Asset-Herausgeber

Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland

von Stefan Marx

Versöhnung als Leitmotiv

Als Anfang Juni 2015 auf dem Evangelischen Kirchentag in Stuttgart namhafte Theologen und frühere DDR-Bürgerrechtler vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise eine Initiative für eine neue Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland starten, nehmen sie explizit Bezug auf ein Dokument, das am 1. Oktober 1965 unter dem Titel „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ erscheint und zur „wichtigsten politisch-ethischen Äußerung der Evangelischen Kirche in der Nachkriegszeit“ (Richard von Weizsäcker) wird.

Asset-Herausgeber

Denkschriften der EKD – kirchliche Äußerungen zu öffentlichen Fragen

Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sind „kirchliche Äußerungen zu Fragen von politischer Erheblichkeit“ (Ludwig Raiser). Evangelische Stellungnahmen zu sozialen und politischen Gegenwartsfragen gibt es seit der Reformation. Doch erst mit der Gründung des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes im Jahre 1922 entwickelt sich eine Kontinuität kirchlicher Stellungnahmen zu sozialen und politischen Fragen, die nicht nur von einzelnen kirchlichen Gruppen, sondern auch mit der Autorität einer gesamtkirchlichen Institution abgegeben werden. Es bedarf der Erfahrung des nationalsozialistischen Kirchenkampfes, bis der deutsche Protestantismus einen Wandel in seinem Selbstverständnis als Staatskirche vollzieht und eine kritische Distanz zum Staat findet. Sie findet ihren Ausdruck in der Verabschiedung der Theologischen Erklärung von Barmen durch die Synode der Bekennenden Kirche am 31. Mai 1934. Seit Anfang der 1960er Jahre meldet sich die EKD zunehmend in der Form von Denkschriften zu aktuellen Fragen zu Wort. Sie stellen Antworten auf eine gesellschaftliche und innerkirchliche Spannungssituation dar, im Falle der Ostdenkschrift ausgelöst durch das Tübinger Memorandum vom 6. November 1961, das im Februar 1962 durch eine Indiskretion in der Wochenzeitung „Die Zeit“ veröffentlicht wird.

 

„Mehr Wahrheit in der Politik!“ – das Tübinger Memorandum von 1961

Vor dem Hintergrund sich abzeichnender grundlegender Wandlungen in der Innen- und Außenpolitik – das Ende der Ära Adenauer ist nach der Bundestagswahl 1961 unwiderruflich angebrochen, die von dem neuen amerikanischen Präsidenten Kennedy eingeleitete Entspannungspolitik hat Konsequenzen für die Behandlung der deutschen Frage in der internationalen Politik – legen acht bekannte protestantische Persönlichkeiten unter dem Titel „Mehr Wahrheit in die Politik!“ ein Memorandum vor, in dem sie mit der politischen Klasse in der Bundesrepublik hart ins Gericht gehen. Zu den Verfassern zählen unter anderem der Philosoph und Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker, der Tübinger Rechtsprofessor und Vorsitzende des Wissenschaftsrates Ludwig Raiser, der Intendant des Westdeutschen Rundfunks Klaus von Bismarck und der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland Joachim Beckmann. „Wir können keine der politischen Parteien von dem Vorwurf freisprechen“, kritisieren die Verfasser des Memorandums, „dass sie dem Volk die Wahrheit, die es wissen muss, vielfach vorenthalten und statt dessen gesagt haben, wovon sie meinten, dass man es gern hört.“

 

Plädoyer für eine aktive Außenpolitik

Dabei nehmen sie Stellung zu verschiedenen Fragen der Innen- und Außenpolitik, die sie mit fünf konkreten Forderungen an die politisch Handelnden in Bonn verbinden. Die öffentliche Diskussion über das Tübinger Memorandum konzentriert sich auf die Thesen zur Außenpolitik, mit denen sich deren Verfasser auf ein innen- wie außenpolitisches Minenfeld begeben.

