Seit 1982 erfasst der „Studierendensurvey“ nicht nur die Erfahrungen der Studierenden an den Hochschulen und im Studium, sondern ebenso deren gesellschaftlich-politische Orientierungen. Alle drei Jahre werden bundesweit an Universitäten und Fachhochschulen etwa 8.000 Studierende befragt, die eine repräsentative Auswahl der deutschen Studentenschaft darstellen. Im Wintersemester 2012/13 erfolgt bereits der 12. Studierendensurvey, womit eine beträchtliche Zeitreihe von elf Messzeitpunkten vorliegt (1982 bis 2010).
Der Studierendensurvey ermöglicht, Trends und Veränderungen zu erkennen, auch hinsichtlich der politischen Beteiligung, der Meinungsbildung, der politischen Ziele bis hin zu den demokratischen Einstellungen und Grundwerten, welche die Studierenden vertreten. Die Untersuchungsreihe wird gefördert vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (BMBF); durchgeführt wird der Survey von der AG Hochschulforschung an der Universität Konstanz.
Interesse und Beteiligung
Auffälligster Zug dieser Studierendengeneration ist das geringe Interesse an politischen Fragen und am politischen Handeln. Die Anteilnahme am politischen Geschehen geht bei den Studierenden, nach ihrer eigenen Auskunft, seit einigen Jahren zurück: von 54 Prozent politisch sehr stark Interessierter (1983) über 46 Prozent nach der Wiedervereinigung (1993) bis auf zuletzt 37 Prozent (2010). Die studentische Zurückhaltung betrifft auch die Mitwirkung an den Hochschulen, sei es in den Fachschaften oder in politischen Aktionsgruppen. Die Beteiligung an den dortigen Gruppen und Gremien hat sich im Laufe der Jahre abgeschwächt. Selbst in den Fachschaften, einst sozialer Kristallisationspunkt für viele, sind heute weniger Studierende aktiv. Die Arbeit der studentischen Vertretung interessiert die Hälfte der Kommilitonen überhaupt nicht. Interesse und Beteiligung an informellen Aktionsgruppen ist von 62 Prozent (1985) auf 43 Prozent (2010) gefallen.
Aber die Familie, Eltern und Geschwister, sind erstaunlich stark in der studentischen Wertschätzung gestiegen. In den 1980er-Jahren waren für 46 Prozent der Studierenden die Eltern und Geschwister sehr wichtig, dann erhöhte sich deren Stellenwert stetig, und 2010 hat dieser Anteil beachtliche 73 Prozent erreicht. Die Zunahme kann als ein Ausweis für den Rückzug in den privaten Kreis angesehen werden, um dort Zugehörigkeit und Sicherheit zu gewinnen.
Grundwerte. Freundschaft, Friede, Freiheit
In Übereinstimmung mit dieser Haltung stehen die Werte, die die Studierenden betonen. Die größte Wertschätzung erhalten drei Grundwerte. Die Freundschaft, also gute Fre- undinnen und Fre- unde zu haben, und der Friede (kein Krieg, keine Gewalt) stufen fast drei Viertel der Studierenden als sehr wichtig ein. Ähnlich hoch geschätzt folgt als Grundwert die persönliche Freiheit, also unabhängig und entscheidungsfrei zu sein; zwei Drittel der Studierenden vertreten diesen Wert ganz vehement.
Stützen der gesellschaftlichen Bindung wie Religion und Nation sind dieser Studentengeneration fast völlig verloren gegangen. Der Grundwert von „Religiosität“, gefasst als Glaube an Erlösung, ist für sieben Prozent besonders wichtig; auf der anderen Seite verneinen 36 Prozent ganz entschieden, Religion und Glaube würde ihnen etwas bedeuten. Die Nationalität, gemeint als nationale Stärke und Behauptung, stellt für nur drei Prozent einen besonderen Wert dar; aber 85 Prozent der deutschen Studierenden wollen davon nichts wissen. Für „nationalistische Parolen“ klassischer Art ist diese Studentengeneration offenbar nicht zu haben.
