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כותרת יחידה

Zwischen Autonomierechten und Interventionspflichten

מאת Christian Tomuschat

aus: Eichholzbrief (Zeitschrift zur politischen Bildung) 4/1995

Das Völkerrecht der Gegenwart vertraut auf die Fähigkeit der Menschen, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Das Völkerrecht beschränkt sich darauf, im Interesse der internationalen Gemeinschaft bestimmte Schranken zu ziehen, die allerdings immer weiter vorrücken. Vor allem durch menschenrechtliche Prinzipien und Regeln hat sich der Bereich freier Ermessensentscheidung verkürzt.

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Das Völkerrecht der Gegenwart vertraut auf die Fähigkeit der Menschen, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Damit hat das klassische Prinzip der Souveränitat seit mehreren Jahrzehnten eine neue Bedeutung gewonnen. Wahrend das Attribut "souverän" an sich jedem Staatswesen zukommt, gleichgültig, wie seine interne Regierungsstruktur beschaffen ist, geht heute die Modellvorstellung dahin, daß sich - kraft des Selbstbestimmungsrechts - jedes Volk seinen eigenen Staat schafft, der demgemäß als Ausdruck freier Willensbestimmung seiner Bürger und nicht nur als reines Faktum der Macht nach Schutz und Respektierung verlangt.

Die souveräne Gleichheit ist der rechtliche Schutzmantel, der es der im Staat organisierten menschlichen Gemeinschaft gestattet, innerhalb ihres Zuständigkeitskreises, im wesentlichen ihres Territoriums, alle anfallenden öffentlichen Aufgaben nach eigenem Gutdunken zu erledigen. Das Völkerrecht beschränkt sich darauf, im Interesse der internationalen Gemeinschaft bestimmte Schranken zu ziehen, die allerdings immer weiter vorrücken. Vor allem durch menschenrechtliche Prinzipien und Regeln hat sich der Bereich freier Ermessensentscheidung verkürzt. Gleichwohl gilt nach wie vor: Es gibt keine vorgeordnete Weltregierung, jedes Volk bestimmt über sich selbst.

In der neueren Terminologie des Maastrichter Vertrages läßt sich hier von einem im allgemeinen Völkerrecht wirksamen Subsidiaritätsprinzip sprechen. Sehr dezidiert lautet die mit der souveränen Gleichheit der Staaten verbundene Grundaussage, daß die internationale Gemeinschaft sich nicht als ein Vormund versteht, der generell vorrangige Herrschaftsmacht für sich in Anspruch nehme, sondern daß es grundsätzlich bei jeder staatlichen Gemeinschaft selbst liegt, Systeme öffentlicher Herrschaft für ihre Angehörigen zu entwerfen und in geübte Praxis umzusetzen.

Es gehört allerdings gleichfalls zu den historischen und politischen Grunderfahrungen eines jeden, daß das schöne Bild von der sich frei und ungestört entfaltenden Nation sich in der Realität vielfache Abstriche gefallen lassen muß. In der bisherigen Geschichte der Menschheit hat ein Staatswesen noch niemals die absolute Gewißheit haben können, nicht von außen angegriffen zu werden. Selbst die USA haben ihre Sicherheit durch das NATO-Bündnis geschützt. Für die Verfasser der UNO-Charta waren diese Gefahren eine derartige Selbstverständlichkeit, daß sie - über das Kriegsverbot des Briand-Kellogg-Paktes von 1928 hinausgehend - ein allgemeines Gewaltverbot formulierten (Art. 2 Abs. 4), dem Angegriffenen ausdrücklich ein Recht der Selbstverteidigung zusprachen (Art. 51 ) und zur Sicherung des Weltfriedens eine spezielle Institution, den Sicherheitsrat, schufen.

