Asset-Herausgeber

von Achille Mbembe

Südafrikas Umgang mit "ausländischen Staatsbürgern" und der Traum von einer afrikanischen Nationalität

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Wir haben lange geglaubt, dass von allen Begriffen der menschlichen Sprache die Vernunft am besten für eine Suche nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung geeignet sei. Heute leben wir in einer Zeit, in der die Vernunft selbst auf dem Prüfstand steht. Das gilt besonders dann, wenn es um die Anwesenheit afrikanischer Migranten in unserer Mitte geht.

Ich bin nicht in Südafrika geboren, aber ich habe den Großteil meines Lebens als Erwachsener hier verbracht. In Südafrika werde ich wahrscheinlich sterben, und hier wird meine Asche einmal verstreut werden.

Ich bin in Kamerun mit der Furcht groß geworden, dass ich jung sterben würde, aber auch mit der tiefen Überzeugung, ich würde niemals in der Fremde sterben. In jenen Jahren bedeutete der Tod in der Fremde den Tod im Ausland. Man war überzeugt, dass ein Tod in der Fremde das größte Unglück sei, das einem Menschen widerfahren könne, ein Unglück, das man nur seinen Feinden wünschte. Im Ausland zu sterben, war eine Sache; in der Fremde begraben zu werden, war etwas ganz anderes. In der Fremde begraben zu werden, bedeutete, ganz und gar zu einem Fremden zu werden.

Man hat uns beigebracht, dass „Heimat“ das Land ist, zu dem man gehört und das einem selbst gehört. „Heimatangelegenheiten“ hatten mit gemeinschaftlichem Besitz und beiderseitigem Eigentum zu tun – nicht ganz dasselbe wie „Privatbesitz“. In den Darstellungen zur Autochthonie, die ich als Heranwachsender zu hören bekam, war Eigentum an Land gleichbedeutend damit, sich um dieses Land und um alles zu kümmern, was dort wohnte, sei es menschlich oder nicht menschlich. Eigentum hatte eine doppelte Bedeutung.

Es ging darum, sich zu kümmern und Sorge zu tragen, sowohl im Gedenken an die Verblichenen als auch im Namen derer, die noch kommen. Wir waren weder Untertanen noch Bürger, sondern Treuhänder.

Bei Eigentum und Besitz ging es nicht um Privateigentum. Unbezahlbares, Unberechenbares und nicht Quantifizierbares kann nicht Gegenstand von Privatbesitz, sondern nur von Fürsorge sein, und Fürsorge kam dem Besitz am nächsten. Heimat war das Land oder genauer der Boden, die lebenswichtige Hülle, die Heimstatt, die den Körper schützen sollte, die Erde, zu der jedes vollwertige menschliche Wesen am Ende seiner Reise in einer großen Geste des Teilens (nicht der Inbesitznahme) und der kosmischen Reziprozität zurückzukehren hoffte.

 

Das Recht, die Erde zu bewohnen

 

Im öffentlichen Denken Südafrikas ist der Ausdruck „ausländischer Staatsangehöriger“ ein Euphemismus, eine vermeintlich höfliche Bezeichnung für Menschen, die nicht dazugehören, Schwarzafrikaner, die anderswo zu Hause sind und von denen jetzt einige dorthin zurückkehren sollen, woher sie gekommen sind.

Nicht dazuzugehören, bedeutet nicht nur, kein Recht darauf zu haben, hier zu sein, wenn man nicht hier geboren ist. Es bedeutet auch, kein Rechtdarauf zu haben, hier zu sterben und begraben zu werden, denn wenn man begraben wird, hat man den ältesten afrikanischen Traditionen gemäß ein Anrecht auf das Stück Land, in dem die eigenen Überreste ruhen sollen – der Ursprung einer potenziellen Genealogie, weil dort das ruhen soll, was einst als lebendiger Mensch in der Welt stand.

