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von Reinhard Mohr

Über die "68er"

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Historische Vergleiche sind verlockend. Oft genug dienen sie der Warnung vor einer „Wiederholung der Geschichte“ – in Deutschland eine besonders beliebte Übung. Gern werden dann Parallelen gezogen zwischen „damals“ und „heute“. Wie oft wurde seit 1945 vor einer Wiederkehr des „Faschismus“ gewarnt oder die „kommunistische Gefahr“ beschworen? Am Ende einigte man sich meist doch auf die Formel, die zugleich ein berühmter Buchtitel war: „Bonn ist nicht Weimar“. Ein zweiter Hitler ist bis heute nicht in Sicht, auch wenn niemand in die Zukunft schauen kann.

Im Gegenteil: Die „Berliner Republik“ ist trotz aller Krisen und Anfechtungen von Links- und Rechtsextremisten, Verschwörungstheoretikern und „Reichsbürgern“ eine stabile Demokratie, die trotz aller Schwächen und Probleme zum Sehnsuchts- und Zufluchtsort von Menschen aus aller Welt geworden ist. Dennoch sind historische Vergleiche legitim, vor allem dann, wenn sie dem Erkenntnisgewinn dienen.

So hat Sven Felix Kellerhoff in der Januar-/Februar-Ausgabe dieser Zeitschrift versucht, die Protestbewegung der 68er, die sich 2018 zum fünfzigsten Mal jährt, mit dem Rechtspopulismus der „Alternative für Deutschland“ (AfD) und „Pegida“ zu vergleichen. Sein Resümee: Bei allen Unterschieden gebe es Ähnlichkeiten, was politischen, teils gewaltaffinen Radikalismus, den Kampf gegen die bürgerliche („Lügen“-)Presse und die Nähe zum „russischen Imperialismus“ betreffe.

„Wir haben sie so geliebt, die Revolution“

Als nachgeborener „78er“, dessen Leben von den Auswirkungen der 68er-Revolte geprägt wurde wie von kaum einem anderen Ereignis, möchte ich ihm allerdings in einigen Punkten widersprechen. Das betrifft zuallererst den jeweiligen historischen Kontext, der unterschiedlicher nicht sein könnte. Schon die verengte Betrachtung der bundesdeutschen Verhältnisse wird der Sache nicht gerecht. Die Jugendrevolte der 1960er-Jahre war ein weltweites Phänomen – von den kalifornischen Hippies bis zum Pariser Mai 1968, von den Arbeiterprotesten in Mailand und Turin bis zu den „Provos“ in Amsterdam. Es war ein Aufbruch aus der von vielen empfundenen bürgerlichen Enge und konservativen Verkrustung der Nachkriegsgesellschaft, ein moralischer Protest gegen den Vietnamkrieg und, vor allem in Westdeutschland, ein Generationenkonflikt vor dem Hintergrund der Nazi-Vergangenheit. Nicht zu unterschätzen: die Rock- und Popmusik von Beatles und Rolling Stones, Bob Dylan und Jimi Hendrix, die ein neues Lebensgefühl vermittelte, eine Traumlandschaft der Zukunft. Eine Mixtur aus Flower-Power, Rock ’n’ Roll, Drogen und Seminarmarxismus beflügelte die große Ambition.

1968 war der vorerst letzte Versuch, eine Art Revolution anzuzetteln, gleichsam aufs Ganze zu gehen und die Geschichte „in die eigenen Hände zu nehmen“. Dieses stets diffus gebliebene, romantische Ziel war die Umwälzung aller Lebens-, Liebes- und Arbeitsverhältnisse, das mit Chuzpe und naivem Optimismus angegangen wurde.