Die Gegenwart wird indes zunehmend von einer anderen Art von Konflikt geprägt. Nicht mehr die zwischenstaatliche Auseinandersetzung ist es, die rein quantitativ überwiegt, sondern der bewaffnete Kampf innerhalb der Grenzen eines Landes. Haben die Kriege auf dem Boden des ehemaligen Jugoslawien noch die Merkmale beider Konflikttypen, so handelt es sich etwa in Afghanistan, Angola, Mozambique, Ruanda und dem Sudan um rein interne Kämpfe, wo sich ethnische Gruppen gegenseitig die Macht streitig machen oder wo lediglich einzelne Clans um die Vorherrschaft ringen. Ein Ende dieses Weges in die Unfriedlichkeit ist nicht abzusehen. Mit Einführung des modernen Staates nach westlichem Muster war man offenbar in vielen Teilen der Dritten Welt nicht in der Lage, die Befriedungswirkungen herbeizuführen, welche die eigentliche raison d'etre des Staates ausmachen.

Völkerrechtsordnung in Frage gestellt

Der Zusammenbruch von Recht und Ordnung ist nicht lediglich eine schwere Bürde für die betroffenen Menschen, sondern stellt gleichzeitig die Grundlagen der gesamten Völkerrechtsordnung in Frage. Wenn eine als "staatlich" etikettierte Gruppe nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu regieren, liegen gleichzeitig auch die Grundfunktionen brach, deren Wahrnehmung die internationale Gemeinschaft von einem Staatswesen erwartet. Es geht heute nicht mehr nur um die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung zum Schutze der Ausländer; dem Staat obliegt es kraft Völkerrechts ebenfalls, die Menschenrechte seiner eigenen Bürger zu schützen. Auch sonst hat sich die Agendenliste ausgedehnt. So ist etwa eine Reihe neuartiger polizeilicher Aufgaben wahrzunehmen. Jedes Land muß dafür sorgen, daß von seinem Territorium aus die Umweltgüter anderer Staaten oder der internationalen Gemeinschaft als solcher nicht gestört werden. Und völkerrechtswidrig ist es auch, wenn eine Regierung es zuläßt, daß sich innerhalb ihrer Grenzen der internationale Drogenhandel wahre Stützpunkte schafft. Im sogenannten failed state sind solche Entwicklungen dem Zufall preisgegeben, da es an jeder Ordnungsmacht fehlt.

Auch solche Problemlagen sind der Geschichte der internationalen Beziehungen nicht völlig fremd. Dennoch haben auch sie eine neue Wertigkeit erhalten. Denn noch vor 60 Jahren etwa, im Spanischen Bürgerkrieg vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, wurde lediglich die Frage erörtert, ob es nach den völkerrechtlichen Grundsätzen über die Intervention zulässig sei, zugunsten der einen oder der anderen Seite Partei zu ergreifen. Niemand wäre etwa auf den Gedanken gekommen, daß es eine Pflicht geben könne, sich in solche innerstaatlichen Konflikte einzumischen.

Die "Moralisierung" des Völkerrechts, die seit dem Jahre 1945 stattgefunden hat, wirft aber genau die Frage auf, ob nicht die Intervention möglicherweise sogar Gegenstand einer Verpflichtung sein könne. Im übrigen haben auch unterhalb der Schwelle eines bewaffneten Konflikts fast sämtliche im rein räumlichen Sinne internen Vorgänge wegen der Expansion des modernen Völkerrechts ihren Charakter als ausschließlich innerstaatliche Angelegenheit verloren. Schon allein wegen der vielfältigen Verflechtungen und Vernetzungen über die Grenzen hinweg kann die internationale Gemeinschaft es sich nicht mehr leisten, achtlos an Entwicklungen vorbeizusehen, die durch ihre Rückwirkungen den Weltfrieden und die internationale Sicherheit in Gefahr bringen können.