Das Memorandum sieht die deutsche Außenpolitik in der Defensive. Ihre Position in der internationalen Politik sei dadurch geschwächt, „dass wir an Ansprüchen festgehalten haben, die auch bei unseren Verbündeten keine Zustimmung finden“. Die Verfasser des Memorandums sehen „unser nationales Anliegen der Wiedervereinigung“ belastet, wenn es weiterhin mit der Forderung nach Wiederherstellung der Grenzen von 1937 verknüpft werde. Deshalb sind sie davon überzeugt, „dass wir den Souveränitätsanspruch auf die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie werden verloren geben müssen“. Die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutsche Ost- und damit polnische Westgrenze bezeichnet das Memorandum als Voraussetzung für die Normalisierung der politischen Beziehungen zu den östlichen Nachbarn, insbesondere zu Polen, ohne die wiederum „eine dauerhafte Lösung der Grundprobleme der deutschen Politik nicht denkbar“ sei.

 

Reaktionen im politischen Bonn und innerkirchliche Diskussionen

Das Tübinger Memorandum dient als Vorlage für interne Gespräche mit evangelischen Abgeordneten der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien, die Bischof Hermann Kunst, der Bevollmächtigte der EKD am Sitz der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, moderiert. Als Auszüge des Memorandums publiziert werden, entschließen sich deren Verfasser zur Veröffentlichung des vollständigen Textes. Die Reaktionen im politischen Bonn entsprechen den Erwartungen, ja den Befürchtungen der Verfasser, wie sie sie in dem Memorandum bereits formuliert haben. „Wir glauben zu wissen“, heißt es darin, „dass politisch verantwortliche Kreise aller Parteien die von uns ausgesprochene Ansicht teilen; aber aus innenpolitischen Rücksichten scheuen sie sich, die Erkenntnis, die sie gewonnen haben, öffentlich auszusprechen.“ In offiziellen Stellungnahmen spricht sich denn auch keine der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze  aus, obgleich es in allen Parteien Stimmen gibt, die ihre Unzufriedenheit mit der Ostpolitik der Bundesregierung äußern und auf eine Normalisierung der Beziehungen zu den Staaten Osteuropas dringen bis zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen.

Innerkirchlich hat die Veröffentlichung des Tübinger Memorandums weitreichende Folgen. Der seit längerem schwelende Konflikt in der Evangelischen Kirche um die deutsche Ostpolitik bricht offen aus. Das „innerkirchliche ‚agree to disagree‛“ (Thomas E. Heck) funktioniert nicht mehr. Der Rat der EKD kann sich nicht damit begnügen, das Memorandum zu einer privaten Arbeit der Verfasser zu erklären, sondern muss inhaltlich Stellung  zu den grundlegenden Fragen der deutschen Ostpolitik nehmen.

 

Ein Beitrag zur Versachlichung der Diskussion – die Ostdenkschrift der EKD von 1965

Im Spätherbst 1962 fasst der Rat der EKD den Beschluss, die Kammer für öffentliche Verantwortung mit der Erstellung eines Gutachtens zu den Fragen der deutschen Ostpolitik zu beauftragen. Diese Entscheidung ist innerkirchlich nicht unumstritten, da ihr Ludwig Raiser vorsitzt. Dass damit das Gutachten ostpolitisch nur auf der Linie des Tübinger Memorandums liegen könne, schließt die personelle Zusammensetzung dieses Gremiums aus. Hinsichtlich der Vertreter der politischen Parteien fällt auf, dass die SPD und die FDP mit jeweils nur einem Mitglied vertreten sind, während die CDU gleich vier Vertreter entsendet, unter ihnen Bundesministerin Elisabeth Schwarzhaupt und der schleswig-holsteinische Kultusminister Edo Osterloh.

