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„So hatte ich‘s mir nicht gedacht.“

Oder warum sich Grillparzer eigentlich doch nicht wunderte, als er das Meer bei Triest erblickte und was das mit unserer Idee von Europa zu tun haben könnte

Tagungsbericht zur Internationalen Literaturkonferenz "Brücken bauen in Europa. Literatur, Werte, Identität" vom 7.-9. Juni in Triest.

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Gedankenspiele über die Wahrheit nennt Clemens J. Setz einen schmalen Essayband, der den Schnittmengen von Erinnerung, Literatur und Wahrheit auf die Schliche zu kommen sucht. Ihren Ausgangspunkt nehmen seine Überlegungen von einem Zitat, das eine Tagebuchbuchaufzeichnung Franz Grillparzers in einem bemerkenswert-lakonischen Satz komprimiert. „So hatte ich‘s mir nicht gedacht“ ist ein Gedankenspiel über Grillparzer, als er zum ersten Mal in seinem Leben das Meer erblickte, und zwar just bei Triest. Und Gedanken über das reale und das literarische Triest, den Schnittpunkt von Kulturen und Diskursen in Europa, machten sich die Teilnehmer, die vom 7. bis 9. Juni zur 12. internationalen Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung Brücken bauen in Europa. Literatur, Werte und Europäische Identität in die Hafenstadt an der Ost-Adria kamen. Und „So hatte ich‘s mir nicht gedacht.“ könnte auch ein Satz sein, den man angesichts des Brexits, der Lage der Rechtsstattlichkeit in Polen oder der Vetotaktik Ungarns und natürlich angesichts Putins Angriffskriegs in der Ukraine großen Europäerinnen und Europäern heute in den Mund legen könnte.

 

Der Vorsitzende der KAS und Präsident des Deutschen Bundestages a.D. Norbert Lammert eröffnete die Konferenz in seinem Vortrag Europa, quo vadis? mit einer angesichts solcher ‚europakritischen Prozesse‘ gebotenen Skepsis. Dabei verband er seine Retrospektive auf die bisherigen Stationen der Konferenzreihe – an den Schnittstellen von Politik und Kultur, zwischen Osten und Westen und zwischen unterschiedlichen Generationen und Professionen – mit einem, in der Art der mnemotechnischen Loci-Methode entwickelten Rückblick auf den Prozess der europäischen Einigung. Lammert unterstrich dabei die zentrale Bedeutung der Europäischen Union nicht nur als eines visionären Projekts der Völkerverständigung, sondern auch die Notwendigkeit eines wirtschaftlichen und politischen Zusammenschlusses relativ kleiner Staaten im Kontext einer weiter voranschreitenden Globalisierung. Angesichts des Ukrainekriegs betonte er zudem die existenzielle Bedeutung Europas als „Frage von Frieden und Krieg“ (Helmut Kohl).

 

Das Potenzial der Literatur als Brückenbaumedium und als Reflexions- und Möglichkeitsraum von europäischen Werten und europäischer Identität entfaltete sich in den anschließenden Lesungen von Hans Pleschinski, Arno Geiger und Prof. Dr. Adolf Muschg. Pleschinskis las aus seinen synchronen, realitätsgesättigten ‚Tagebucherzählungen‘ aus Mariupol. Geiger lud, aus seinem noch unveröffentlichtem Roman über den ‚Protoeuropäer‘ Karl V. lesend, die Zuhörenden zur literarischen ‚Anders-Perspektivierung‘ des zurückgetretenen Kaisers ein, während Muschg in einem mündlichen Vortrag ‚homerischer Prägung‘ die griechische Idee vom Theater als geschütztem deliberativen Raum konturierte, in dem die Ordnungen der Götter und Menschen ‚spielend‘ ausgehandelt und aktualisiert werden können.

 

Die erste Sektion der Tagung Triest als europäischer Ort wurde mit dem Vortrag von Prof. Dr. Rüdiger Görner (London) „Im Worthafen” – Triest als poetische Lebensform eröffnet, der, die Brücke zu den Lesungen des Vortages schlagend, zu einem gelehrten Spaziergang durch das literarische Triest einlud, auf dem die staunenden Konferenzgäste u.a. James Joyce, Rainer Maria Rilke, Ilse Aichinger oder Claudio Magris begegnen konnten. Dieses literarische Triest entfaltete Görner als geradezu heterotopischen Ort zwischen ästhetisch aufgeladener Melancholie und sich verzweigenden Mythen, aber auch als Ort realgeschichtlicher Verwerfungen. Diese Gedanken aufnehmend, skizzierte Prof. Dr. Luca Crescenzi (Trient/Rom) in seinem Vortrag Triest als Achse des historischen Bewusstseins die Stadt als Störfaktor einer homogenen (nationalen) Geschichtserzählung. So entfaltete er einen diachronen Blick auf die wechselhafte Geschichte dieses kosmopolitischen Grenzorts, der bestimmt ist durch Kontrastierungen und Ambivalenz, durch Vielfalt auf engstem Raum und seinen transistorischen Charakter als Hafenstadt. Diesem gelebten Beispiel ‚pluralistischer bewegter Stabilität’ stellte er den nur im nationalistischen Zerrspiegel Verheißung versprechenden ‚Prozess ethnischer Vereinfachung‘ gegenüber.

