Asset-Herausgeber

von Hanns Jürgen Küsters

Zum Tode von Hans-Peter Schwarz

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Offenbar hat er geahnt, dass sich sein Lebenszyklus bald dem Ende zuneigt. „Wenn manche Angehörige meiner Generation für Deutschland und Europa keine Zukunft mehr sehen“, hielt Hans-Peter Schwarz mit gewohnt ironisch-sarkastischem Unterton in seinen unveröffentlichten Memoiren am 25. Mai 2017 fest, „so natürlich auch aus biologischen Gründen. Sie haben beim schönen und langen Festessen des Lebens jene Phase erreicht, da man Mocca und Cognac bestellt, während der Ober das Taxi herbei telefoniert. Doch größer als meine Sorge, die mich nie verlassen hat, ist und bleibt meine Neugier.“ Die Neugier auf die Zukunft, auf das, was alles noch passiert, darf er nicht mehr erleben. Für alle, die ihn und seine Schriften kannten, kommt sein Abschied am 14. Juni 2017 plötzlich und viel zu früh.

Schwarz, einer der renommiertesten Hochschullehrer unserer Zeit, hat wie kaum ein anderer der Politikwissenschaft und Zeitgeschichtsforschung im Deutschland der Nachkriegszeit seinen Stempel aufgedrückt. Der kritische Geist misstraute den Mächtigen. Wissenschaftlich akribisch, global im Denken, literarisch gewandt, mit diebischer Freude an spöttischen Seitenhieben, meinungsstark und im Urteil unbestechlich, verfocht er seine Ansichten. Auch als Essayist und Kolumnist beherrschte er das Metier. Aus seinem politischen Standort machte er nie einen Hehl. 34 Jahre lang gehörte Hans-Peter Schwarz dem Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung an, gab gewichtige Ratschläge. Mit Kritik an politischen Entwicklungen, die ihm bedenklich und korrekturbedürftig erschienen, hielt er bis zuletzt nicht zurück. Auch die Zeitschrift Die Politische Meinung, deren früherem Wissenschaftlichen Beirat er bis 2012 über Jahrzehnte angehörte, blieb davon nicht verschont. Wohltuend unterschied er sich von jenen Kollegen, die politische Entscheidungen quantitativ und systemtheoretisch erklären wollten. Schwarz sah Politik von den Unwägbarkeiten menschlichen Handelns bestimmt. Erst der Betrachter bringt Ordnung in das Chaos der Realpolitik. Deshalb analysierte er komplexe Motive der Akteure, rekonstruierte schwierige Konstellationen, legte einem Operateur gleich Handlungsstränge frei und zog aus allem seine Schlüsse.

Ihn, den Sohn eines Lehrers, am 13. Mai 1934 in Lörrach geboren, zeichnete ein badisch-liberaler Habitus mit wertkonservativer Einstellung aus. Die Dissertation des 28-Jährigen über Ernst Jünger, den „konservativen Anarchisten“, erregte 1962 Aufmerksamkeit. Einen großen Wurf landete er 1966 mit der Habilitationsschrift „Vom Reich zur Bundesrepublik“. Die Untersuchung der ersten Nachkriegsjahre setzte Maßstäbe für die Aufarbeitung der jüngsten deutschen Vergangenheit. Sie brachte Schwarz in Kontakt mit dem ersten Bundeskanzler. Am 22. Juli 1966 hatte er das Vergnügen, ihn persönlich kennenzulernen – eine Begegnung, die Schwarz wegen der menschlich bescheidenen Art des weltberühmten 90-jährigen Staatsmannes beeindruckte.

Als der junge Professor um die Mittagszeit im Bundesratsflügel Adenauers Arbeitszimmer betrat und sich vorstellte, tat der große Kanzler das Gleiche, indem er, sich leicht verneigend, sagte: „Adenauer“. Sorgenvolle Äußerungen des alten Herrn über die politische Unzuverlässigkeit des deutschen Volkes blieben Schwarz im Gedächtnis haften. „Nie wieder gefährliche Schaukelpolitik!“, vernahm er von den Lippen des Gründungskanzlers. Späterhin gab Schwarz zu, in den 1950er-Jahren ihm sehr skeptisch gegenübergestanden und eine Kehrtwende in seiner Haltung zum Patriarchen durchgemacht zu haben. Dessen rheinische Art, das in der Öffentlichkeit vermittelte Bild eines Wahlmonarchen, wirkten auf den Alemannen Schwarz eher abstoßend. Aber lange kann diese ambivalente Haltung nicht angedauert haben. Als er sich am 3. März 1967 die Ehre gab, dem alten Kanzler fünf Wochen vor dessen Tod ein druckfrisches Exemplar seiner Studie „zu dedizieren“, fügte er hinzu: „Es wäre schön, wenn Sie darin zugleich den Ausdruck dankbarer Hochschätzung sehen würden, den Ihnen der Angehörige einer jungen Generation von Wissenschaftlern entgegenbringt, die nicht zuletzt dank Ihrer Weitsicht und Tatkraft in einem freien Staat eine freie, unreglementierte Forschung betreiben kann.“ So schreibt kein „Adenauer-Brutus“! Aus dem anfänglichen „Adenauer-Saulus“ sollte alsbald ein „Adenauer-Paulus“ werden.