 

Aufbau und Inhalt

Nach intensiven Beratungen, in deren Verlauf alle kirchenpolitischen Gruppen zu Wort kommen, kann die Kammer für öffentliche Verantwortung im August 1965 das Gutachten in Form einer Denkschrift vorlegen, die den Titel „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis zu seinen östlichen Nachbarn“ trägt. In dem Titel spiegelt sich das Anliegen ihrer Verfasser wider, mit Fragen zur Eingliederung der Vertriebenen in die Gesellschaft der Bundesrepublik und dem Verhältnis Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn ein innergesellschaftliches Problem mit einem Problem der internationalen Politik zu verknüpfen. Die Denkschrift umfasst 44 Seiten, die in sechs Kapitel gegliedert sind.

 

Zur Integration der Vertriebenen in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland

Nach einem problemorientierten Einstieg in das Thema widmet sie sich in ihrem zweiten Kapitel mit sehr viel Verständnis für die Lage der Vertriebenen Fragen zu deren Integration in die Gesellschaft der Bundesrepublik. Dieser Prozess wird als noch nicht abgeschlossen bezeichnet. Das deutsche Volk stehe noch immer vor der „Aufgabe, zu einer neuen Gemeinschaft aus Einheimischen und Vertriebenen zusammenzuwachsen“. Dies gelte trotz Erfolgen auch für den Bereich der Kirchen. Eine ausführliche Darstellung „zur gegenwärtigen Lage in den Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Linie“ folgt in dem dritten Kapitel.

 

Völkerrechtliche Aspekte

Zur „Nüchternheit in der politischen Verwendung völkerrechtlicher Argumente“ mahnt die Denkschrift in dem vierten Kapitel, das das Verhältnis zwischen Recht und Politik behandelt. Die Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten stelle einen Verstoß „gegen völkerrechtliche Verbote“ dar. Dieses Unrecht dürfe die deutsche Seite aber nicht zu Denkweisen veranlassen, „dass nur eine volle Wiederherstellung des früheren Zustandes dem verletzten Recht Genüge tue“. Das deutsche Volk müsse sich vielmehr die Frage gefallen lassen, „ob es sich nur dem Gefühl verletzten eigenen Rechtes hingeben darf und will“. Erinnert wird an dieser Stelle an „die leidvolle Geschichte deutscher Unterdrückungsmaßnahmen gegenüber dem immer wieder seiner politischen Selbständigkeit beraubten polnischen Volk“, die unausweichlich zu der Frage führe, „ob sich daraus nicht politische, vielleicht aber auch völkerrechtliche Einwendungen gegen einen deutschen Anspruch auf unverminderte Wiederherstellung seines früheren Staatsgebietes ergeben“. Solche Einwendungen könnten sich auch durch die Fakten ergeben, die seit 1945 in den deutschen Ostgebieten geschaffen worden seien. Die Denkschrift bezeichnet „eine volle Wiederherstellung alten Besitzstandes“, die in den ersten Nachkriegsjahren noch möglich gewesen wäre, zwanzig Jahre später als unmöglich, „wenn sie Polen jetzt in seiner Existenz bedrohen würde, die Deutschland nach dem Gesagten zu respektieren hat“. Letztlich ist – und das ist die Kernaussage dieses völkerrechtlichen Kapitels – der Grenz- und Gebietskonflikt in den deutsch-polnischen Beziehungen in einer rein rechtlichen Auseinandersetzung nicht zu lösen. Im Gegenteil, die rechtlichen Positionen begrenzten sich gegenseitig: „Recht steht gegen Recht oder – noch deutlicher – Unrecht gegen Unrecht. (…) Daher gilt es, einen Ausgleich zu suchen, der eine neue Ordnung zwischen Deutschen und Polen herstellt. Damit wird nicht gerechtfertigt, was in der Vergangenheit geschehen ist, aber das friedliche Zusammenleben beider Völker für die Zukunft ermöglicht.“

 