Unter den Faktoren, die das politische Gesicht der Welt entscheidend verändert haben, steht an erster Stelle das Selbstbestimmungsrecht. Ursprünglich als eine rein politische Zielvorstellung betrachtet, hat es sich vor allem unter dem Einfluß der ehemals unter Kolonialherrschaft stehenden Völker zu einem Rechtsprinzip gewandelt, dem niemand mehr die Anerkennung versagt. Das Selbstbestimmungsrecht in Frage stellen hieße heute, sich gleichsam selbst ins Abseits stellen. Und doch hat sich zunehmend gezeigt, daß das Selbstbestimmungsrecht außerordentlich problematische Züge aufweist. Seine ursprüngliche Stoßrichtung war eindeutig: Es richtete sich gegen die Herrschaft der europäischen Kolonialmächte, die in den zwei Jahrzehnten von 1950 bis 1970 überraschend schnell ein Ende fand, mit Ausnahme von Simbabwe und Namibia, wo die Überwindung von Relikten weißer Siedlerherrlichkeit erst mit einer gewissen Verzögerung glückte.

Ungezügeltes Selbstbestimmungsrecht

Nach dem Fall der Apartheidsherrschaft in Südafrika gibt es nirgendwo Regierungsstrukturen mehr, die sich im unmittelbaren Wortsinn als kolonialistisch abqualifizieren ließen. Mit dieser Glacisbereinigung hat sich indes das Selbstbestimmungsrecht nicht erledigt. Immer häufiger wird für einzelne Volksgruppen innerhalb eines Staatswesens ein Selbstbestimmungsrecht in Anspruch genommen, das sich dann als Sezessionsrecht äußern würde. Die bisherige Praxis verneint grundsätzlich ein solches Recht der Lösung aus einem Staatsverband; allerdings gibt es in den maßgebenden UN-Dokumenten Andeutungen, daß einer ethnischen Gemeinschaft das Verbleiben in einem Staatswesen nicht zugemutet werden könne, wenn sie systematischer Diskriminierung - evtl. bis hin zum Völkermor - unterliegt. Die Aussage, "jedes Volk" besitze ein Selbstbestimmungsrecht, wird also im allgemeinen korrigierend dahin verstanden, daß Volk im rechtlichen und Volk im politischen Sinne nicht miteinander gleichzusetzen seien. Als Träger des Selbstbestimmungsrechts wird durchweg das Staatsvolk in seiner Gesamtheit gesehen, unter Einschluß aller ethnischen Gruppen, die es auf dem Boden eines Vielvölkerstaates geben kann.

Welche Sprengkraft ein "ungezügeltes" Verständnis des Selbstbestimmungsrechts haben könnte, haben die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien gelehrt, wo das Wort von der Balkanisierung sich seit 1991 wieder in seiner schlimmsten Bedeutung gezeigt hat. Würde man jeder ethnisch, sprachlich und/oder kulturell besonders geprägten Gruppe ein Selbstbestimmungsrecht zuerkennen, so könnte in Afrika kaum ein einziger Staat Bestand haben; großflächige Bundesstaaten wie Indien und Rußland müßten zerfallen. Es ist richtig, daß die "Torschlußregel" des Selbstbestimmungsrechts - wonach jede einmal unter das Dach eines selbständigen Staates gekommene Gruppe nur noch Rechte auf Mitwirkung in diesem Staatswesen besitzt - ungerecht ist gegenüber den zu spät gekommenen Völkern. Die Kurden gehören zu dieser Kategorie der Zuspätgekommenen. Aber das Völkerrecht, das bis heute im wesentlichen von den Staaten gestaltet wird, kann keine Grundsätze formulieren, die dem vorhandenen Staatensystem den Totenschein ausstellen würden.

Auch in anderer Hinsicht wäre ein ungezügeltes Selbstbestimmungsrecht mit großen Risiken befrachtet. Wenn jedes Verlangen einer ethnischen Gruppe nach Ausscheiden aus dem Staatsverband, dem sie angehört, völkerrechtsgemäß wäre, wären selbstverständlich dritte Staaten frei darin, solche Bestrebungen zu unterstützen. Damit würde von dem Gewalt- und Interventionsverbot, den tragenden Säulen der heutigen Völkerrechtsordnung, nicht viel an Substanz übrigbleiben. Der Weg in die Unfriedlichkeit fände sich nochmals geglättet.