Thomas Schmid, der einen langen Weg vom Frankfurter Sponti zum Herausgeber der Welt absolviert hat, beschrieb dieses Phänomen so: „Wer von 68 erfasst wurde, erinnert es als eine hinreißende, leidenschaftliche, überschwängliche Zeit: das selbstkonstitutive ‚Du‘ (kostbar, nicht die spätere Massenware); die freudige Entdeckung eines Mediums, das in der Agenda der bürgerlichen Gesellschaft nicht vorgesehen war: des Flugblatts und der Wandzeitung; morgens, in fremder Stadt, beim Frühstück in der Wohnung der Genossen, die man tags zuvor noch nicht kannte; der lustvolle Ausstieg aus der Ökonomie der Zeit, der Rausch der Selbstvergewisserung.“ Hans Magnus Enzensberger verwendete den Begriff des „Tumults“, der „intelligibel“, also durch den Intellekt, kaum zu erklären sei, und Daniel Cohn-Bendit bekannte rückblickend: „Wir haben sie so geliebt, die Revolution!“ Von all dem ist beim Kollegen Kellerhoff nicht die Rede. Stattdessen beginnt seine Vergleichsstudie mit der Gründung des Berliner Extra-Blatts durch den Stasi-Spitzel Walter Barthel – eine randständige Episode, die mit den antiautoritären Protesten von Dutschke & Co., mit der Gründung der „Kommune 1“ und der rapide anwachsenden Rebellion nach der Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg durch den Polizeibeamten (und, wie sich Jahrzehnte später herausstellte: Stasi-Spitzel und SED-Mitglied) Karl-Heinz Kurras am 2. Juni 1967 nichts zu tun hatte. Nebenbei: Rudi Dutschke, in der DDR aufgewachsen, war „Republikflüchtling“, kurz bevor die Mauer gebaut wurde. Er hasste die Stasi ebenso sehr wie er Walter Ulbricht hasste, den Chef der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Und er war gläubiger Christ.

Fake News vor Trump

Schon deshalb ist auch Kellerhoffs Unterstellung unzutreffend, die 68er hätten, wie Gauland und Gesellen heute, eine Nähe zum „russischen Imperialismus“ gehabt. Vehement protestierte der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei am 21. August 1968, und Milan Horáček, einer der tschechischen Unterzeichner der „Charta 77“, wurde zum engen Freund Rudi Dutschkes – bis zu seinem Tod an Heiligabend 1979. Hinzu kommt: All die maoistischen Sekten waren erbitterte Feinde des sowjetischen „Sozialimperialismus“, und die große Gruppe der „Spontis“ verachtete erst recht jene moskautreuen „Revis“, all die „Revisionisten“, die sich in Ost-Berlin am wohlsten fühlten. Nur jene SDS-Fraktion, die tatsächlich der SED näherstand als dem Geist der antiautoritären Revolte, trat 1969 in die neu gegründete Deutsche Kommunistische Partei (DKP) ein, die von Erich Honeckers Politbüro gesteuert und finanziert wurde.

Wenn Kellerhoff Parallelen zwischen dem „Lügenpresse“-Geschrei der Dresdner „Pegida“-Demonstranten und der Anti-Springer-Kampagne von vor fünfzig Jahren zieht, vergisst er zu erwähnen, wie Bild, B.Z. und Welt damals über die Ereignisse berichtet hatten. Es schien so, als seien die Studenten selbst schuld gewesen am Tod ihres Kommilitonen: „Wer Terror produziert, muss Härte in Kauf nehmen“, hieß es da. Oder: „Sie müssen Blut sehen.“ Noch zwei Tage nach Ohnesorgs Tod behauptete die Welt am Sonntag, der Todesschütze Kurras sei von Studenten mit einem Messer bedroht worden. Mit Verlaub: Das waren Fake News, lange vor Trump.

Vom Hedonismus zum Klassenkampf

Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke am Gründonnerstag 1968 eskalierte die Auseinandersetzung zwischen der Protestbewegung und dem Axel-Springer-Verlag weiter – ein offener, teils gewalttätiger Schlagabtausch, dessen Spuren bis heute zu verfolgen sind. So ungerecht das ewige Zerrbild vom bösen Springer-Konzern auch ist – schon damals gab es Spiegel, Zeit und Stern, linksliberale Medien, die durchaus Sympathien für die jungen Rebellen hatten.