Theologische und ethische Gesichtspunkte

Die Fragen des Heimatrechts und der deutschen Ostgrenze werden in dem folgenden fünften Kapitel unter theologischen und ethischen Gesichtspunkten analysiert. Ausführlich wird die theologische Diskussion zu diesen beiden Fragen innerhalb der EKD dargestellt. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Denkschrift grundlegend von dem Tübinger Memorandum, deren Verfasser rein politisch argumentieren. Unter theologischen und ethischen Gesichtspunkten widerrät die Denkschrift „schon aus Vernunft und Lebenserfahrung einer Übersteigerung (…), die die Heimat in den Rang eines höchsten Lebenswertes erhebt und ihr einen pseudoreligiösen Charakter verleiht“. Die theologischen Elemente des Heimatbegriffs könnten nicht dazu dienen, „ein unabdingbares Recht des Menschen auf seine, auf die Heimat“ zu begründen. Ebenso wenig sei es möglich, „die mit dem Heimatrecht verbundenen politischen Ansprüche“ mit theologischen Begründungen zum Heimatverständnis erklären zu wollen. Schließlich könne nicht das Unrecht der Vertreibung aus der angestammten Heimat beklagt werden, ohne die Frage nach der Schuld zu stellen. Es wird an das Deutsche Reich als den Urheber des Zweiten Weltkrieges erinnert. Deshalb seien auch die Vertreibung und das Schicksal der deutschen Ostgebiete als „ein Teil des schweren Unglücks“ zu verstehen, „das das deutsche Volk schuldhaft über sich selbst und andere Völker gebracht hat“. Doch stehe Deutschland mit seiner Schuld und Verantwortung nicht allein da, vielmehr gebe es „eine Schuldverflechtung der Völker“. Vor diesem Hintergrund wird eine Chance zur Versöhnung gesehen, wie es zusammenfassend in dem fünften Kapitel heißt: „Die ethischen Erwägungen führen zu der notwendigen Konsequenz, in klarer Erkenntnis der gegenseitigen Schuld und ohne Sanktionierung von Unrecht, das nicht sanktioniert werden darf, das Verhältnis der Völker, namentlich das zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk, neu zu ordnen und dabei Begriff und Sache der Versöhnung auch in das politische Handeln als einen unentbehrlichen Faktor einzuführen.“

 

Die deutschen Ostgrenzen als politische Aufgabe – Schlussfolgerungen

Was aus der Untersuchung zur Lage der Vertriebenen und in den Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Linie sowie den völkerrechtlichen, theologischen und ethischen Erwägungen folgt, wird in dem abschließenden Kapitel unter der Überschrift „Die deutschen Ostgrenzen als politische Aufgabe“ dargestellt. Die Denkschrift enthält keine konkreten politischen Handlungsanweisungen. Die Verfasser erheben nicht den Anspruch, mit dieser Ausarbeitung Politik machen zu wollen, auch wenn ein Plädoyer für die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutsche Ostgrenze herauszuhören ist. Ziel soll es sein, der Politik neue Wege aufzuzeigen; im konkreten Fall durch die rechtlichen, ethischen und theologischen Erwägungen „eine neue Bewegung in die politischen Vorstellungen des deutschen Volkes hineinzubringen und auch den Nachbarn im Osten einen Dialog auf neuer Ebene anzubieten“.

 

Zustimmung des Rates der EKD

Die Veröffentlichung der Denkschrift erfolgt „mit Zustimmung des Rates der EKD“, wie ihr Ratsvorsitzender Präses Kurt Scharf in dem Vorwort unterstreicht. Damit hat sie den Charakter einer offiziellen kirchlichen Verlautbarung, mit der die Kirche sich aber „nicht an die Stelle der zum politischen Handeln Berufenen setzen“ will, aber hofft, „einen Beitrag zur Versachlichung der Diskussion und zur Urteilsbildung zu leisten, einige der bestehenden Spannungen zu beseitigen und damit die Wege zum politischen Handeln zu ebnen“. Das Vorwort des Ratsvorsitzenden der EKD trägt das Datum vom 1. Oktober 1965. An diesem Tag werden die gedruckten Texte den kirchlichen Stellen und der Presse übergeben. Wegen der noch laufenden Verhandlungen zur Bildung der neuen Bundesregierung nach der Bundestagswahl vom 19. September 1965 unterliegen die der Presse übergebenen Exemplare einer Sperrfrist bis zum 20. Oktober 1965.