Das Dilemma des Minderheitenschutzes

Damit es nicht zu Sezessionsforderungen kommt, sollten Vielvölkerstaaten ihren verschiedenen ethnischen Gruppierungen ein Höchstmaß an Minderheitenschutz gewähren. Das geltende Völkerrecht legt allerdings in dieser Hinsicht ein hohes Maß an Vorsicht an den Tag. Artikel 27 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte gewährt nur dem einzelnen Angehörigen einer Minderheit bestimmte sprachliche und sonstige kulturelle Rechte. Hier offenbart sich das ganze Dilemma: An sich könnte die Einräumung von politischer Autonomie spannungsmindernd wirken. Dennoch fürchten die Regierungen in aller Regel, daß eine Minderheit, die sich als politische Einheit konstituiert hat, es nicht bei dem von ihr erlangten Autonomiestatus wird belassen wollen, sondern in einem nächsten Schritt auf die volle Unabhängigkeit zusteuern wird.

Den Anstoß für Erwägungen, in einem fremden Staat zu intervenieren, können schließlich massive Menschenrechtsverletzungen geben, wobei die Opfer häufig Angehörige einer bestimmten Minderheit sind. Das Hauptbeispiel liefert auch heute noch die gnadenlose Verfolgung aller Angehörigen des Judentums durch das nationalsozialistische Deutsche Reich. Wer allerdings geglaubt hatte, dieses Trauma der Vergangenheit werde zumindest in Europa eine Heilwirkung ausüben, hat sich getäuscht. Was in Bosnien-Herzegowina durch eine sogenannte Politik der "ethnischen Säuberung" angerichtet worden ist, bleibt allenfalls quantitativ hinter den Nazigreueln zurück, steht ihnen aber an Grausamkeit und Brutalität in nichts nach. Unausweichlich stellt sich hier die Frage, welche Instrumente bereitstehen, um solchem Treiben Einhalt zu gebieten.

Intervention kann es in den unterschiedlichsten Formen geben. Intervention in Form von Stellungnahmen, Appellen, ja Aufforderungen und sogar Verurteilungen ist heute zu einer selbstverständlichen Praxis im internationalen Verkehr geworden. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen diskutiert schlechthin alles, was ihr von weltpolitischer Bedeutung erscheint, auch wenn es sich ausschließlich innerhalb der Grenzen eines bestimmten Landes abspielt, und nimmt insoweit in den abschließenden Resolutionen niemals ein Blatt vor den Mund. Auch der Europäische Rat gibt seit einer Reihe von Jahren Erklärungen zu allen dringenden Fragen von internationaler Relevanz ab, und nicht anders machen es einzelstaatliche Regierungen, wenn sie insbesondere massive Menschenrechtsverletzungen in einem anderen Land anprangern. Solche verbalen Bekundungen hatten der Ostblock und gelegentlich die Dritte Welt als verbotene Einmischung zurückzuweisen versucht. Die Wiener Weltmenschenrechtskonferenz vom Juni 1993 hat indes einschränkungslos bestätigt, daß die Menschenrechte Angelegenheit von "international concern" sind. Von Rechtswidrigkeit solcher Stellungnahmen kann daher keine Rede sein.

Intervention durch Gewalt?

Problematisch ist nur, ob gegebenenfalls mit Gewalt interveniert werden darf, um den Angehörigen einer verfolgten Menschengruppe Hilfe zu leisten.

Weithin besteht heute Einigkeit darin, daß es nicht Sache eines einzelnen Staates sein kann, nach eigenem Ermessen solche gewaltsamen Rettungsmaßnahmen zu ergreifen. Die UN-Charta ist außerordentlich strikt in der Legalisierung militärischer Gewalt. Jeder Staat besitzt ein Notwehrrecht und darf sich infolgedessen selbst verteidigen oder auf Anforderung einer fremden Regierung dieser Beistand leisten. Der Einsatz von Gewalt steht ferner dem Sicherheitsrat zu. Weitere Fälle zulässiger Gewaltanwendung kennt indes die UN-Charta nicht.

