Reportage sui paesi
Eine stabile Regierung benötigt in Italien eine Mehrheit in beiden Parlamentskammern: Im Abgeordnetenhaus und im Senat. Bei den Parlamentswahlen am 24. und 25. Februar 2013 erhielt das Mitte-Links Bündnis „Italia. Bene comune“ um Pier Luigi Bersani im Abgeordnetenhaus die Mehrheit der Sitze, jedoch nicht im Senat. Dort liegt die Mehrheit bei 158 Sitzen. Selbst wenn Mitte-Links (123 Sitze) – wie im Vorfeld oft spekuliert - mit Mario Montis Wahlliste (19 Sitze) zusammenginge, hätte diese Koalition nur 142 Sitze. Zuwenig also. Silvio Berlus-conis Mitte-Rechts Bündnis „Centrodestra“ kommt auf 118 Sitze und Beppe Grillos „MoVimento Cinque Stelle“ (M5S, dt. „Fünf-Sterne-Bewegung“) auf 53 Sitze.
Pier Luigi Bersani, Parteivorsitzender der Partito Democratico (PD, dt. „Demokratische Partei“), der größten Partei im Mitte-Links Bündnis, will Regierungschef werden. Gegenüber der Zeitung La Repubblica sagte er am 1. März 2013: „Nennt sie wie ihr wollt: Minderheitsregierung oder Zweckregierung, das interessiert mich nicht. Ich nenne sie Regierung des Wandels und werde damit dem Parlament die Vertrauensfrage stellen“. Angesichts der Sitzverteilung dürfte die Findung einer Mehrheit jedoch schwierig werden. Drei Varianten sind denkbar.
1.) Eine Koalition von PD und M5S bzw. eine Duldung
Pier Luigi Bersani ließ schon kurz nach Bekanntwerden der Wahlergebnisse in Richtung M5S sondieren. Beppe Grillo, Frontmann von M5S, lehnt jedoch ab: „M5S wird der PD nicht das Vertrauen aussprechen. M5S wird im Plenarsaal den Gesetzen zustimmen, die ihrem Programm entsprechen – egal wer diese einbringt“, schreibt Grillo auf seinem Blog. Das sehen einige seiner Abgeordneten jedoch anders: Die Bewegung ist entstanden, weil man sich vor allem gegen die Politik Silvio Berlusconis auflehnen wollte. Man könne nun nicht demjenigen, den man abwählen wollte, indirekt Regierungsverantwortung übertragen. Die Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner - ein Programm aus wenigen Punkten - sehen viele als mögliche Lösung.
Ein anderer Mann an der Spitze der PD könnte hierfür die Voraussetzung schaffen: Vor allem jüngere Parteimitglieder setzen auf Matteo Renzi, den Bürgermeister von Florenz, um einen Kompromiss mit M5S herbeizuführen. Sie fordern den Rücktritt Bersanis. Abgesehen von der grundsätzlichen Weigerung Beppe Grillos, bliebe eine Koalition mit M5S riskant für das Mitte-Links Bündnis: M5S ist heterogenen und noch nicht institutionalisiert. Zudem widersprechen sich die Positionen von Mitte-Links und M5S in vielen Punkten - insbesondere zu europapolitischen Fragen und zu Fragen des Umgangs mit der Euro-Krise - fundamental. Ob man dieses Dilemma mit einem gemeinsamen „Minimal-Programm“ lösen kann, ist äußerst fraglich.
2.) Eine „große“ Koalition von PD und PDL bzw. eine Duldung
Ebenfalls kurz nach Bekanntwerden der Wahlergebnisse wagte sich Silvio Berlusconi in Richtung Mitte-Links vor. Jedoch bereits bei seiner ersten Pressekonferenz nach der Wahl, schloss Pier Luigi Bersani eine Koalition mit dem von Berlusconi geführten Bündnis kategorisch aus. Auch Bersanis Bündnispartner Nichi Vendola von „Sinistra Ecologia Libertà“, (SEL, dt. „Linke Ökologie Freiheit“) erteilte vorsorglich einer großen Koalition eine Absage. Eine Rechts-Links Koalition wäre politisch für alle Beteiligten sehr riskant: Die Stammwählergruppen der beiden Bündnisse stehen sich extrem polarisiert gegenüber und würden kaum Verständnis für eine Koalition aufbringen. Sollte es dann zu Neuwahlen kommen, müsste sowohl das Mitte-Links als auch das Mitte-Rechts Lager mit kräftigen Stimmverlusten rechnen. Vermutlich wieder zu Gunsten von M5S - weswegen sich Grillo auch stets hinterlistig für eine große Koalition ausspricht.