 

Reaktionen der Vertriebenen – Verbände und kirchliche Gruppen

Auf die Regierungsbildung in Bonn versucht der CDU-Vertriebenenpolitiker Herbert Czaja Einfluss zu nehmen, als er am 14. Oktober 1965 unter Missachtung der Sperrfrist in der katholischen Wochenzeitung „Echo der Zeit“ Auszüge der Denkschrift publiziert, verbunden mit Angriffen gegen Außenminister Gerhard Schröder, der mit seiner „Politik der Bewegung“ für eine vorsichtige ostpolitische Öffnung steht. Daraufhin gibt die Kirchenkanzlei am folgenden Tag den vollständigen Text zur Veröffentlichung frei. Die Reaktionen auf die Veröffentlichung der Denkschrift reichen „von freudiger Zustimmung bis zu hasserfüllter Ablehnung“ (Martin Greschat). Etwa zwei Drittel der Äußerungen sind zustimmend, während in ungefähr ein Drittel der Stellungnahmen eine schroffe Ablehnung der Denkschrift zum Ausdruck kommt. Die schärfste Kritik kommt von den Vertriebenenverbänden, die „mit großer Bestürzung“ reagieren, von einem „Missbrauch der kirchlichen Autorität“ sprechen und eine Missachtung des „Ziel(s) der deutschen Wiedervereinigung“ beklagen. Auch die kirchenpolitischen Gruppen der Vertriebenen melden sich zu Wort, doch sind deren Stellungnahmen nicht von dieser Schärfe wie das Urteil der Vertriebenenverbände. Die innerkirchliche Diskussion über die Denkschrift führt im März 1966 zur Durchführung einer Sondersynode der EKD in Berlin-Spandau, auf der sie inhaltlich bestätigt wird. „Die Aufgabe der Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn ist allen Deutschen gestellt“, lautet die Kernaussage der Synodalerklärung. Zugleich ist die Synode bemüht, auf die Kritik der Vertriebenen einzugehen und durch einige Ergänzungen und Klarstellungen den Konflikt zu entschärfen. So werde „das Wort von der Versöhnung“ falsch verstanden, „wenn aus ihm die Zumutung an das deutsche Volk herausgehört wird, ohnmächtig zu resignieren“. Auch wird betont, dass die Vertreibung „unser ganzes Volk“ angehe und „weit mehr als nur ein vielen einzelnen zugefügtes Leid“ darstelle. Schließlich nimmt die Synode Bezug auf das Einladungsschreiben der katholischen Bischöfe Polens an ihre deutschen Amtsbrüder zu den polnischen Millenniumsfeiern vom 18. November 1965, in dem Vergebung für deutsche Schuld gewährt und um Vergebung für polnische Schuld gebeten wird. Das Angebot zur Versöhnung mit Deutschland ist „eine unmittelbare Antwort auf die evangelische Denkschrift“ (Wolfgang Huber). In dem zitierten Schreiben heißt es unter anderem: „Überbringen Sie auch, wir bitten Sie darum, unsere Grüße und unseren Dank den deutschen evangelischen Brüdern, die sich mit uns und mit ihnen abmühen, Lösungen für unsere Schwierigkeiten zu finden.“

 