AfD und „Pegida“ hingegen finden in der überregionalen Presse so gut wie keine Sympathien – im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gelten sie durchweg als rechts oder rechtsextrem, und selbst bei großen Fußballvereinen der Bundesliga will man sie nicht als Mitglieder haben. So kann sich die AfD immer wieder als Opfer des „Mainstream“ inszenieren – das genaue Gegenteil übrigens zu den 68ern, die viel lieber Täter waren, autonome Subjekte, die nicht reagieren, sondern agieren wollten. Sie waren trotz und wegen ihrer radikalen Kritik am „System“ – Achtung, Dialektik! – Geschichtsoptimisten, während heute die rechten Protestler wie verzweifelte Abwehrkämpfer wirken, die die Zeit zurückdrehen wollen. Ihr kulturpessimistischer, zuweilen apokalyptischer Jammerton hat nichts mit Aufbruch und Zukunft zu tun.

An diesem Punkt gleichen sie jedoch vielen Linken der Gegenwart, die denselben Klageton anstimmen, nur eine Oktave höher: Hartz IV, „sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen“ (offenbar eine Erfindung, die direkt aus Dantes Hölle kommt) und die „Zwei-Klassen-Medizin“, überhaupt Ungleichheit und Ungerechtigkeit in aller Welt, werden zu einer Litanei zusammengeschraubt, die auf nichts mehr Lust macht außer auf den schnellen Tod oder den nächsten Urlaub auf Mallorca.

Unbestreitbar ist freilich, dass ein Großteil der 68er in die Falle von Dogmatismus und Ideologisierung tappte, als die Bewegung ins Stocken geriet, also spätestens im Sommer 1968. In Windeseile wurden maoistische K-Gruppen gegründet, während eine andere Fraktion sich auf den militanten, teils bewaffneten Untergrundkampf vorbereitete. Die antiautoritär-hedonistische Leichtigkeit der Anfangsphase ging verloren und machte hohlen Klassenkampfparolen und einer Rhetorik des antifaschistischen Endkampfs Platz, die mit der Realität der Bundesrepublik nichts mehr zu tun hatten.

So unsinnig die Beschwörung eines „neuen Faschismus“ in der Bundesrepublik auch war – dass die seit Anfang der 1960erJahre „stetig zunehmende Aufarbeitung der braunen Vergangenheit durch die Radikalität der Vorwürfe von links geradezu abgewürgt“ worden sei, wie Kellerhoff behauptet, ist nicht plausibel. Die über Jahrzehnte äußerst schleppende, teils skandalös nachlässige juristische Aufklärung tausendfacher Naziverbrechen kann nicht mit noch so lauten Kampfparolen einer „kleinen radikalen Minderheit“ (die die 68er tatsächlich waren) gerechtfertigt, erklärt oder entschuldigt werden.

Von „Aufarbeitung“ keine Spur

Andersherum wird ein Schuh draus: Vielen, auch mir, klingen noch die Rufe gutbürgerlicher Hutträger mit Aktentasche im Ohr, die in Frankfurt am Main am Rande von Demonstrationen standen und mit erregter Stimme riefen: „Euch hat man vergessen zu vergasen!“ Hier war die braune Vergangenheit noch sehr lebendig – von „Aufarbeitung“ keine Spur.

Deshalb ist auch das analoge Argument, die rechten Parolen der AfD verhinderten heute eine vernünftige Flüchtlings- und Migrationspolitik, ebenso wenig nachvollziehbar. Hier wie da unterstellt man damit eine Verhinderungsmacht von Protestbewegungen, die in Wahrheit auf der Entscheidungsschwäche der politischen Mitte beruht.

Das ändert nichts daran, dass fünfzig Jahre nach 1968 politisch wirksame Gesellschaftskritik, wie krude auch immer sie vorgebracht wird, eher von rechts als von links kommt. Aber auch das liegt in der Logik der historischen Entwicklung: Seit 68 hat sich die Mitte nach links verschoben und so rechts Platz frei gemacht. Der „Ehe für alle“ etwa hätten in den 1960er-Jahren nicht einmal linke Sozialdemokraten zugestimmt, Altkanzler Helmut Schmidt fände wohl keine Heimat mehr in der SPD von Andrea Nahles und Ralf Stegner, schon gar nicht in der Welt von Transgender-Menschen und Unisex-Toiletten. „Dummes Zeuch!“ meint man noch aus der rauchgeschwängerten virtuellen Gruft zu hören.