Eine mittel- und langfristige Duldung einer Mitte-Links Minderheitsregierung durch Mitte-Rechts erscheint ebenfalls unwahrscheinlich. Schon während der „Technischen Regierung“ Mario Montis hielt Berlusconis „Popolo della Libertà“ (PDL, dt. „Volk der Freiheit“) den vereinbarten Burgfrieden nicht lange durch. Nach wenigen Monaten begann die Partei, sich auf den Premierminister einzuschießen und entzog diesem nach einem Jahr schließlich die Unterstützung im Parlament. Und der Regierungskurs Montis dürfte der PDL noch um einiges näher gelegen haben, als der Kurs einer Mitte-Links Regierung.
3.) Eine technische Regierung
Eine weitere Möglichkeit zur Regierungsbildung wäre erneut eine technische Regierung, die dann von PD und PDL oder M5S toleriert werden müsste. Abgesehen davon, dass gerade eine technische Regierung an der entzogenen Unterstützung durch die PDL im Parlament gescheitert ist, würde eine erneute technische Regierung die Funktionsfähigkeit der italienischen Parteiendemokratie grundsätzlich in Frage stellen.
Regierungsbildung oder Neuwahlen?
Wie die Nachrichtenagentur Reuters am 28. Februar meldete, äußerte der italienische Staatspräsident Napolitano dennoch, er sei sicher, dass in den nächsten Wochen einen Regierung gebildet werde. Dabei müsse der Wille der Wähler respektiert werden. In Anbetracht der aktiven politischen Rolle, die Präsident Napolitano in seiner Amtszeit eingenommen hat, darf davon ausgegangen werden, dass er sein Möglichstes tun wird, einen Kompromiss – wie auch immer dieser am Ende aussehen mag - zu vermitteln.
Ob er damit Erfolg hat, wird sich bald zeigen, denn der Fahrplan zur Regierungsbildung steht fest: Die beiden Kammern des Parlaments müssen am 15. März zum ersten Mal zusammentreten. Sie stehen dann vor der Aufgabe, ihre jeweiligen Präsidenten und Ausschussvorsitzenden zu wählen sowie die Fraktionen und Ausschüsse zu konstituieren. In der Abgeordnetenkammer kann dies dank der klaren Mehrheitsverhältnisse möglich sein. Im Senat dürften jedoch Schwierigkeiten auftreten, sollten sich die Parteien nicht vorher grundsätzlich untereinander auf ein Vorgehen – und damit die Verteilung der Posten - geeinigt haben.
Parallel zu den Sondierungen und Gesprächen zwischen den Parteien, nimmt auch der Staatspräsident Konsultationen mit den Präsidenten der beiden Parlamentskammern und den Repräsentanten der politischen Gruppierungen auf. Im Normalfall würde der italienische Staatspräsident nun denjenigen als neuen Premierminister bestellen, dem er eine stabile Regierungsbildung zutraut – der also durch eine parlamentarische Mehrheit gestützt wird. Der neue Premierminister würde dem Staatspräsidenten dann die Zusammensetzung des Kabinetts vorschlagen.
Dass der vom Staatspräsidenten ernannte Premierminister eine parlamentarische Mehrheit hinter sich weiß, ist wichtig: Die Regierung muss innerhalb von zehn Tagen nach ihrer Bestellung durch den Staatspräsidenten von beiden Parlamentskammern das Vertrauen ausgesprochen bekommen. Wird einer Regierung das Vertrauen entzogen, bzw. bekommt sie es erst gar nicht ausgesprochen, muss sie zurücktreten. Gesetzt den Fall, das Mitte-Links Bündnis, das Mitte-Rechts Bündnis, M5S und die Liste Mario Montis können sich – in welcher Konstellation auch immer - nicht auf eine Regierung einigen, wären Neuwahlen die naheliegende Lösung.
