU-Mitgliedsstaaten zu sein. Auf diese Weise wurde die privilegierte Partnerschaft mit Frankreich für Europa nützlich gehalten.

    Auch Kerneuropa, für das Karl Lamers und ich ja eine Art copyright haben, war in unserem Verständnis immer ein Motor für die Einigung Europas und eben nicht ein Element der Spaltung. Jetzt hat Schröder diese Balance verloren. Aus selbstverschuldeter Isolierung und Marginalisierung deutscher Handlungsmöglichkeiten ist er auf die Anlehnung an Frankreich so sehr angewiesen, dass die französische Politik in die Versuchung geführt wird, sich zu überheben. Tatsächlich nehmen die Mutmaßungen zu, das die aktuelle französische Politik mittelfristig gar nicht so sehr den Amerikanern, sondern vielmehr den Deutschen ihre Grenzen zeigen wolle. Konfliktlösung Elfenbeinküste, Frankreich-Afrika-Gipfel und Staatsbesuch in Algerien, sind nur wenige Schlaglichter der letzten Tage, die verdeutlichen, wie unterschiedlich Frankreich seine weltpolitische Verantwortung sieht – und in welchem Rahmen die neue Männerfreundschaft Chirac-Schröder auf der anderen Seite des Rheins betrachtet wird.

  2. Ein handlungsfähiges Europa, das seinen Interessen und seiner Verantwortung im 21. Jahrhundert gerecht werden will, braucht größere Fähigkeiten, politisch, wirtschaftlich und vor allem militärisch. Wer für eine multilaterale Struktur eintritt, muss angemessene Beiträge leisten können. Ein starker europäischer Partner liegt auch im Interesse der USA und der atlantischen Partnerschaft. Wenn diese sich heute durch die immer größeren Unterschiede in politischen und militärischen Fähigkeiten marginalisiert, dann nützt Kritik am amerikanischen Partner wenig. Alles hängt an größeren europäischen Fähigkeiten. Ob integriert in NATO oder EU, ob intergouvernemental oder in „coalitions of the willing“, in jedem Fall muss Deutschland dazu größere Beiträge leisten. Das setzt eine Reform der Bundeswehr voraus, wie sie die CDU/CSU-Bundestagsfraktion beschrieben hat, und eine nachhaltige Erhöhung unseres Verteidigungshaushalts. Vor allem müssen wir die Lücken in den technologischen Fähigkeiten allmählich wieder verkleinern, was sich in Forschung und Beschaffung auswirken muss. Kein europäisches Land wird das flächendeckend für sich alleine leisten können; deshalb sind Zusammenarbeit und Arbeitsteilung im europäischen Raum unerlässlich. Dies aber setzt Vertrauen und Verlässlichkeit voraus, und vor diesem Hintergrund ist der peinliche Streit im Nato-Rat um die Vorbereitung eventueller Hilfsmaßnahmen für die Türkei doppelt Gift. Die Bundeswehr muss in ihrer Fähigkeit ebenso wie GASP und ESVP und NATO von einem Verständnis und einer Bereitschaft zur Übernahme weltweiter Verantwortung ausgehen. Sicherheit und Bedrohung sind nicht mehr teilbar.

  3. Eine realistische Bedrohungsanalyse und unvoreingenommene Suche nach Antworten darauf sind Voraussetzung für die Wahrnehmung außenpolitischer Verantwortung. Nicht notwendigerweise schon die Antworten, aber in jedem Fall die Fragen, die der neuen amerikanischen Sicherheitsstrategie zugrunde liegen, müssen auch von uns Europäern aufgenommen werden. Das ist Voraussetzung für atlantische Partnerschaft wie für die Stärkung multilateraler Strukturen. Sicherheit kann heute nicht mehr wie im Kalten Krieg durch auf gegenseitige Vernichtungsfähigkeit gegründete Abschreckung gewährleistet werden. Staatliche Souveränität, territoriale Integrität und völkerrechtliches Interventionsverbot werden angesichts einer Entwicklung problematisch, in der aus Staaten mit nicht vorhandener oder zerfallender Ordnung Bedrohungen für alle anderen Teile der Welt ausgehen können. Das ist das Problem von Afghanistan und Al Quaida oder auch von Somalia. Weil Recht auf Selbstverteidigung einschließlich Nothilfe und Interventionsverbot zur Friedenssicherung nicht mehr ausreichen, muss das Völkerrecht behutsam weiterentwickelt werden. Wenn dabei der Souveränitätsbegriff an Ordnungskraft verliert, wird die Legitimation durch völkerrechtlich geregelte Entscheidungsverfahren noch wichtiger. Gerade deshalb muss die Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen ebenso gestärkt wie der Prozess der Verrechtlichung internationaler Beziehungen vorangetrieben werden. Und gerade deshalb sollten wir alles tun, damit die UNO nicht durch Uneinigkeit und Achsenbildung geschwächt wird, und auch das geht nur mit und nicht gegen die USA.

