Ziemlich exakt vierzig Jahre ist es her, dass ich als junger Gymnasiast – fasziniert von Willy Brandts Ostpolitik und seiner Losung „Mehr Demokratie wagen“ – Mitglied der SPD wurde. Meine Mitgliedschaft beendete ich schon sieben Jahre später, reichlich ernüchtert von linker Verteilungsideologie, aber auch von der Einschränkung bürgerlicher Freiheitsrechte unter Helmut Schmidt (als Reaktion des Staates auf den RAF-Terror).
Der Sozialdemokrat Karl Schiller, Ende der 1960er-Jahre populärster Politiker Deutschlands und in der ersten Großen Koalition von 1966 bis 1969 mit seinem CSU-Kollegen Franz Josef Strauß als „Plisch und Plum“ legendär geworden, war zum Zeitpunkt meines SPD-Eintritts schon seit gut einem halben Jahr nicht mehr Superminister für Finanzen und Wirtschaft. Er hatte im Juli 1972 das Handtuch geworfen und war zurückgetreten, weil die Genossen – entgegen seiner unverblümten Aufforderung – „ihre Tassen“ nicht mehr „im Schrank“ ließen, sondern bei einem Bundesparteitag einen Spitzensteuersatz von sechzig Prozent in der Einkommensteuer und von 58 Prozent in der Körperschaftssteuer beschlossen hatten. In den frühen 1970er-Jahren war in der SPD Schillers „soziale Symmetrie“ zwischen Arbeit und Kapital nicht mehr angesagt, erst recht nicht sein Appell zur Ausgabendisziplin. Ganz im Gegenteil: Nun wollten viele Sozialdemokraten die „Belastbarkeit der Wirtschaft“ (Jochen Steffen) testen. Die Jungsozialisten lieferten dazu gleich noch den passenden Einkommensdeckel: Mehr als 5.000 D-Mark im Monat sollte niemand im Land verdienen dürfen. Übersteigendes Einkommen sollte der Staat zu 100 Prozent wegsteuern. Selbst die Linkspartei würde sich heutzutage nicht trauen, solche Radikalpositionen zu vertreten.
Exkurs
Der Zeitgeist ist wankelmütig. Wer sich mit ihm verheiratet, ist manchmal schnell verwitwet. Die Sozialdemokraten als mit Abstand älteste deutsche Partei haben in ihrer 150-jährigen Geschichte schon viele Irrungen und Wirrungen erlebt. Im Kampf für eine „Neue Gesellschaft“ strebten sie wie in der SPD-Parteihymne als „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“, schwankten aber stets zwischen Revolutionspathos und Pragmatismus. „Wer hat uns verraten, Sozialdemokraten“, skandierten in den 1920er-Jahren die Genossen, die sich als Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) abspalteten und später in der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) landeten. Doch die Sozialdemokraten, geächtet und verfolgt schon zu Zeiten der Bismarck’schen Sozialistengesetze, bekämpften in Preußen erfolgreich das Dreiklassen-Wahlrecht, setzten das Prinzip „Ein Mensch – eine Stimme“ ebenso durch wie später das Frauenwahlrecht. Eine Sternstunde der Sozialdemokratie markiert für alle Zeiten die Rede des SPD-Fraktionsvorsitzenden Otto Wels am 23. März 1933 in der Berliner Krolloper, als er das Nein der SPD zu Hitlers Ermächtigungsgesetz in den Ersatzplenarsaal für den ausgebrannten Reichstag schleuderte. Elf SPD-Abgeordnete befanden sich zu diesem Zeitpunkt bereits in NS-„Schutzhaft“. Die 81 KPD-Mandate waren von den Nazis schon annulliert. Viele aufrechte SPD-Abgeordnete wurden Stunden und Tage danach verhaftet, über Jahre eingesperrt und viele ermordet.
Godesberg
„It’s the economy, stupid!“ – dieser längst legendäre Slogan, geboren in Bill Clintons Wahlkampagne 1992, mit der er Amtsinhaber George H. W. Bush aus dem Feld schlug, hätte in sozialdemokratisch-deutscher Abwandlung 33 Jahre vorher als Motto über dem Godesberger Programm der SPD stehen können: „Wir stehen zur sozialen Marktwirtschaft!“ Die Aufgabe der alten marxistischen Klassenkampfbotschaften, die Absage an die Verstaatlichung wichtiger Industriesektoren und die Akzeptanz der Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, die sich mit dem Godesberger Programm verbinden, bereiteten der deutschen Sozialdemokratie im nächsten Jahrzehnt den Weg in die Bundesregierung. Ohne Karl Schillers Popularität, die sich in der ersten Regierungsbeteiligung von Sozialdemokraten im Nachkriegsdeutschland herausbilden konnte, hätte die SPD im Wahlkampf 1969 nicht erstmals die CDU in der Wirtschaftskompetenz überflügeln können. Historische Tatsache jedenfalls bleibt, dass die 1970er-Jahre in Deutschland das Jahrzehnt waren, in dem Sozialdemokraten (mit einem liberalen Koalitionspartner) die Staatsquote um sage und schreibe zehn Prozentpunkte nach oben katapultierten. In diesem sozialliberalen Jahrzehnt verzeichnete Deutschland die gemessen am Bruttoinlandsprodukt höchsten staatlichen Defizitquoten aller Zeiten. Der Öffentliche Dienst wurde ohne Rücksicht auf die Folgekosten aufgebläht, unzählige neue Sozialleistungen eingeführt. Kreditfinanzierte staatliche Konjunkturprogramme traten an die Stelle kluger wirtschaftspolitischer Strukturreformen. Der Staat sollte alles richten, doch die Staatsgläubigkeit der SPD funktionierte nicht. Die Staatsverschuldung explodierte.