Jedoch: Gemäß der italienischen Verfassung kann nur der Präsident das Parlament - bzw. eine seiner Kammern – auflösen. Er darf diese Befugnis aber nicht in den letzten sechs Monaten seiner Amtszeit ausüben. Da das Mandat des italienischen Staatspräsidenten Giorgio Napolitano am 15. Mai 2013 ausläuft, ist dieser Fall relevant. Im Klartext: Staatspräsident Napolitano kann das italienische Parlament nicht mehr auflösen. Erst ein neuer Präsident kann diese Befugnis wieder ausüben. Und dieser neue Präsident muss wiederum von beiden Kammern des Parlaments gemeinsam mit 60 Regionalvertretern gewählt werden.
Was wäre, wenn sich die italienischen Parteien nicht auf eine Koalitionskonstellation einigen können, die eine Regierungsbildung erlaubt und das italienische Parlament bis Mitte Mai nicht aufgelöst werden kann? Dann bleibt vorerst die Regierung von Mario Monti im Amt und führt die laufenden Regierungsgeschäfte – im Zweifelsfall bis ein neuer Präsident gewählt ist, das Parlament aufgelöst, Neuwahlen durchgeführt und eine neue parlamentarische Mehrheit gefunden ist. In der Tat sind dies keine guten Perspektiven. Verständlich, dass Staatspräsident Napolitano sehr daran gelegen ist, eine solche Verfassungs- und Staatskrise zu vermeiden.
Politische Umbrüche stehen an
Auch wenn es Staatspräsident Napolitano gelingt, einen Kompromiss zwischen den Parteien herbeizuführen, der eine Regierungsbildung erlaubt, so muss doch festgestellt werden, dass sich das politische System Italiens auch weiterhin in einer tiefen Krise befindet. Nach dem Rücktritt der Regierung Berlusconi musste im November 2011 eine „Technische Regierung“ unter Premierminister Mario Monti gebildet werden, weil sich die italienischen Parteien nicht in der Lage sahen, die Regierungsverantwortung für die notwendigen Reformprojekte zu übernehmen. Seitdem hat sich bei den etablierten Parteien erstaunlich wenig getan. Die PDL hat den Posten eines Generalsekretärs eingeführt und die PD hat Urwahlen durchgeführt, um ihren Spitzenkandidaten und die Liste (bzw. Teile der Liste) für die Parlamentswahlen festzulegen. Ansonsten: Kaum Konsequenzen aus dem Debakel im Herbst 2011.
Konsequenzen haben hingegen die Wähler gezogen. Sie sind zur „Anti-Parteien-Bewegung“ M5S gewechselt - wendet sich die Bewegung doch gegen das, was viele Italiener mit ihren etablierten Parteien in Verbindung bringen: Privilegien, Vorteilsnahme, Nepotismus, Überalterung und abgehobene Bürgerferne.
Francesco Galietti von Policy Sonar stellt fest: „Politische Unzufriedenheit ist keine isolierte Episode sondern ein dominierender Trend in Italien“. Seinen Untersuchungen zur Folge zählen 45-46% der Italiener zur Gruppe der politisch Unzufriedenen. Die etablierten italienischen Parteien werden sich grundlegenden ändern müssen, wenn sie diese Wähler wieder erreichen wollen. Es ist davon auszugehen, dass dies noch nicht unmittelbar nach diesen Wahlen gelingen kann, sondern ein längerer und schwieriger Prozess wird. Gerade in Italien, wo die Parteien stark von einzelnen Personen dominiert und weniger durch Strukturen, Institutionen und Programme geprägt sind, ist der Machterhalt bisweilen zum Selbstzweck politischen Handelns geworden. Mindestens ein Auftrag der Wähler nach diesen Parlamentswahlen ist klar: Damit muss Schluss sein.