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Bemerkungen einer Gewerkschafterin

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Leistung, Arbeitsleistung zumal, verbindet sich unmittelbar mit der konkreten Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftswelt, die der arbeitende Mensch vorfindet: Der Sklave, der in Ägypten beim Bau der Pyramiden Steinquader verfrachtete, der Bauer, der mit seinem Ochsen das Feld pflügte, die Weberin, die am heimischen Webstuhl Meter für Meter Leinen produzierte, und die Polsternäherin, die in der Autofabrik der 1960er-Jahre Lederbezüge nähte – sie alle erbrachten ihre Arbeitsleistung unter den Bedingungen und mit den Instrumenten ihrer Zeit. Hinter der Produktivität der Hochleistungslandmaschine, die heute Saatgut- und Düngermischung an die sensorisch erfasste Bodenbeschaffenheit des Feldes computergesteuert anpasst, bleibt die Leistung des Bauern, der sein Feld mit dem Hanomag R 27 bestellte, klar zurück. Verglichen allerdings mit seinem Großvater, der noch mit dem Pferdefuhrwerk unterwegs war, war der Bauer der Nachkriegszeit bereits ein Hochleistungslandwirt.

Mit der Digitalisierung steht die nächste Leistungs- und Produktivitätsrevolution vor der Tür: In der Arbeitswelt 4.0 werden sich in Smart Factories und auf Onlineplattformen disruptive Veränderungsprozesse der Wertschöpfung vollziehen. Leistung 4.0 wird in HITs oder Byte gemessen, Entgrenzung von Arbeitszeit und -ort charakterisiert die Leistungsspezifika der Arbeitswelt 4.0.

Historisch betrachtet gehört es zu den Phasen großer, technologisch bedingter Umbrüche in der Arbeitswelt, dass die Frage neu zu klären ist, wie viel Zeit die Menschen für die Arbeit einsetzen sollen, wer den Takt vorgibt und wer die Anfangs- und Schlusszeiten. Die Fließbänder der Ford-Werke konnten 24 Stunden laufen, den Hochofen herunter- und wieder heraufzufahren war so teuer, dass Schichtarbeit rund um die Uhr durchgesetzt wurde. Der einzelne Arbeitnehmer war machtlos gegen die großen Taktgeber Maschine und Gewinn.

 

Das rechte Maß ist längst überschritten

Mitte und Maß zu finden in der Arbeitswelt 4.0, ist eine der Gestaltungsaufgaben des 21. Jahrhunderts. Die Zunahme von Arbeitsunfähigkeitstagen und Frühverrentungen aufgrund psychischer Erkrankungen deutet darauf hin, dass die Taktung der Arbeitswelt und die Anforderungen an die Arbeitsleistung für einen größer werdenden Teil der Beschäftigten das rechte Maß längst überschreiten.

Die Gestaltung von arbeitsfreien Zeiten, von echten Pausen, in denen uns die Arbeit nicht via Smartphone oder E-Mail wieder einholt, ist zu einer zentralen Herausforderung für all jene geworden, die achtsam mit den Leistungsträgern des postindustriellen Zeitalters umgehen wollen. Der Blick wendet sich von der Regulierung der Arbeitszeit hin zu einer verlässlichen Regelung der freien Zeiten. Der Schutz der Pause wird zum Arbeitsschutzthema Nummer eins.

 

Manna für den siebten Tag

Die Zehn Gebote kannten diese Blickrichtung bereits: Als die Israeliten auf dem Weg aus Ägypten ins verheißene Land zurückschauten, in das Land, in dem sie als Sklaven gearbeitet hatten, erinnerten sie sich an Milch und Honig und an Arbeiten ohne Pause und Rast. Als Alternative zu dieser Ökonomie der Ausbeutung (von Mensch und Natur) bietet Jahwe mit seinen Zehn Geboten die „Ökonomie des Sabbats“ an, eine Ökonomie von Mitte und Maß. Das Manna, das am sechsten Tag gesammelt wird, reicht auch für den siebten Tag, an dem Mann und Frau, Sohn und Tochter, Sklave und Sklavin, Ochs und Esel ruhen. Sie alle sind gehalten, ihre Leistungsfähigkeit nicht bis zum letzten Blutstropfen auszureizen. Jeder siebte Tag ein Tag der Ruhe. Ein Tag der Pause. Ein Tag wider die Versklavung der gesamten Lebenszeit.

Die Weisheit der Sabbat-Ökonomie neu zu entdecken, heißt, mit der Heiligung des arbeitsfreien Sonntags zugleich unvernutzte Zeiten im Alltag zu verteidigen. Maß und Mitte zu gestalten in volatilen Erwerbsverläufen und komplexen Wirtschaftszusammenhängen, ist eine unschätzbare kulturelle Verständigung; Mitte und Maß zu finden, kann – auch in der Arbeitswelt 4.0 – nicht dem freien Spiel des Wettbewerbs überlassen werden.

 

Eva Maria Welskop-Deffaa, geboren 1959 in Duisburg, Bundesvorstandsmitglied der Gewerkschaft ver.di, bis 2013 Sprecherin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken für den Sachbereich „Gesellschaftliche Grundfragen“.

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