Im öffentlichen Denken Südafrikas sind „ausländische Staatsangehörige“ zumeist Schwarze aus dem übrigen afrikanischen Kontinent und darüber hinaus aus der afrikanischen Diaspora anderswo auf der Welt. Aus südafrikanischer Sicht kennzeichnet diese sogenannten „ausländischen Staatsangehörigen“ ihre schwarze Hautfarbe und die Tatsache, dass sie nicht den geringsten Schutz eines einflussreichen Staates genießen, von Nigeria einmal abgesehen.

Würde ihnen von Südafrika ernsthaft Schaden zugefügt, würde sich kein verfasster Staat spontan auf ihre Seite stellen. Kurz gesagt: Es wird niemand für den Schaden verantwortlich gemacht. Würden sie im Verlauf einer der mittlerweile zur Gewohnheit gewordenen afrophobischen Ausbrüche getötet, wäre ihr Tod ein wertfreier Verlust. Ich verwende den Ausdruck „sogenannte ausländische Staatsangehörige“ ausschließlich aus folgendem Grund: Ichglaube nicht, dass überhaupt ein Afrikaner oder eine Person afrikanischer Abstammung in Afrika ein Ausländer sein kann, auch wenn es 54 nominell souveräne Staaten gibt.

Das bedeutet keineswegs eine Geringschätzung unserer heutigen Staaten und Regierungen, die als einzige völkerrechtlich anerkannt sind. Tatsächlich gestehe ich diesen Staaten das Recht zu, zu entscheiden, wen sie ihre jetzigen Grenzen überschreiten lassen und wen sie außerhalb dieser Grenzen haben wollen. Tatsächlich kann die Republik Südafrika morgen früh aufgrund ihrer eigenen Gesetze entscheiden, mich abzuschieben. Sollte das geschehen, könnte ich nicht viel dagegen tun. Aber wenn ich gezwungen würde, Südafrika zu verlassen, würde ich immer noch glauben, dass ich in Südafrika und überall sonst auf dem Kontinent ein Ausländer bin.

Ich spreche also nicht über die harten Fakten des geltenden Rechts oder über das geringe Maß an Willkür, das in jede Manifestation des Rechts bereits eingebaut ist. Ich spreche über etwas, das über das Prosaische des Rechts hinausgeht, über etwas, gegen das jedes Gesetz eben nur ein Gesetz ist, etwas Grundlegendes, das zu unser aller Recht in Beziehung steht, diese Erde zu bewohnen, das heißt, sie so gerecht wie möglich zu teilen, uns um sie zu kümmern und sie wiederherzustellen als Vorbedingung für ihre und unsere weitere Existenz und die der menschlichen Rasse und aller Lebewesen.

 

Afrika als Trojanisches Pferd

 

Offensichtlich sind heute viele in Südafrika nicht dieser Ansicht. Das gilt auch für den Bürgermeister von Johannesburg. Er spricht nicht von der Menschheit oder von anderen Lebewesen. Er hat sich eingeredet, dass die Politik des Überlebensjede andere Politik aussticht. Wenn er von Afrika spricht, behandelt er es fast immer wie einen Fremdkörper, eine Last, eine Verschwendung. In seiner Vorstellung ist Afrika weder eine Idee noch ein Projekt, sondern eine tödliche Bedrohung für Südafrika. Afrika ist das trojanische Pferd, das der Zerstörung von Südafrika vorangeht, und die muss um jeden Preis vermieden werden.

In seinen Augen besteht Südafrikas größtes Unglück darin, dass es in Afrika und nicht irgendwo anders auf dem Planeten liegt. Dass Südafrika nicht in der Lage ist, sich von dem Kontinent zu lösen, frustriert ihn maßlos. Dasselbe gilt für die Tatsache, dass Südafrika das Element „Afrika“ nicht loswerden kann, das Gott weiß warum leider an seinen Namen angehängt wurde; vielleicht wäre „Südrepublik“ geeigneter.