Anfang der 1970er-Jahre blieb Schwarz der Philippika von Entspannungsaposteln gegenüber skeptisch, weil Nationalstaaten in seinen Augen letztlich nur dem Machtkalkül gehorchen. Die neue Ostpolitik bestärkte ihn, noch mehr die Westbindung als Staatsräson der Westdeutschen herauszustreichen und in ihr Bewusstsein einzupflanzen. Denn nur durch die transatlantische Allianz konnte die Bundesrepublik verstärkte Handlungsfähigkeit erlangen. In seinem zweibändigen Werk über die „Ära Adenauer“ erklärte er die Wandlung des westlichen Deutschlands von der brüchigen Welt der Kriegsjahre zum modernen Industriestaat. Schwarz befreite die Politik- und Gesellschaftsgeschichte der bundesdeutschen Gründungsdekade vom Vorwurf der muffigen Restaurationsperiode, indem er aufzeigte, wie nachhaltig Konrad Adenauers Politik das moderne Deutschland geprägt hat. Damit erhielt die Bundesrepublik zum ersten Mal eine historische Kontur, was maßgeblich zur Identitätsstiftung mit den freien, westlich-parlamentarischen Demokratien beitrug. Mitte der 1980er-Jahre mahnte Schwarz als Erster die einst machtbesessenen, inzwischen von „Machtvergessenheit“ befallenen und „gezähmten Deutschen“, wieder eine „verantwortbare Machtpolitik“ zu betreiben und sich den neuen globalen Herausforderungen zu stellen.

Immer suchte er die Nähe zu politischen Entscheidungsträgern, um sich ein eigenes Bild von ihrem Handeln zu machen. Er gehörte zum deutschlandpolitischen Beraterkreis in Kohls Kanzleramt und wirkte an dessen berühmter Ansprache in der Bad Godesberger Redoute beim Besuch Erich Honeckers 1987 in Bonn mit. Nach der Wiedervereinigung 1990 warf Schwarz linken Historikern vor, sie hätten sich in der nationalen Frage eine endgültige Antwort lieber verkneifen sollen, statt jahrelang besserwisserisch die deutschlandpolitische Apokalypse hinauszutrompeten.

Seine Biographien über Konrad Adenauer, Helmut Kohl und den Verleger Axel Springer verliehen dem Genre einen bis dahin in Deutschland nicht gekannten Stellenwert. Gemeinsamkeiten mit Adenauer entdeckte der Biograph zuhauf: die zupackende Art des Kanzlers, dessen ausgeprägten Sinn für Realitäten, Gewissenhaftigkeit und Pflichterfüllung, eben eine Kämpfernatur, unbeirrbar in der Durchsetzung dessen, was er für richtig hält. Schwarz schätzte Adenauers Abneigung gegen politische Romantiker und jegliche Gefühlsduselei. Überhaupt liebte Schwarz den Vergleich großer Politikerfiguren, indem er ihren Eigenheiten und Gemeinsamkeiten nachspürte, aber auch Unterschiede herausarbeitete. Treffend hat Schwarz Helmut Kohls Größe und Lebensleistung das Signum „Der Riese“ verpasst. Wie Adenauer charakterisierte er den Machtmenschen Kohl vor allem als Modernisierer, der von Rheinland-Pfalz aus republik- und europaweit Wirkung entfaltete und nach dem Mauerfall alles richtig machte, um Deutschlands Einheit wiederherzustellen. Allein die Einführung des Euros ohne Rücksicht auf erkennbare ökonomische Risiken kreidete Schwarz dem Ehrenbürger Europas nachhaltig an. In seiner letzten Würdigung attestierte er ihm jedoch – vielleicht aus Altersmilde –, Kohl sei es gelungen, „die EU zu einem Machtgebilde eigenen Gewichts aufzubauen, ohne dabei den Sicherheits- und Wirtschaftsverbund mit den USA zu lockern“.

Angesichts des Zustroms von Flüchtlingen und Asylsuchenden ab Herbst 2015 – der „neuen Völkerwanderung nach Europa“ – galt seine allerletzte Warnung einem wachsenden „Verlust politischer Kontrolle und moralischer Gewissheiten“. Das Gutmenschentum, von globaler Barmherzigkeit und protestantischem Pazifismus bestimmt, sei der CDU auf die Füße gefallen. Sie müsse nun nach dem Vorbild in Großbritannien mit schärferen Kontrollen an den nationalen Grenzen in der EU reagieren, um der Probleme Herr zu werden. Man mag seine Fingerzeige nicht in allen Belangen teilen. Doch sie regten stets zum Nachdenken oder Widerspruch an. Schwarz suchte die Erkenntnis, denn seine Wissbegier war nie gestillt.

Hanns Jürgen Küsters

Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste/

Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung,

Dr. rer. pol., apl. Professor an der Universität Bonn

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