Zustimmende Stellungnahmen von SPD und FDP

Das Urteil über die Denkschrift im politischen Bonn fällt differenziert aus. Einhellig ist die Ablehnung bei den Vertriebenenpolitikern aller im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien. Bei SPD und FDP stößt die Denkschrift auf viel Verständnis. In beiden Parteien hat nach dem Mauerbau „ein ost- und deutschlandpolitischer Umdenkungsprozess“ (Thomas E. Heck) begonnen. Bei den Freien Demokraten wird über eine Akzeptanz der deutschen Ostgrenzen bis zu einer friedensvertraglichen Regelung und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten diskutiert, führende Sozialdemokraten wie Helmut Schmidt und Fritz Erler plädieren für eine ostpolitische Öffnung als Beitrag zur Entspannungspolitik, und Egon Bahr propagiert in seiner berühmt gewordenen Rede in Tutzing im Juli 1963 den „Wandel durch Annäherung“. Die offiziellen Stellungnahmen der beiden Parteien lassen eine Zustimmung zu den Anliegen der Denkschrift erkennen, die aber vorsichtig formuliert ist. Bei der FDP gilt es, Rücksicht gegenüber dem Koalitionspartner in Bonn zu nehmen, und die SPD muss darauf achten, die Vertriebenenpolitiker in ihren Reihen – mit Wenzel Jaksch und Reinhold Rehs sitzen der Präsident des Bundes der Vertriebenen und sein Stellvertreter für die Partei im Deutschen Bundestag – nicht zu verprellen.

 

Zwischen schroffer Ablehnung und großer Sympathie – Reaktionen aus den Unionsparteien

Die Reaktionen von CDU und CSU auf die Denkschrift sind vor dem Hintergrund des außenpolitischen Grundsatzstreites zu sehen, der in den Unionsparteien tobt und mit der Kontroverse zwischen Atlantikern und Gaullisten beschrieben wird. Dies ist erkennbar in den Stellungnahmen der Bundesminister Gerhard Schröder, Johann Baptist Gradl und Elisabeth Schwarzhaupt, die sich zustimmend äußern und dabei vor allem den Versöhnungsgedanken hervorheben, zugleich aber auf die von der Bundesregierung eingenommene Rechtsposition der Grenzregelung in einem Friedensvertrag verweisen, um innerparteilichen Gegnern keine Angriffsflächen zu bieten. Interessant ist an dieser Stelle freilich, dass die drei CDU-Politiker auf die Forderung nach einer vollständigen Wiederherstellung des territorialen Zustandes von 1937 verzichten. Die öffentliche Diskussion über die Ostdenkschrift der EKD spiegelt sich in den innerparteilichen Meinungsäußerungen wider. So äußern sich der einflussreiche CSU-Außenpolitiker Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg und der Vertriebenenausschuss der niedersächsischen CDU jeweils schroff ablehnend, während der ehemalige baden-württembergische Kultusminister Wilhelm Simpfendörfer und der Hamburger CDU-Landesvorsitzende Erik Blumenfeld in ihren Erklärungen große Zustimmung zum Ausdruck bringen.

 

Keine öffentliche Stellungnahme, aber intern viel Zustimmung – die Position der Bundesregierung

Bundesvorstand der CDU und CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag verzichten auf eine offizielle Erklärung mit der Begründung, dass die Denkschrift nicht unmittelbar an die Unionsparteien gerichtet sei – ebenso argumentiert die Bundesregierung. Nicht sie, sondern die deutsche Öffentlichkeit sei der Adressat der Denkschrift. Intern wird die Denkschrift als ein wichtiger Beitrag zur Ostpolitik gewürdigt. In einem Vermerk für den Außenminister bewertet Staatssekretär Karl Carstens das Dokument der EKD und den Briefwechsel der katholischen Bischöfe Polens und Deutschlands als „eindrucksvolle Zeugnisse für den sowohl in Deutschland wie in Polen vertretenen Wunsch nach Versöhnung und friedlicher Zusammenarbeit zwischen beiden Völkern“. Eine interne Studie aus dem Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen stimmt der Denkschrift inhaltlich in allen Punkten zu. Mit ihrer Denkschrift habe die EKD das deutsch-polnische Verhältnis ins Bewusstsein breiter gesellschaftlicher Schichten gehoben und bewusst die Aufgabe übernommen, ein politisch brisantes Thema aufzugreifen und damit eine Auseinandersetzung in Kauf zu nehmen, zu der der Bundesregierung zu diesem Zeitpunkt die Kraft gefehlt habe. Dass sie mit ihren Aussagen, insbesondere mit ihren Ausführungen zu den völkerrechtlichen Fragen, an politischen Tabus rühren, haben die Autoren der Denkschrift durchaus beabsichtigt, denn „das deutsche Volk muss auf die notwendigen Schritte vorbereitet werden, damit eine Regierung sich ermächtigt fühlen kann zu handeln, wenn es nottut“.