 

Dem Konzept der Konferenz folgend, Kultur und Politik miteinander in Beziehung zu setzen, nahm Prof. Dr. Markus Krienke (Lugano) in der zweiten Sektion Europa neu denken und leben mit seinem Vortrag Italien und seine Nachbarinnen und Nachbarn – eine europäische Perspektive jüngere politische Entwicklungen in Europa wie die Eurokrise 2010 oder die Flüchtlingskrise 2015 in den Blick. Dabei versuchte er, den Blickwinkel auf diese Krisen vom deutschen Stadtpunkt zum italienischen zu lenken, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den Bewertungen und Schlussfolgerungen aufzuzeigen. Zudem verdeutlichte er, dass Prozesse vertiefter Zusammenarbeit oder besonderer Abstimmung (Frankreich und Deutschland) bei anderen/kleineren Ländern das Gespenst der Majorisierung hervorrufen können. Anschließend skizzierte Prof. Dr. Angelo Bolaffi (Rom) in seinem Vortrag Die Krise als Chance für Europa in einem ersten Schritt die Verbindung von Krise und europäischer Geschichte, die er u.a. an der Corona-Pandemie und ihren sozialen und ökonomischen Konsequenzen einschlägig erläuterte. In einem zweiten Schritt wertete er den Ukrainekrieg bzw. schon den Überfall auf die Krim 2014 als geostrategische Herausforderung der Logik des 19. Jahrhunderts, die Gewissheiten Europas erschüttere: Die Rückkehr des Krieges und der Gewalt beende auch für die Bürgerinnen und Bürger Europas den sozusagen mit offenen Augen geträumten Traum vom ewigen Frieden nach dem ‚Ende der Geschichte‘. Dies begründe auch die Identitätskrise deutscher Identitätspolitik. Diese deutsche Identität, so könnte man in Anlehnung an den Vortrag Corona und Demokratie – zur Resilienz des Regierens von Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte (Duisburg-Essen) sagen, kreiste, zumindest bis zum 24.2.2022, pandemiebedingt mit verwirrender Intensität um die Frage des Impfens. Mit dem deutschen Hang zum Prinzipiellen entfaltete sich in dieser Debatte, bei der es zunächst um (freilich sehr weitreichende) Gesundheitsfragen ging, eine Dialektik der Schätzung von Freiheitsrechten und ihrem Entzug, die insbesondere durch die Vielzahl schnell aufeinander folgender und sich zum Teil widersprechender Regelungen befeuert wurde. Kontrastierend zu der Sicherheitskultur der Deutschen und ihrer Erwartung einer Planbarkeit des Lebens, skizzierte Korte Unberechenbarkeit als Prinzip für das politische Tagesgeschäft und charakterisierte Politik als die Kunst, auf das Unerwartete zu reagieren.

 

Wie belastbar ist die Demokratie? fragte anschließend Prof. Dr. Hans Vorländer (Dresden) in einem als ideengeschichtlicher Tour d’Horizon angelegten Vortrag, ausgehend von der Beobachtung, dass die (noch etwas mehr als 30) liberalen Demokratien auf der Welt zusehends durch ‚elektorale Demokratien‘ und Autokratien unter Druck gesetzt werden. Als einen Ausgangspunkt von Entfremdungserscheinungen zischen Politik und Bürgerinnen und Bürgern identifizierte Vorländer neben dem Problem einer zunehmenden Verachtung der demokratischen Institutionen und einem Vertrauensverlust in die Fähigkeit der Politik zum Krisenmanagement auch eine Transformation von der Parteien- in eine

Bewegungsdemokratie (Beispiel Frankreich) sowie eine Segmentierung der (medialen) Öffentlichkeit. Eine mögliche Antwort auf diese Segmentierung gab Prof. Dr. Oliver Jahraus (München) in seinem Vortrag über Die europäische Universität nach Bologna, indem er die politische Dimension der Institution Universität fokussierte und deren Bedeutung als ‚Moderationsanstalt‘ für Europa betonte. Die Universität sei zwar als ausdifferenziertes gesellschaftliches Teilsystem durch durchaus langwierige institutionelle Prozesse gebunden, könne aber innerhalb dieser Prozesse flexibel und frei in der ‚wissenschaftlichen Produktion von Wahrheit‘ operieren, und zwar auch bei der (digitalen) Medienobservation.

 

Der dritte und letzte Tagungstag wurde unter der Überschrift Religion, Bildung und

Wissenschaft mit dem Vortrag von Dr. Joachim Hake (Berlin) Aus zweiter Hand: Bemerkungen zu Christentum und Europa heute eröffnet. Ausgehend von Überlegungen zum Bedeutungsverlust der Kirchen sowie von Modernisierungs- und Reformfragen, entwickelte Hake im Anschluss an Jörg Lausters Idee einer „Verzauberung der Welt“ ein Kaleidoskop integrativer europäischer Szenen, die an die Stelle theologischer/politischer/bürokratischer Langeweile schöpferische und poetischer Kraft stellen. Gerüstet mit Ideen solch utopischer Energien, wurde die Konferenz mit einer Podiumsdiskussion zu Europas Zukunft beschlossen, in der die an den vergangenen Konferenztagen ausgelegten Fäden aufgenommen und besonders von den teilnehmenden Studierenden neu verknüpft wurden. Den historischen Lektionen, den europäischen Idealen und den Konzepten von Europas Zukunft steht – und das wurde durch einen emotional aufgeladenen Wortbeitrag einer Germanistin aus Lemberg besonders deutlich – das konkrete Leid der ukrainischen Bevölkerung gegenüber, das durch den am 24.2.2022 begonnenen russischen Angriffskrieg verursacht wurde und weiterhin verursacht wird. Und dieser Krieg ist, das wurde im Verlauf der Konferenz offensichtlich, nicht nur eine Gretchenfrage der europäischen Identität und der wirtschaftlichen Stabilität, sondern er ist auch eine Frage der Zukunft Europas zwischen Krieg und Frieden: So hatten wir’s uns nicht gedacht!

 

Andre Kagelmann (Köln)

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