Diese enge Eingrenzung wird vor allem in den USA in Zweifel gezogen. In der Tat wird man die Frage stellen dürfen, ob die Staatengemeinschaft einem Völkermord tatenlos zusehen müßte, wenn der Sicherheitsrat infolge der Ausübung des Vetorechts durch eines seiner ständigen Mitglieder gelähmt wäre. Unter solchen Umständen läge es nahe, das traditionelle Instrumentarium der sogenannten "humanitären Intervention" wiederzubeleben. Dennoch: Für den Regelfall muß gelten, daß kein einzelner Staat es sich anmaßen darf, zur Behebung von Mißständen irgendwo in der Welt nach seinem eigenen Gutdünken als Weltpolizist einzuschreiten.

Damit richten sich die Blicke zwangsläufig auf den Sicherheitsrat, dem ja Kapitel VII der Charta die Gewaltanwendung gestattet, ohne ihm deswegen ein Gewaltmonopol zu gewähren, weil eben jeder Staat das Recht behält, sich selbst zu verteidigen. Aufgabe des Sicherheitsrats ist es nach Kapitel VII der UN-Charta, den "Weltfrieden und die internationale Sicherheit" ("international peace and security") zu gewährleisten. Bei den Beratungen anläßlich der Gründungskonferenz von San Francisco im Jahre 1945 verstanden die meisten Teilnehmer diese Formel so, daß der Sicherheitsrat den Krieg zwischen Staaten verhindern solle. Allerdings gab es auch damals schon andere Stimmen, die angesichts gerade gemachter Erfahrungen auf das Schicksal verfolgter Minderheiten als berechtigten Anlaß für ein Einschreiten durch den Sicherheitsrat hinwiesen.

Über die Jahre hinweg hatte sich ein solches expansives Verständnis von der Zuständigkeitsklausel allmählich gefestigt. In zahlreichen Resolutionen nahm der Sicherheitsrat vor allem zur Lage in Südafrika, Rhodesien (Simbabwe) und Israel Stellung, auch wenn der einzelne von ihnen kritisierte Vorgang keine grenzüberschreitenden Auswirkungen hatte. Allerdings handelte es sich meistens um Resolutionen im Rahmen des Kapitels VI, wonach der Sicherheitsrat keine verbindlichen Anordnungen erlassen, sondern lediglich Empfehlungen aussprechen kann.

Der eigentliche Durchbruch zu einer grundsätzlichen Neuorientierung fand im Jahre 1992 mit der Somalia-Resolution 794 statt, wo der Sicherheitsrat sich zu der Auffassung bekannte, daß "das Ausmaß der menschlichen Tragödie" in dem Lande für sich allein genommen eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit darstellen könne, und aufgrund dieser Feststellung das Kapitel VII zur Anwendung brachte. Diese Linie hat er in der Folgezeit beibehalten. Vor allem die Resolutionen zu Haiti, mit denen die Wiederherstellung der Demokratie in dem Lande und die Wiedereinsetzung des legal gewählten Präsidenten Aristide gefordert wurden, lassen sich nur auf diesem Hintergrund verstehen. Das Fazit lautet also, daß ein Zustand der Recht- und Gesetzlosigkeit in einem Lande Zwangsmaßnahmen rechffertigt.

Schwere Bürde für den Sicherheitsrat

Es liegt auf der Hand, daß sich der Sicherheitsrat mit dieser Ausweitung des Begriffs "Weltfrieden und internationale Sicherheit" eine schwere Bürde aufgeladen hat. Faktisch fehlen ihm die Machtmittel, um überall dort einzugreifen, wo ein Zustand der Anarchie herrscht, weil die nachkolonialen Regierungsstrukturen zusammengebrochen sind. Die Haiti-Resolutionen quellen deswegen geradezu über von Präzisierungen, mit denen auf den außergewöhnlichen Charakter der dort herrschenden Situation aufmerksam gemacht wird.