 

Wesentlicher Beitrag zur Neuausrichtung der Deutschland- und Ostpolitik

Die Evangelische Kirche in Deutschland wird mit ihrer Ostdenkschrift zur Wegbereiterin einer Neuausrichtung der Ost-und Deutschlandpolitik, die unter der ersten Großen Koalition nach 1966 eingeleitet wird und 1970 unter der sozial-liberalen Koalition zum Abschluss des Warschauer Vertrages führt, der die Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland auf eine neue Grundlage stellt. Dankbar erinnert sich Bundeskanzler Willy Brandt am Tage der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages der „Pionierarbeit“, die die EKD durch diese Denkschrift geleistet hat.

Die Bedeutung der Ostdenkschrift insbesondere für die Versöhnung zwischen Polen und Deutschland unterstreicht eine Konferenz in Warschau am 12. März 2015, die unter der Schirmherrschaft des Präsidenten der Republik Polen steht und an der die Konrad-Adenauer-Stiftung als Kooperationspartner beteiligt ist.

 

Quellen:

  • Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn, in: Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland, herausgegeben von der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland. Mit einer Einführung von Ludwig Raiser. Band 1/1: Frieden, Versöhnung und Menschenrechte, Gütersloh 1978, S. 77–126.
  • Tübinger Memorandum, in: Ludwig Raiser (Hrsg.): Vom rechten Gebrauch der Freiheit. Aufsätze zu Politik, Recht, Wissenschaftspolitik und Kirche, Stuttgart 1982, S. 41–47.

 

Literatur:

  • Martin Greschat: Der Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland 1945–2005, Leipzig 2011, S. 80–90.
  • Thomas E. Heck: EKD und Entspannung. Die Evangelische Kirche in Deutschland und ihre Bedeutung für die Neuformulierung der Ost- und Deutschlandpolitik bis 1969, Frankfurt am Main 1996, S. 113–206.
  • Reinhard Henkys (Hrsg.): Deutschland und die östlichen Nachbarn. Beiträge zu einer evangelischen Denkschrift, Stuttgart 1966.
  • Helmut Hild: Was hat die Denkschrift der EKD bewirkt?, in: Friedbert Pflüger/Winfried Lipscher (Hrsg.): Feinde werden Freunde. Von den Schwierigkeiten der deutsch-polnischen Nachbarschaft, Bonn 1993, S. 90–102.
  • Wolfgang Huber: Kirche und Öffentlichkeit, Stuttgart 1973, S. 380–420.
  • Hartmut Rudolph: Evangelische Kirche und Vertriebene 1945 bis 1972. Band 2: Kirche in der neuen Heimat. Vertriebenenseelsorge – politische Diakonie – das Erbe der Ostkirchen, Göttingen 1985.
  • Richard von Weizsäcker: Polnische-deutsche Verständigung nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Martin Greschat (Hrsg.): Deutsche und polnische Christen. Erfahrungen unter zwei Diktaturen, Stuttgart 1999, S. 15–21.

Asset-Herausgeber

Kontakt

Dr. Stefan Marx

Dr

Referent Schriftgutarchiv

Stefan.Marx@kas.de +49 30 26996-3787 +49 30 26996-53474