  4. So sehr internationale Ordnung für Stabilität und Friedenssicherung auf die Fähigkeit der Durchsetzung nicht verzichten kann, so wenig reichen militärische Mittel aus. Deswegen sind Konzepte und Bemühungen zur politischen Konfliktlösung und Prävention, nachhaltige Entwicklung und ein weltweiter Dialog, der Raum für unterschiedliche kulturelle und religiöse Identität wahrt und zugleich auf der Verbindlichkeit von Toleranz und grundlegenden Menschenrechten besteht, genauso wichtig. Dies muss für ärmere Regionen genauso gelten, wie für weltpolitische Schwergewichte wie China und Russland. In den Bemühungen um weltweite Stabilität und Entwicklung muss sich europäische Einheit und atlantische Partnerschaft, also partnership in leadership bewähren. Amerikanische Handlungsfähigkeit und europäische Expertise und Erfahrung können sich dabei ergänzen.

    Nachdem in der Irakkrise alles so dramatisch schief gegangen ist, sollten wir jetzt alles daran setzen, atlantische Partnerschaft und weltweite Zusammenarbeit gegenüber Nordkorea, beim weiteren Kampf gegen den internationalen Terrorismus, aber auch bei der Stabilisierung des Nahen und Mittleren Ostens und beim Kaschmir-Konflikt fruchtbarer zu gestalten.

  5. Deutschlands besondere historische Erfahrung legt uns eine eigene Verantwortung für das Lebensrecht Israels und für eine friedliche Lösung des Palästina-Problems auf. Das muss sich bei unserm Verhältnis zur arabischen und muslimischen Welt bewähren. Die Beziehungen zur islamischen Welt sind von besonderer Bedeutung für die Beherrschbarkeit und den Abbau aktueller Spannungen. Unser schon lange gutes Verhältnis zur Türkei und zur arabischen Welt, aber auch die Tatsache, dass Europa zur Heimstadt einer wachsenden Zahl von Muslimen geworden ist, bietet uns besonderen Anlass, Respekt für andersartige Entwicklung mit dem Eintreten für Chancen und Notwendigkeiten von Modernisierung, Aufklärung und Toleranz zu verbinden. Europa hat in Jahrhunderten mit großen Opfern und Irrtümern Erfahrungen gesammelt und Lösungen entwickelt in der Begrenzung von weltlicher und geistiger Macht und in der Fähigkeit des Rechts, Religionsfreiheit als Raum für Glaubensüberzeugung und Toleranz zugleich zu sichern. Sie müssen für das 21. Jahrhundert fruchtbar gemacht werden.

  6. Nachhaltige Entwicklung kann das Problem der Begrenztheit von Ressourcen nicht ausblenden. Deshalb müssen wir für ein globales Verständnis von Ökologie eintreten, was nationale Alleingänge etwa in der Energiepolitik ausschließt und Lösungen fordert, die steigenden Energieverbrauch noch weniger entwickelter Länder ökologisch verkraftbar erhalten. Das schließt eine Politik ein, die den Zugang zur Energieversorgung weltweit sichert und den Missbrauch von Monopolen zur Destabilisierung bekämpft. Globalisierung heißt Marktöffnung und faire Wettbewerbschancen für noch geringer entwickelte Länder. Wenn die Destabilisierung durch steigende Massenmigration vermieden werden soll, muss der Prozess vertiefter weltweiter Arbeitsteilung Raum für unterschiedliche Entwicklung und Bewahrung von Identität lassen.

  7. Für all dies ist Voraussetzung eine Rückgewinnung unserer wirtschaftlichen Dynamik und Wettbewerbsfähigkeit. Deregulierung unseres Arbeitsmarktes, Abbau lähmender Überbürokratisierung, Zukunftsfähigkeit sichernde Reform der sozialen Sicherungssysteme auch angesichts der demographischen Entwicklung, Konzentration auf Bildung und Forschung mit dem Anspruch, weltweit in die Spitzengruppe zurückkehren zu wollen, auch eine aktive Außenwirtschaftsförderung, die unter der derzeitigen Regierung vernachlässigt wurde – all dies ist in doppelter Weise mit unserer außenpolitischen Handlungsfähigkeit verknüpft: Ohne wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit wird unser Einfluss marginalisiert - und umgekehrt, eine Gesellschaft, die aus Wohlstands- und Erfolgsmüdigkeit in Ruhe gelassen werden will, also der Versuchung zur Introvertiertheit nachgibt, die wird die Neigung stärker ausbilden, sich an Besitzstände zu klammern und notwendige Innovation zu verweigern. Introvertiertheit und Stagnation hängen zusammen. Dies ist in Japan und in den USA ganz gegensätzlich zu studieren. Wir sollten daraus lernen.

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