Vor allem auch nach den bitteren Erfahrungen von Somalia und Bosnien herrscht in internationalen Kreisen eine sehr deutlich spürbare Interventionsmüdigkeit. Während viele Sprecher von Drittweltinteressen noch mit Vehemenz gegen die angeblichen Kompetenzanmaßungen des Sicherheitsrats zu Felde ziehen, hat sich das Blatt längst gewendet. Es besteht die Gefahr, daß man Notlagen fernab der Hauptzentren der industrialisierten Welt gar nicht mehr zur Kenntnis nimmt. So ist Afghanistan für die Öffentlichkeit längst in der Versenkung verschwunden, und auch Schwarzafrika insgesamt läuft Gefahr, daß man es als verlorenen Kontinent einfach abschreibt.

Langfristig bietet wohl eine kluge Entwicklungspolitik den einzigen Ausweg, die vorausschauend den in ihrer Existenz bedrohten Staatswesen der Dritten Welt die notwendigen Stabilitätsanker gibt, damit sie überleben können. Stärker als bisher muß in Zukunft Wert auf sorgfältig geplante Bil-dungs- und Ausbildungsprogramme gelegt werden. Nicht eine ständige Gehhilfe ist erforderlich, vielmehr sollten Starthilfen gegeben werden, die es den Menschen gestatten, baldmöglichst ganz allein auf eigenen Füßen zu stehen. Töricht wäre es jedenfalls, sich im wesentlichen auf nachträgliche korrigierende Eingriffe zu verlassen. Es ist kaum möglich, ein Gemeinwesen wieder aufzubauen, wenn erst einmal durch bewaffnete Auseinandersetzungen alle fruchtbaren Ansätze zur Entwicklung einer modernen Demokratie abgebrochen worden sind und sich in dem Lande die Auffassung verbreitet hat, die einzig sinnvolle, nämlich erfolgversprechende Methode zur Beilegung einer Streitigkeit sei die Gewaltanwendung.

Überforderte Leistungskraft?

Es liegt auf der Hand, daß insoweit vieles ineinandergreift, was möglicherweise die Leistungskraft der internationalen Gemeinschaft in ihrer jetzigen Verfassung übersteigt. Kein Weg führt im Grunde an einer rationalen Bevölkerungspolitik vorbei. Länder, deren Einwohnerzahl sich innerhalb von 30 Jahren verdoppelt, sind nicht in der Lage, für ihre Jugend ein angemessenes Erziehungswesen bereitzustellen. Eine solche Jugend hat aber auch auf dem Arbeitsmarkt keine Chance, sondern muß zu einem Proletariat verkommen, das aufgrund seiner enttäuschten Lebenserwartungen eine Stabilität der politischen Verhältnisse nicht zulassen wird. Unter dem Druck einer explosiven Bevölkerungsvermehrung ist ferner der Umweltschutz zur Wirkungslosigkeit verdammt. Kurzfristiges Überleben steht dann vor langfristiger Sicherung der Existenzgrundlagen. Mit der Rio-Konferenz (Juni 1992) sowie den Konferenzen von Kairo (September 1994) und Kopenhagen (März 1995) ist deswegen an sich der richtige Weg beschritten worden.

Die bescheidenen Ergebnisse all dieser Gipfel lassen indes die bange Frage aufkommen, ob die Menschheit tatsächlich in der Lage ist, ihr Geschick gestaltend in die eigenen Hände zu nehmen. Der Sicherheitsrat kann jedenfalls nicht die notwendige Zukunftsperspektive aufzeigen. Er vermag Notstandssituationen zu bekämpfen, als Zukunftsplaner fehlen ihm indes sowohl der erforderliche lange Atem als auch die angemessene Legitimation, selbst wenn seine Zusammensetzung in naher Zukunft durch eine verstärkte Berücksichtigung der Länder der Dritten Welt reformiert werden sollte.

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