Schmidt selbst hat allerdings noch erlebt, dass viele radikale Systemkritiker von 1968 im Laufe der Jahre zu glühenden Verteidigern der parlamentarischen Demokratie und des bürgerlichen Rechtsstaats wurden, den sie einst abschaffen wollten.

Für viele ehemalige Maoisten, Anarchisten und umherschweifende Stadtindianer war es allerdings ein weiter Weg von der radikalen Opposition gegen das verhasste „System“ bis zur aktiven Teilnahme am bürgerlichen Parlamentarismus und seinen Exekutivorganen. Joschka Fischer war der prominenteste und spektakulärste Fall einer ebenso theoretischen wie praktischen Revision langjähriger Überzeugungen. Jedoch dauerte es bei ihm ebenfalls etwa ein Jahrzehnt, bis aus dem militanten Straßenkämpfer ein überzeugter Parlamentarier wurde. Ein weiteres Jahrzehnt brauchte es, um aus ihm einen veritablen Außenminister zu machen.

Neben Intelligenz, Selbstreflexion und rationaler Einsichtsfähigkeit gehört der Mut dazu, die wärmende Gesinnungsgemeinschaft der eigenen Gruppe zu verlassen oder sie zumindest dem nagenden Zweifel auszusetzen. Zu schön sind die einfachen Wahrheiten, das Gefühl moralischer Überlegenheit und das klare Feindbild, das die eigene Identität stärkt.

Viele Alt-68er gelten nach all den Jahren längst als „Renegaten“, als Abtrünnige ihres einstigen Weltbilds. Gerade sie aber verteidigen die liberale, repräsentative Demokratie mit besonderer Verve, weil die eigene Verführbarkeit zum Radikalismus sie im Nachhinein erkennen ließ, wie kostbar eine Gesellschaft ist, in der eine zivile, rechtsstaatlich abgesicherte Konfliktaustragung dominiert. Ein aktueller Blick in den Rest der Welt genügt, um zu sehen, wie schnell es mit Pluralismus, Meinungsfreiheit und Rechtssicherheit vorbei sein kann.

Die große Frage wird sein, ob auch innerhalb der AfD und der sie tragenden Milieus eine vergleichbare Entwicklung denkbar wäre. Die ersten Monate im Bundestag machen wenig Hoffnung. Der Gruppendruck ist noch viel zu groß, und die Lust an der Provokation des „Mainstream“ hat sich noch nicht wirklich abgenutzt. Von „Alternativen“ ist derweil nicht viel zu sehen.

Ob in diesen Kreisen ausreichend Intelligenz, Mut und Vernunftbegabung vorhanden sind, um das geschlossene Gehäuse der eigenen „Weltanschauung“ zu verlassen, ist aus der Ferne schwer zu beurteilen. Für die anderen gilt: Die Konfrontation mit realitätstüchtigen Argumenten ist immer ein gutes Konzept, um produktive Irritation zu erzeugen.

Dennoch bleibt es bei den substanziellen Unterschieden zwischen „Äpfeln“ und „Birnen“: Die 68er mussten ihre große Utopie von der ganz anderen Welt begraben. Die AfD aber sehnt sich nach einer Vergangenheit, die es nie gab. So trifft man sich in der unübersichtlichen Gegenwart.

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Reinhard Mohr, geboren 1955 in Frankfurt am Main, Journalist und Autor. Nach dem Studium der Soziologie arbeitete er für das von Daniel Cohn-Bendit verantwortete Frankfurter Stadtmagazin „Pflasterstrand“, die „tageszeitung“, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und den „stern“. Von 1996 bis 2004 war er Kulturredakteur beim „Spiegel“, von 2006 bis Oktober 2010 freier Mitarbeiter für „Spiegel Online“. Seitdem schreibt er als freier Autor vor allem für die „Welt am Sonntag“.

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