Es kennzeichnet die studentische Haltung demnach, keine fertigen Muster übernehmen zu wollen, sondern sich selektiv und wenig verbindlich für Werte zu entscheiden, zudem sind diese nicht mehr als Ausweis einer festen Zugehörigkeit zu verstehen. Die Studierenden, heute noch mehr als früher, entziehen sich weitgehend vorgegebenen, langfristigen Bindungen und Bekenntnissen, sie vermeiden Beitritt und Zugehörigkeit zu Organisationen.
Meinungsbildung und politische Konzepte
In viel höherem Umfang antworten die heutigen Studierenden bei Fragen zu Urteilen und Zielen mit „weiß nicht“, „kann ich nicht sagen“ oder sie wählen häufiger eine mittlere Position. Solche Antworten werden entweder aus Desinteresse oder aus Unkenntnis gewählt. Sie signalisieren „Meinungslosigkeit“: Das Bemühen um politische Meinungsbildung ist unter den Studierenden geringer geworden. Entschiedene Standpunkte werden seltener eingenommen und vehemente Stellungnahmen weniger öffentlich vertreten. Sie finden oder wollen keine „Gewissheiten“.
Für die studentische Enthaltsamkeit ist auch verantwortlich, dass sie sich weithin darüber im Unklaren sind, wie die gesellschaftliche Entwicklung weitergehen soll und für was sie sich einsetzen könnten. Diese Verunsicherung wird bei den Fragen nach ihren politischen Zielen ersichtlich. So wird die „Sicherung der freien Marktwirtschaft“, die früher 58 Prozent vehement befürwortet haben, nur noch von 38 Prozent der Studierenden in starkem Maße unterstützt, ohne dass diese Zurückhaltung durch andere Konzepte aufgefangen würde. Auf theoretische Diskussionen und neuartige Konzepte, gar alternative Entwürfe lassen sich die Studierenden ungern ein. Sie bleiben Versammlungen und Veranstaltungen mit politischer Thematik und Debatte eher fern. Sich während der Studienzeit auf das Motto „Anders leben“ einzulassen, bleibt für die meisten jenseits des Vorstellungshorizontes. Das Konzept des „Alternativen“ ist den Studierenden abhandengekommen, hat sich in Unverständnis aufgelöst. Noch in den 1980er-Jahren bildete es ein Überzeugungsbündel: Ausstieg aus den beruflichen Zwängen, Widerstand gegen die Leistungsgesellschaft, Vorrang der autonomen Selbstverwirklichung und Versuch neuer Lebensentwürfe.
Ideale, noch mehr Visionen sind den Studierenden heute weithin fremd, jedenfalls weit mehr als früheren Studentengenerationen. Sie richten sich in der Rolle des Kunden ein, verlieren damit aber an Verantwortung und Gestaltungsmöglichkeiten. Anforderungen und Regularien werden ernster genommen und gelten als verbindlicher. Die Studierenden bemühen sich häufiger, ihnen zu folgen, um erfolgreich zu sein; sie sind zugleich aber besorgter, ob ihre Anstrengungen belohnt werden. Es ist weniger ein überzeugter „Pragmatismus“, den die Studierenden vertreten, sondern vielmehr ein „Sich-durchschlagen“ – mit ungewissem Ausgang.
Außerdem bremst ihre geringe Solidarität ein stärkeres Einlassen auf gesellschaftliche Probleme oder das Eintreten für andere. Diese nachlassende Solidarität zeigt sich beispielhaft in der Haltung gegenüber Entwicklungsländern. Deren Unterstützung gilt den Studierenden deutlich seltener als sehr wichtig: 1985 waren noch 49 Prozent entschieden dafür, 1993 dann 38 Prozent, und 2010 sind nur 30 Prozent der Studierenden davon überzeugt. Nur bei eigener Betroffenheit regt sich stärkerer Protest, der aber punktuell bleibt. Er erweist sich durchweg als „Strohfeuer“, weil er nicht konzeptuell eingebunden ist; die „Macht- oder Systemfrage“ wird schon gar nicht gestellt.