1982 kam die Wende durch die FDP. Die konservativ-liberale Koalition unter Helmut Kohl leitete danach eine mehrjährige Phase der Konsolidierung ein – mit einer klugen Steuerreform unter Finanzminister Gerhard Stoltenberg. Nur so erklärt sich, dass die Staatsquote in Deutschland selbst nach der Wiedervereinigung den hohen Wert am Ende der sozialliberalen Ära nicht überschritten hat.
Agenda 2010
Wie marktorientiert und reformfähig Sozialdemokraten in Verantwortung sein können, hat Kanzler Gerhard Schröder mit seiner Agenda 2010 im Jahr 2003 bewiesen. Ohne die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte und ohne die Abschaffung der steuerfinanzierten lebenslangen Arbeitslosenhilfe im Zuge der Hartz-IV-Gesetze wäre das deutsche Beschäftigungswunder der vergangenen Jahre nicht erklärbar. „Fordern und fördern“ wurde plötzlich zum Leitmotiv im Umgang mit den Empfängern von Sozialtransfers. „Wer arbeitet, muss mehr haben als jemand, der nicht arbeitet, obwohl er arbeiten könnte!“ – diese Ansage war bis dato in linken politischen Kreisen verpönt. Transferempfänger galten immer nur als Opfer, die unverschuldet in Not geraten waren. Ihnen auch eigenes Engagement abzuverlangen, um schnell wieder auf eigenen Beinen zu stehen, galt Sozialdemokraten und Sozialverbänden, aber auch den Grünen, als unsoziale Zumutung. Sanktionen gegen Sozialhilfeempfänger? Igittigitt!
Schröder konnte dieses Reformpaket mit Mühe in seiner Partei durchsetzen. Den Bundesrat passierten die Hartz-IV-Reformen fast leichter, weil Union und FDP diesen Kurs mit ihrer dortigen Mehrheit grundsätzlich befürworteten.
Doch die SPD als Partei wurde fast zerrissen, die Linkspartei feierte bei der Bundestagswahl 2005 plötzlich fröhliche Wiederauferstehung. Nie stand die SPD wirklich hinter diesen Arbeitsmarkt- und Sozialreformen, genauso wenig, wie sie als Partei mit Überzeugung der Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 während der zweiten Großen Koalition zustimmte.
Linker Zeitgeist
Deshalb weht der Zeitgeist in der SPD – vielleicht aber auch in der ganzen Gesellschaft – wieder deutlich links. Heute distanziert man sich auf breiter Front von der als „neoliberal“ stigmatisierten Agenda-2010-Politik. Alles soll wieder der Staat richten, obwohl die Verschuldung der öffentlichen Budgets größer denn je ist. Jetzt soll Schluss sein mit dem sogenannten „Kaputtsparen“, neue wohlfahrtsstaatliche Leistungen werden wieder ausgelobt: mehr Kindergeld, mehr Rente, mehr Hartz IV. Die Reihe ist nicht abgeschlossen. Und wer soll das bezahlen? Die Reichen natürlich, die Wirtschaft, die starken Schultern. So tönt es unisono aus der SPD-Schar, aber auch aus anderen Lagern. Und der „Gerechtigkeits-Wahlkampf“ zur Bundestagswahl liefert dafür die Metabotschaft. Mit Karl Schiller möchte man der traditionsreichen Sozialdemokratie – doch nicht nur ihr – heute wieder zurufen: „Genossen, lasst die Tassen im Schrank!“
Viele Sozialdemokraten spüren zwar, dass die Umverteilungsorgien der frühen 1970er-Jahre in Zeiten überschuldeter öffentlicher Budgets eigentlich passé sind. Doch weil die SPD über kein marktwirtschaftliches Konzept verfügt, versucht sie den Spagat zwischen weiterer Volksbeglückung und massiver Steuererhöhung: mehr soziale Leistungen für viele und massive Steuererhöhungen für wenige! Als ob dieses Rezept je funktioniert hätte. Ohne florierende Wirtschaft gibt es keinen Sozialstaat.
In der Person des Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück manifestiert sich diese kognitive Dissonanz zwischen der Realität und der wirtschaftspolitischen Verortung der SPD. Der Mann muss heute linke Verteilungspolitik propagieren, obwohl er viele Jahre als Ministerpräsident und als Bundesfinanzminister deutlich andere Töne anschlug. Er muss sich verbiegen bis zur Unkenntlichkeit. Es scheint sich zu wiederholen, was im Innenverhältnis zwischen der SPD und ihren pragmatischen Führungspersönlichkeiten seit Jahrzehnten zu beobachten ist. Man denke nur an Karl Schiller, Helmut Schmidt, Gerhard Schröder oder Wolfgang Clement und ihre sprichwörtliche Distanz zur eigenen Partei. Peer Steinbrück verleugnet sich als Wahlkämpfer selbst. Er persönlich verliert damit seine Authentizität, die SPD aber ihren Rest an marktwirtschaftlicher Kompetenz.
Oswald Metzger, geboren 1954 in Grabs (Schweiz), freier Publizist und Politikberater, ist heute Mitglied der Christlich Demokratischen Union.