Der Bürgermeister hat gegen Migranten gewettert. Damit steht er nicht allein. Auch in den Vereinigten Staaten von Amerika wettert Präsident Donald Trump gegen Migranten. Am 1. Oktober 2019 meldete die New York Times, er habe, um Migranten fernzuhalten, „oft davon gesprochen, eine Grenzmauer mit einemwassergefüllten, mit Schlangen oder Alligatoren besetzten Graben zu verstärken“. Er wollte die Mauer elektrifizieren und mit Stacheln bestücken lassen, die menschliches Fleisch durchbohren können. Der Präsident will die Grenze komplett schließen. Dasselbe will der Bürgermeister von Johannesburg.

Ich weiß nicht, ob der Bürgermeister oder auch der Führer der Democratic Alliance von einer Grenzschließung à la Trump träumen, das heißt, ob sie wollen, dass die Grenzen Südafrikas zu einem Ort werden, an dem Menschenfleischdurchbohrt wird oder Menschen zu einem „Braai“ verarbeitet oder durch Stromschläge getötet werden. Ich weiß nur, dass jemand, der sich wünscht, ein anderer möge durchbohrt, durch einen Stromschlag getötet oder gebraten werden, kein menschliches Herz hat.

 

Schwarz-schwarzer Rassismus

 

Was sind nun die Fakten? Südafrika hat von fast allen afrikanischen Staaten die besten Leistungen vorzuweisen, was den Vollzug der Einwanderungsbestimmungen und die Kontrollkapazität betrifft. Schließlich wurde der südafrikanische Staat gegründet, um Schwarze rücksichtslos in starre Mobilitätsmuster zu pressen. Um sich quasi ein Monopol über ihre Bewegungen zu sichern, erfand er eines der brutalsten Systeme für Wanderarbeiter, das die Welt außer der Sklaverei kennt. Er hat den Raum in verschiedene abgegrenzte Bruchstückeaufgeteilt und mit verschiedenen Enklaven, mit Zonen des Wohlstands und der Vernachlässigung, mit Reservaten und Korridoren, Pufferzonen und Bantustans durchsetzt, alles unter den Vorzeichen von Rasse und Ethnizität.

Diese Maschinerie wurde zwar teilweise abgebaut, der Habitus aber ist am Leben geblieben. Zu ihm gehört die Befugnis, unerwünschte Ankömmlinge festzunehmen, zu inhaftieren, abzuschieben und gewaltsam zu entfernen, die es so in keinem anderen afrikanischen Staat gibt. Zur Umsetzung dessen gehören massive Gewaltanwendung genauso wie katastrophale und emotional traumatische Erfahrungen. Heute leiden viele schwarze „ausländische Staatsangehörige“ unter dieser Gewalt, die ursprünglich dafür vorgesehen war, schwarze Südafrikaner im Zaum zu halten. Das ist eine Tatsache.

Es ist auch eine Tatsache, dass die südafrikanische Einwanderungspolitik nur teilweise entrassifiziert worden ist. In Zeiten der Apartheid praktizierte das Land ein Einwanderungssystem mit zwei Türen. Wer aus einem weißen, europäischen Land kam, konnte die Vordertür benutzen. Für schwarze Südafrikaner galten Passgesetze, und schwarze Einwanderer aus den Nachbarstaaten konnten durch die Hintertür eintreten. Normalerweise waren Schwarze von hier und Schwarze von anderswoher lediglich „Besucher auf Zeit“. Die Apartheid mag zwar abgeschafft sein. Die Tatsache jedoch bleibt. Für Schwarze von anderswoher hat die Einreisemaschinerie Südafrikas nach der Apartheid ihre Einstellungen geändert. Da es (besonders in den Bergwerken) kaum noch Arbeit gibt, steht die Logik der Erfassung nicht länger an erster Stelle. Sie wurde ersetzt durch die Logik der Zeitweiligkeit. Schwarze von anderswoher können und sollten nicht darauf hinarbeiten, dauerhaft in Südafrika ansässig zu werden. Ihr Aufenthalt in Südafrika kann nur zeitweilig sein. Ein dauerhafter Wohnsitz hier kann nur eine Ausnahme sein. Denn Schwarze von anderswoher müssen irgendwann einmal dorthin zurückgehen, woher sie gekommen sind. Verfassungsmäßig kann Südafrika nicht ihre Heimat werden, sowohl weil sie von anderswo sind als auch weil sie schwarz sind.

