Asset-Herausgeber

von Christine Henry-Huthmacher

Wenn das Besondere zum Maßstab wird

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Warum legen Eltern heute so viel Wert auf die Förderung ihres Kindes? Warum haben soziale Medien eine solch große Bedeutung für die Jugendlichen? Wie ist der hohe Anspruch der Generation Y an ihr Leben und an den Beruf zu verstehen?

 

Was verbindet diese scheinbar unzusammenhängenden Fragen? Gemeinsam ist allen ein veränderter Anspruch an sich selbst, an das Kind, an den Beruf und an das Verhältnis von Beruf und Freizeit. Es sind Symptome eines strukturellen gesellschaftlichen Wandels, der sich vor allem in der Mittelschicht vollzieht. Es ist ein Wandel, getragen von einer neuen, akademisch gebildeten, global orientierten liberalen Mittelschicht – sehr vereinfacht gesagt – vom Kollektiv hin zum Individuum, der sich besonders deutlich in der Erziehung und in den Ansprüchen an Schule und Beruf zeigt. Bereits in der Erziehung und im späteren Bildungsverlauf geht es um eine Optimierung der Profilbildung.

 

Nicht mehr allein Fleiß, bestandene Prüfungen und Zertifikate garantieren den Erfolg. Vielmehr kommt der Profilbildung bereits in der Erziehung von Kleinkindern eine neue Bedeutung zu. Einzigartigkeit, Originalität, Attraktivität und Unterscheidbarkeit sind nicht nur wichtige Faktoren in der heutigen Kindererziehung, sondern auch essenzielle Faktoren, die nicht nur im Internet die Chance auf soziale und monetäre Anerkennung im späteren Leben verbessern.

 

Das Kind, seine Talente, Fähigkeiten und Bedürfnisse stehen heute im Mittelpunkt der Familie. Eltern kommt die Aufgabe zu, Potenziale möglichst frühzeitig zu fördern und bis in das Berufsleben hinein zu optimieren. Heutige Erziehung versteht sich nicht mehr als die Vermittlung „regelkonformen“ Verhaltens. Im Gegenteil: Erziehung ist heute eine schwer zu bewältigende Gestaltungsaufgabe geworden, die die Einzigartigkeit des Kindes erkennt und anregt. Das einzelne Kind ist idealerweise von Geburt an in seiner Besonderheit bestmöglich zu fördern. Dabei bestimmen heute Individualität, Selbstbestimmung und Selbstreflexion das Kinderbild und den davon abgeleiteten Erziehungsstil (vgl. Keller, 2015, S. 16 f.).

 

Der Wandel des Erziehungsstils vom „Befehlshaushalt“ zum „Verhandlungshaushalt“ hat zu einer veränderten Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern auf „Augenhöhe“ beigetragen. Kinder haben heute ein Recht auf eine eigene Kindheit und eine autonome Entwicklung. Nicht mehr die Einordnung in kollektive Strukturen und Gruppen bestimmt den Erziehungsstil, sondern die Selbstentfaltung des Kindes.

 

 

Erziehung – ein Singularisierungsprogramm

 

In den 1980er-Jahren stand nach allgemein akzeptierten Erziehungsstandards eine Erziehung zu einem sozial kompetenten Menschen im Vordergrund. Zwar ist soziale Kompetenz nach wie vor relevant, doch ist das Erziehungsideal nicht mehr die Anpassung oder Einordnung in die Gruppe, sondern das autonome, selbstmotivierte Kind mit ausgeprägtem Selbstwertgefühl, das auch in seiner Eigensinnigkeit zu fördern ist. Jedes Kind ist ein einzigartiges Ensemble von Begabungen, Potenzialen und Eigenarten, das zu seiner Entfaltung angeregt werden soll. „Die spätmoderne Erziehungspraxis ist ein Singularisierungsprogramm des Kindes. Jedes Kind, so die Überzeugung, ist anders und besonders – und so soll es auch sein“ (Reckwitz 2017, S. 331).