Demokratische Einstellungen
Zwei Kernstücke demokratischer Prinzipien werden von den Studierenden weiterhin entschieden, nahezu einvernehmlich vertreten: zum einen die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit und zum anderen der Verzicht auf Gewalt bei politischen Konflikten. Aber die Voten für Interessengruppen oder für eine kritische Oppositionsfunktion sind stark zurückgegangen. Die Elemente einer pluralistischen und kontroversen Demokratie werden viel seltener befürwortet, und zwar mit einer ersten Meinungsverschiebung nach der Wiedervereinigung, aber noch stärker im neuen Jahrtausend. Die demokratischen Haltungen der Studierenden waren Ende der 1990er-Jahre weit gefestigter, als sie sich im neuen Jahrtausend entwickelt haben. Sie zeigen mehr Uneindeutigkeiten und manche Distanzierung gegenüber wichtigen demokratischen Prinzipien. Insofern scheint die pluralistische Demokratie für mehr und mehr Studierende nicht mehr eine Errungenschaft darzustellen, zu der sie fest stehen.
Insgesamt sind die Studierenden, nimmt man alle Stellungnahmen zusammen, häufiger als „instabile Demokraten“ und weniger als „sattelfeste Demokraten“, wie noch gegen Ende der 1990er-Jahre, einzustufen. Der Anteil dieser überzeugten Demokraten hat sich von 71 Prozent auf 48 Prozent stark verringert, sie bilden nicht mehr die Mehrheit. Die Gruppe „instabiler Demokraten“ hat sich dagegen von 23 Prozent auf 39 Prozent erhöht, und auch der Kreis Studierender, die den demokratischen Prinzipien „distanziert-ablehnend“ gegenüberstehen, ist von acht Prozent auf vierzehn Prozent gewachsen.
Angst vor Misserfolg und Kontrollverlust
Obwohl die Studierenden gegenwärtig den Übergang in den Beruf überwiegend optimistisch sehen und ihre Belastung wegen schlechter Berufsaussichten deutlich geringer geworden ist, bleibt der Blick auf den Arbeitsmarkt von Unsicherheit bestimmt, vor allem, was seine längerfristige Entwicklung angeht.
Offenbar wird seinen Konjunkturen nicht getraut, denn an den Universitäten, noch mehr an den Fachhochschulen, steht der Wunsch nach besseren Arbeitsmarktchancen an vorderer Stelle der Liste, wenn nach der Verbesserung der Studienbedingungen gefragt wird.
Der Blick auf die gesellschaftliche Zukunft ist bei den Studierenden weniger von Optimismus oder Erfolgszuversicht bestimmt, vielmehr sind häufig Ängste und Sorgen vorhanden. Hinsichtlich der Aufstiegschancen erwartet über die Hälfte der Studierenden (56 Prozent) eher eine Verschlechterung. Außerdem betrachten sie die Aussichten für eine Verwirklichung des Leistungsprinzips überwiegend skeptisch. Vielen erscheint es in der Gesellschaft zu wenig realisiert. Das wiegt umso schwerer, als sie sich selbst vermehrt um Effizienz bemühen und den gestellten Anforderungen genügen wollen.
Bei dieser Studentengeneration scheint die Angst vor Misserfolg größer; die Hoffnung auf Erfolg bleibt wie gelähmt. So ist die Sorge, das Studium nicht zu bewältigen, stark angestiegen, was zu erhöhtem Stress im Studium geführt hat. Befürchtungen, trotz aller eigenen Anstrengung letztlich zu den Verlierern zu gehören, haben sich in vielen studentischen Köpfen festgesetzt – im Hinblick auf den weltweiten Wettbewerb wie in der individuellen beruflichen Perspektive. Sie gewinnen den Eindruck, dass sie ihren beruflichen Weg – ebenso wenig wie die politischen Verhältnisse und Entscheidungen – ohnehin nicht oder zu wenig beeinflussen können.