Also ist jetzt nach dem Alter des weißen Rassismus die Zeit des schwarzschwarzen Rassismus angebrochen. Wie der französische Vordenker der Entkolonialisierung, Frantz Fanon, vor nicht allzu langer Zeit vorausgesehen hat, wandeln sich südafrikanische Formen des schwarzen Nationalismus zu virulenten Spielarten des schwarz-schwarzen Rassismus. Als ethnisch-rassisches Projekt zielt diese neue Form des schwarzen Nationalismus auf eine Trennung von Afrika und seiner Diaspora ab. Sie hat sich zwei Feinde geschaffen: einen, den sie fürchtet und beneidet (Weiße oder weißes Monopolkapital), und einen, den sie verachtet und verabscheut (Schwarze von anderswoher). Eine wundersame Entwicklung hat zu der Überzeugung geführt, dass Xenophobie Arbeitsplätze schaffen, Verbrechen bekämpfen und Südafrika in einen irdischen Garten Eden verwandeln kann. Sie hat den weißen Rassismus verinnerlicht und setzt ihn als Waffe gegen schwarze Nichtbürger ein, wobei sie staatliche Einrichtungen bösartig zweckentfremdet.

Wenn die Aufgabe staatlicher Einrichtungen gestern darin bestanden hat, sich schwarzer Menschen zu bemächtigen, um sie als Arbeitskräfte auszubeuten, sind schwarze Nichtbürger heute die Zahnräder in der riesigen Abschiebungsmaschinerie, die Südafrika seit 1994 aufgebaut hat. Was Schwarze von anderswoher angeht, kreist das Immigrationssystem nach 1994 um das Konzept der Abfallentsorgung. Die beherrschende Zielsetzung, die jedem Versuch einer Neufassung des Einwanderungsrechts zugrunde liegt, besteht darin, sogenannte ungelernte Schwarze von anderswoher aus Südafrika herauszuhalten. Wenn es das Ziel des Apartheid-Staates war, Weiße ins Land zu holen, gilt für das demokratische Regime nach der Apartheid das Ziel, Schwarze von anderswoher auszuschließen. Bezeichnet werden sie dabei als „irreguläre, gering qualifizierte Migranten ohne Dokumente“.

Was die Flüchtlinge angeht, so haben verschiedene Gesetzesänderungen das, was sie erwarten können, auf ein Minimum reduziert. Ihr Anrecht auf eine grundlegende Gesundheitsfürsorge und eine Grundschulbildung wurde 2008 gestrichen. Nach den jetzigen Regeln wird ihre Bewerbung um Asyl zwangsweise annulliert, wenn sie nicht neunzig Tage nach dem Ablaufdatum erneuert wird. Ihr Recht auf Arbeit ist auf bestimmte Kategorien beschränkt. Auf den Besitz eines abgelaufenen Asylbewerbervisums stehen Geldstrafen oder bis zu fünf Jahre Gefängnis. Offiziell benötigt Südafrika sogenannte „qualifizierte Migranten“. Tatsächlich jedoch wurden die Kontingente für Arbeitserlaubnisse seit 2004 verkleinert. Die Richtlinien gelten jetzt für Personen, die einem bestimmten Beruf, einer Kategorie oder einer Klasse angehören. Eine beschränkte Aufenthaltserlaubnis gilt jetzt als „Visum“. Das Einspruchsfenster für Aufenthaltserlaubnisse wurde von zwanzig auf zehn Tage verkürzt. Die Zeit, die man mit einem Südafrikaner verheiratet sein muss, um einen Antrag auf Einbürgerung stellen zu können, wurde verlängert. Laut dem Immigration Amendment Act von 2011 ist es für ein Geschäftsvisum erforderlich, sich zu einer Mindestinvestition von fünf Millionen Rand in die südafrikanische Wirtschaft zu verpflichten. Das Geld muss dabei aus dem Ausland stammen.