 

Für die akademische Mittelschicht, die sich seit den 1980er-Jahren herauskristallisiert hat, gelten doppelte Anforderungen an Erziehung: Zum einen geht es um Selbstverwirklichung als Wert an sich, zum anderen um Kompetenzen, die den schulischen und beruflichen Erfolg sichern sollen. Dieses hohe Anforderungsprofil der Eltern an Erziehung und Schule stößt vielfach noch auf ein schulisches System standardisierter Wissensvermittlung und der Festlegung allgemeingültiger Bildungsstandards. Demgemäß wirkt das Ideal der „Massenbildung“ des vergangenen Jahrhunderts nach: Alle Schüler lernen das Gleiche in gleichem Rhythmus auf gleiche Weise (vgl. Reckwitz, 2017, S. 329 ff.). Doch beginnt sich das Selbstverständnis von Schule zu verändern. Die Schule setzt immer weniger das schulgerechte Kind voraus, sondern begibt sich auf den Weg zur kindgerechten Schule. Die Schule versteht sich nicht mehr als eine untergeordnete Verwaltungsbehörde, die von Lehrplänen vorgegebene Inhalte zu vermitteln hat, sondern als Träger einer besonderen Schulkultur von Lehrenden, Lernenden und Eltern. Als „kreative“ Schule muss sie maßgeschneiderte Möglichkeiten anbieten – von individueller Förderung über Projektlernen bis hin zu Mentoring. Nicht selten überfordern diese anspruchsvollen Lebensziele der akademischen Mittelschicht sowohl Kinder als auch Schulen (vgl. Reckwitz 2017, S. 334).

 

 

Lebensqualität statt Lebensstandard

 

Heutige Jugendliche präferieren Berufs- und Karrierewege, die maximale individuelle Selbstbestimmung, maximale Zukunftsoptionen und minimale Festlegungen ermöglichen. Diese selbstbewusste und fordernde Generation Y hat nicht nur hohe Erwartungen an den Arbeitsplatz, sondern auch an ihr Privatleben, das sie mit dem Beruf in Einklang bringen möchte (vgl. Hoffmann 2016, S. 19 ff.). Die Mehrzahl der Jugendlichen sieht den Beruf in erster Linie als Möglichkeit der lebenslangen Entwicklung mit hoher intrinsischer Motivation und mit Karrieremöglichkeiten im Lebenszyklus, wobei sich berufliche und persönliche Entwicklungen miteinander verbinden. Arbeit ist für sie mehr als Broterwerb. „Während das industrielle Arbeitssystem auf den Elementen der Qualifikation, Leistung und Stelle/Funktionsrolle beruhte, basiert das postindustrielle Arbeitssystem auf Kriterien von Kompetenz/Potenzial, Profil und Performanz“ (Reckwitz 2017, S. 201). Das Leitbild für diese Jugendlichen ist die hochqualifizierte neue Mittelschicht, die sich vor allem in IT-, Wissens- und Kreativberufen wiederfindet. Kreativität ist Leitbild und Anforderungskatalog der Gesellschaft zugleich. Sie ist ihr Motor und ihr gesellschaftlicher Imperativ.

 

Die neue Mittelschicht setzt sich aus Hochschulabsolventen zusammen, sie konzentriert sich in urbanen Zentren westlicher Gesellschaften und bietet ein hohes Identifikationspotenzial für die Heranwachsenden. Diese neue Gruppe von Akademikern, die ein Drittel der Gesellschaft ausmacht, forciert einen Wertewandel von der Erfüllung der Normen und Pflichten hin zu Selbstentfaltung und Liberalisierung. Das sich selbst entfaltende Individuum wird zur neuen Leitfigur und verdrängt das sozial angepasste, das unter Konformitätsverdacht gerät. Ein expressives Selbst, das nicht unhinterfragt den Konventionen folgt, ist die Folie der Generation Y (Generation why?).

 

Was diese neue Mittelschicht prägt und für die Generation Y so attraktiv macht, ist die Kultur des Lebensstils und weniger das Einkommen. War das Leitmotiv der Industriegesellschaft das Erreichen eines bestimmten Lebensstandards, so ist es für junge Menschen heute die „Lebensqualität“. Das gute Leben, das zu einer Leitformel dieser Gruppe geworden ist, äußert sich in einem bestimmten Lebensstil. Das reicht von der Kindererziehung über gesundes Essen und aufwendiges Kochen, Sport und Bewegung, Tai-Chi, Qigong, Tango und einen hierarchiefreien, selbstbestimmten Arbeitsstil bis hin zu Reisen jenseits der Touristenpfade, die möglichst authentischen Charakter haben sollten. Dieser Anspruch auf Einzigartigkeit findet sich nicht nur in den sozialen Medien wieder, sondern auch in der Veränderung der Konsumgüter. Während industrielle Güter an Bedeutung verlieren, werden Kreativindustrien zur Speerspitze des Wandels. Ihre Produkte erheben nicht nur den Anspruch auf Einzigartigkeit, sondern vermitteln zudem einen Erlebnis- und Symbolwert, der einen wichtigen Pfeiler der Lebensqualität ausmacht (vgl. Reckwitz, Die Zeit, 05.10.2017, S. 42).