„Zwei Seelen in der Brust“
Die Studierenden sind in ihren Werthaltungen weder homogen noch lassen sie sich einfach über einen Kamm scheren. Spannungen und Widersprüchlichkeiten kommen in den Stellungnahmen immer wieder vor. In der „Brust“ des einzelnen Studierenden sind viel häufiger als früher „zwei Seelen“ miteinander vereinbar, was auch als Uneindeutigkeit erscheinen kann. Die Vereinbarkeit von scheinbar Gegensätzlichem zeigt sich auffällig bei den Motiven und Kriterien: Idealistische und materielle Komponenten werden häufiger gleichzeitig vertreten, etwa idealistisch zur Verbesserung der Gesellschaft beitragen zu wollen und materiell auf Einkommen und Karriere zu achten.
Was vordem den Studierenden als unvereinbarer Gegensatz erschien, das erleben sie heute kaum als Widerspruch. Mehr und mehr Studierende vertreten Aspekte des Nützlichkeitsdenkens, aber sie zeigen zugleich auch mehr private Zuwendung, die bis zur Hilfsbereitschaft reicht. Sie halten zwar weniger von sozialer Solidarität, kümmern sich aber mehr um Familie und Freundschaft, das heißt um ein umgängliches Miteinander.
Diese Entwicklungen laufen darauf hinaus, dass zum einen weniger „ideologische Konflikte“ zwischen studentischen Gruppierungen auftreten und kaum noch Kämpfe ausgefochten werden. Das zeigt sich auch darin, dass unter den Studierenden weniger Vertreter von „ausgeprägten Meinungsprofilen“ anzutreffen sind, die andere überzeugen oder mitreißen wollen. Im Zusammenspiel dieser beiden Elemente stellt sich als Nebeneffekt heraus: Die Studierenden lassen sich viel schwerer organisieren, für Versammlungen gewinnen oder zu gemeinsamen Aktionen bewegen.
Kennzeichen der Studierenden heute
Für die politischen und gesellschaftlichen Orientierungen der gegenwärtigen Studentengeneration erscheinen drei Grundzüge bestimmend und auffällig: zum Ersten das Fehlen von festen Überzeugungen und Gewissheiten, zweitens das geringe politische Interesse und öffentliche Engagement und drittens letztlich die Angst vor Misserfolg. Damit ist gemeint, dass sie sich auf Bindungen und Festlegungen weniger einlassen, Verantwortlichkeiten vermeiden und zugleich mehr Sorgen haben und Stress empfinden. Was als Kennzeichen der Studierendengeneration 2012 bei aller Ambivalenz und Vorsicht beschrieben werden kann, bewegt sich zwischen „ratlos und unsicher“ oder „besorgt und ängstlich“, aber auch „nüchtern und farblos“ oder „gleichgültig und beliebig“ mögen zutreffend sein.
Diese Haltungen können als Ausdruck von gesellschaftlichen und sozialen Verhältnissen verstanden werden, in denen durchaus akzeptierte Werte und Ziele mit den eigenen Mitteln und Ressourcen immer weniger erreichbar und erfüllbar erscheinen. Es herrscht die Ansicht vor, sich in undurchschaubaren Zusammenhängen zu bewegen. Eine „Brücke in die Zukunft“ – für Studierende zentral – ist nicht zu sehen oder endet im dichten Nebel. Dies ist mit dem Eindruck verbunden, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren, durch die eigene Anstrengung und Leistung den eigenen Lebensweg immer weniger steuern zu können.
Literatur
Bargel, Tino (2008): Wandel politischer Orientierungen und gesellschaftlicher Werte der Studierenden. Studierendensurvey: Entwicklungen zwischen 1983 und 2007, Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Bonn/Berlin.
Bargel, Tino / Simeaner, Heinz (2011): Gesellschaftliche Werte und politische Orientierungen der Studierenden. Online-Erhebung im Rahmen des Studierendensurveys 2010, Hefte zur Bildungs- und Hochschulforschung 63, AG Hochschulforschung, Universität Konstanz.
Ramm, Michael / Multrus, Frank / Bargel, Tino (2011): Studiensituation und studentische Orientierungen. 11. Studierendensurvey an Universitäten und Fachhochschulen. Langfassung, Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Bonn/Berlin.
Tino E. Bargel, geboren 1943 in Krakau, Soziologe und Bildungsforscher, ehemals Koleiter der Arbeitsgruppe Hochschulforschung, Universität Konstanz, und des Studierendensurveys.