 

Bürger der Welt und Bürgerschaft in Afrika

 

Bis vor Kurzem mussten afrikanische Studenten noch eine Anzahlung für ihre Rückführung leisten. Die Klausel, laut der das Flüchtlingsgesetz unter Berücksichtigung der 1969 in Addis Abeba beschlossenen Flüchtlingskonvention der Organisation für Afrikanische Einheit (heute Afrikanische Union) sowie des Protokolls und der Genfer Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen (1951) umzusetzen ist, wurde aufgehoben. Asylsuchende werden nicht mehr als Flüchtlinge behandelt, bis ihr Status feststeht. Südafrika gibt sich nicht nur große Mühe, zu definieren, was sein afrikanisches Wesen ausmacht.

Das Land wird von einer virulenten Form des Neonationalismus erschüttert. Diese repressive, isolationistische Entwicklung soll anscheinend durch die Einrichtung einer Grenzverwaltungsbehörde gekrönt werden. In einem Artikel, der am 2. Oktober 2019 im Daily Maverick veröffentlicht wurde, erinnert der frühere Präsident Nigerias, Olusegon Obasanjo, an den Beitrag Nigerias „zu dem Kampf gegen den Kolonialismus im südlichen Afrika und die Apartheid in Südafrika“. Das war, so sagt er, „unsere Pflicht als Afrikaner“. Er fügt hinzu: „Als Schwarze glaubten wir und glauben immer noch, wir wären Weltbürger zweiter Klasse, wenn wir es zuließen, dass Schwarze irgendwo in der Welt, von Afrika nicht zu reden, aufgrund ihrer Hautfarbe als Bürger zweiter Klasse behandelt werden.“ Obasanjo hat recht, und die frühen Panafrikanisten in Südafrika waren sich dessen wohl bewusst. Unsere Eigenschaft als Bürger der Welt ist nicht von unserer Bürgerschaft zu Hause, in Afrika, zu trennen. In der Geschichte der Neuzeit war es nicht allen klar, dass wir, die Afrikaner, der Welt angehören. Jahrhundertelang haben Afrikaner und Menschen afrikanischer Abstammung dafür gekämpft, sicherzustellen, dass das Schicksal Afrikas in der Welt fest in unseren eigenen Händen liegt. Um unseretwillen wie auch der Menschheit insgesamt zuliebe – denn unser Schicksal ist mit dem der anderen, aller anderen, untrennbar verbunden. Daher beobachten wir gezwungenermaßen mit größter Sorge, wie Schwarze von anderswoher, aber auch Migranten jeder Art in Südafrika behandelt werden. Ich muss von den Afrikanern am unteren Ende der Verwundbarkeitsskala sprechen, denn sie sind exponierter und größerer Verachtung ausgesetzt als alle anderen. Afrikaner und Menschen afrikanischer Abstammung werden heutzutage verspottet, wenn sie uns an ihren bescheidenen Beitrag zum Kampf gegen die Apartheid erinnern. Auch im African National Congress sprechen viele heute nur noch von „nationaler Sicherheit“ und „nationalen Interessen“. Sie behaupten, Afrika nichts schuldig zu sein. Sie sind überzeugt, dass Afrika eine Last ist und dass Südafrika unserem Kontinent nichts schuldet.