 

Das Leben soll Qualität haben und in all seinen Bestandteilen wertvoll sein. Wertvoll sind das authentisch Erscheinende und das Besondere, das das reizlose Durchschnittliche hinter sich lässt. Diese Authentizitätsperformanz findet im Internet im Kampf um Wertschätzung unter verschärften Bedingungen statt. Angesichts der großen Zahl von Nutzern ist Aufmerksamkeit dort ein knappes Gut. „Nur Sichtbarkeit verspricht hier soziale Anerkennung, während Unsichtbarkeit den digitalen Tod bedeutet“ (Reckwitz 2017, S. 247). Der Zwang zum Besonderen, zur Originalität ist die Folge, sodass sich dieser Lebensstil nicht nur an den Bedürfnissen des eigenen Selbst orientiert, sondern auch am sozialen Prestige. Das ist die paradoxe Struktur einer performativen Selbstverwirklichung: Die Darstellung von Selbstverwirklichung erfolgt vor einem sozialen Publikum unter bestimmten Bewertungskriterien, um von ihm als „attraktives Leben anerkannt zu werden“ (Reckwitz, 2017, S. 305).

 

 

„Neue“ Mitte – „alte“ Mitte

 

Träger des Wandels ist die durch hohe Bildungsabschlüsse entstandene neue Mittelschicht, die in der Wissens- und Kreativökonomie beschäftigt ist und in urbanen Zentren von Berlin bis Seattle lebt. Gemeinsam ist dieser Gruppe, die zu Leitmilieus in den jeweiligen Gesellschaften geworden ist, eine liberale Haltung hinsichtlich Offenheit, Vielfalt, Flexibilität, Gesundheit und Motivation. Dieser neue dominante Liberalismus hat eine wirtschaftsliberale und eine linksliberale Seite, in der es um Persönlichkeitsrechte und Diversität geht. In den beiden Strömungen des Liberalismus geht es um Öffnungsbewegungen: einerseits für Märkte und andererseits für Identitäten. In beiden Strömungen sind Differenzierungen und Wettbewerb grundlegend. Es geht um bessere Schulen, nicht um gleich gute Schulen. Indem Diskriminierungen aufgehoben werden, erscheinen sexuelle Orientierungen oder verschiedene migrantische Gruppen und Kulturen in ihrer Verschiedenheit als wertvoll (Reckwitz, Die Zeit, 05.10.2017, S. 42).

 

Mit ihrem liberalen, kosmopolitischen Lebensstil und ihrem Anspruch an Selbstverwirklichung und Erfolg setzt die „neue“ die „alte“ Mittelschicht, deren Angehörige keinen Universitätsabschluss haben und die eher in Kleinstädten leben, unter Druck. Dabei handelt es sich weniger um ein Gefühl, materiell nicht mithalten zu können, als vielmehr um kulturelle Entwertungsgefühle. So muss sie erfahren, dass Fleiß, Disziplin und bestandene Prüfungen als wesentliche Garanten des Erfolgs nicht mehr ausreichen. „Einzigartigkeit“ und „Originalität“ erhöhen die Chancen im Wettbewerb um monetäre und soziale Anerkennung. Das Wertegerüst der „alten“ Mittelschicht basiert dagegen auf Mitte und Maß. Damit war etwas Positives, Allumfassendes, Extreme Vermeidendes, Konsensuales gemeint. Es wurde als die allgemein akzeptierte „Normalität“ angesehen. Die „alte“ Mittelschicht versteht sich als Träger der Standards einer Normalität, „in deren Kern die Kultivierung eines ähnlichen materiellen Lebensstandardsstand“ (vgl. Reckwitz, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.10.2017, S. 46).

 

„Normalarbeitsverhältnisse“, „Normalbiographien“ oder auch Volksparteien sind Ausdruck einer Zeit, die in der Industriegesellschaft durch Standardisierung, Formalisierung und Standards der Normalität vorgeprägt waren. Diese normbildende Gleichheit fand ihren Niederschlag im Wohlfahrtsstaat, in Massenmedien oder der Fernsehkultur. In Zeiten der Verschiedenheit, der Diversity und des Besonderen verlieren Mitte und Maß ihre positive Bedeutung und laufen Gefahr, zum Mittelmaß, zum Durchschnittlichen abqualifiziert zu werden. Damit gerät die „alte“ Mittelschicht, die stärker auf verbindliche kollektive Werte und Standards setzt, in eine kulturelle Defensive. Der Rechtspopulismus ist auch eine Reaktion auf die kulturelle Entwertung der „alten“ Mittelschicht (vgl. Reckwitz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.10.2017, S. 46).

 

 

Suche nach politischen Antworten

 

Auf die Öffnung der neuen, akademisch gebildeten und kosmopolitisch ausgerichteten Mittelschicht hinsichtlich Geschlechternormen, Lebensstilen, individueller Identitäten und Konsumgüter reagieren die Verlierer dieser Entwicklung, die eine kulturelle Entwertung erfahren, mit Schließungstendenzen. Parallel zur kulturellen Öffnung, in deren Mittelpunkt eine Pluralisierung der Lebensformen steht, finden gesellschaftliche Gegenströmungen statt. Das Spektrum reicht vom Erstarken ethnischer und religiöser Partikularinteressen über Neo-Nationalismus bis hin zu Tendenzen des religiösen Fundamentalismus. Es handelt sich zum Teil um gesellschaftliche Gruppierungen, die der Überbetonung pluraler Werte Grenzen setzen wollen, weil sie darin eine Gefährdung von Gemeinwohlinteressen und Zusammenhalt befürchten. Es ist der Versuch, durch das Festhalten an der kollektiven Identität des „Traditionellen“, des „Heimischen“ einer Abwertung zum „Provinziellen“ und „Konformen“ etwas entgegenzusetzen.

 

Die politische Herausforderung besteht heute weniger als noch vor zehn Jahren in Verteilungsfragen als vielmehr in der zunehmenden Bedeutung kultureller Fragen. Das macht es für die Politik keineswegs leichter. Im Gegenteil: Die verstärkte Ausdifferenzierung der Gesellschaft spiegelt sich deutlich im Parteiensystem wider. Aus dem Drei-Parteien-System der Nachkriegszeit ist ein Sechs-Parteien-System geworden, das zu neuen politischen Bündnissen und Abgrenzungen zwingt.

 

Die künftige Frage wird sein, was Politik den erstarkenden (kulturellen) Partikularismen und dem Verlust allgemein verbindlicher Werte und Standards entgegensetzen kann. „Ist es nicht nötig, bei der Vielzahl unterschiedlicher kultureller Communitys kulturelle Mindestregeln für alle verbindlich zu machen?“ (Reckwitz, Die Zeit, 05.10.2017, S. 42).

 

Was heißt ein „neues Austarieren des Besonderen gegenüber dem Allgemeinen“? Die Aufgabe wäre, „in einer globalisierten Welt den Pluralismus mit den Bedürfnissen nach Beständigkeit zu versöhnen. Dabei geht es nicht unbedingt um klassische Geschlechterrollen, homophobe Ressentiments oder gar Fremdenfeindlichkeit. Aber um Kalkulierbarkeit und traditionsfähige Identitätsangebote geht es sehr wohl“ (Nassehi, Der Spiegel, 05.12.2017, S. 144).

 

 

 

 

 

Literatur

 

 

 

Hoffmann, Elisabeth: „Generation Y & Z. Die, die Elternträume wahr machen“, in: Wissenschaft und Praxis, 2016, S. 18–21.

 

 

 

Hurrelmann, Klaus: Die heimlichen Revolutionäre. Wie die Generation Y unsere Welt verändert, Weinheim 2016.

 

 

 

Keller, Heidi: „Multikulturelle Kinderbilder in Deutschland“, in: Christine Henry-Huthmacher, Elisabeth Hoffmann (Hrsg.): Das selbstständige Kind, Sankt Augustin / Berlin 2015, S. 15–18.

 

 

 

Nassehi, Armin: „Arithmetik oder Algebra“, in: Der Spiegel, 09.12.2017, S. 144.

 

 

 

Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2017.

 

 

 

Reckwitz, Andreas: „Die alte und neue Mittelschicht“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 42, 22.10.2017, S. 46.

 

 

 

Reckwitz, Andreas: „Wir Einzigartigen“, in: Die Zeit, Nr. 41, 05.10.2017, S. 42.

 

 

 

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Christine Henry-Huthmacher, geboren 1955 in Saarbrücken, Soziologin, Koordinatorin für Familien- und Frauenpolitik der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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