Jedoch, wie Olusegun Obasanjo sagt: „Wir haben es nicht wegen der Belohnung oder eines materiellen Nutzens getan. Wir haben es getan, weil wir überzeugt waren, dass es unsere Pflicht war, unsere Verantwortung und unsere Verpflichtung gegenüber der Menschlichkeit und der schwarzen Rasse.“ Ich werde nicht von „der schwarzen Rasse“ reden. Aber eines weiß ich sicher: Kein Land der Welt ist der Menschlichkeit nicht verpflichtet. Südafrika setzt alles aufs Spiel, wenn es sich dafür entscheidet, nur auf die stets prekäre Politik der Macht zu setzen, anstatt seine Verpflichtung gegenüber der Menschlichkeit bewusst und getreulich zu erfüllen. Denn wenn Macht etwas bedeuten und Bestand haben soll, muss sie auf festen moralischen Grundmauern stehen.

 

Ein Kontinent als Freiraum

 

Was ist also zu tun? Wir müssen allmählich die Grenzen abschaffen, die wir aus der Kolonialzeit ererbt haben. Wir müssen aus diesem Kontinent einen riesigen Freiraum, ein eigenes Zentrum schaffen.

1963 übernahm die Organisation für Afrikanische Einheit das Prinzip der Unantastbarkeit der kolonialen Grenzen. Die Zeit ist gekommen, diese Grenzen aufzutauen. Ich bezeichne das als „Entgrenzung“.

Ein entscheidender Schritt im Übergang zu einem grenzenlosen Afrika besteht darin, dass alle afrikanischen Staaten die Migration innerhalb unseres eigenen Kontinents grundsätzlich befürworten. Die Entkolonialisierung kann nur erreicht werden, wenn jeder Afrikaner und jede Person afrikanischer Abstammung das Grundrecht erhält, sich auf dem Kontinent unserer Vorfahren frei zu bewegen.

Sich frei und ohne Beschränkungen bewegen und sich niederlassen zu können, ohne sich und das eigene Menschentum ständig verteidigen zu müssen, ohne ständig bedrängt und zur Rückkehr nach Hause aufgefordert zu werden, ist eines der tragischsten Probleme unserer Geschichte in der Welt der Neuzeit. Deshalb fordere ich ein Moratorium für Abschiebungen auf unserem Kontinent. Geben wir uns zehn Jahre Zeit, damit wir als Kontinent ein Großprojekt zur Umgestaltung der Grenzen für die Integration des Kontinents ins Leben rufen können.

Wir müssen keine bestehenden Grenzen schließen. Wir müssen massiv in ihre Modernisierung als einen notwendigen Schritt zu ihrer Stilllegung investieren. Um die Mobilität der Menschen auf unserem Kontinent besser steuern zu können, müssen wir Systeme und Technologien bereitstellen und Kompetenzen pflegen. Dazu gehört die Priorisierung von Einreiseerlaubnissen, die allgemeine Einführung von One-Stop-Grenzposten zur Erleichterung des Handels und zur Beschleunigung des Gütertransports, die Einführung biometrischer Systeme und elektronischer Systeme für die Zollfreigabe in einem Schritt sowie der Einsatz von Scannern und effizienten Fahrzeugen. Dazu gehört auch die Abschaffung der Visumspflicht für so viele afrikanische Länder wie möglich, die Straffung von Prozessen für diejenigen, die in unseren jeweiligen Regionen Geschäfte tätigen wollen, und die Vergabe von Visa bei der Ankunft.

Eröffnen wir jetzt ein Jahrzehnt, in dem wir den alten Traum von einer afrikanischen Nationalität dadurch wiederbeleben, dass wir entsprechend qualifizierten Personen die Bürgerrechte zuerkennen und einander sowie den Menschen afrikanischer Abstammung das gewähren, was in der Verfassung von Ghana als Aufenthaltsrecht bezeichnet wird. Wir müssen in unserer irdischen Geschichte einen Punkt erreichen, an dem kein Afrikaner und keine Person afrikanischer Abstammung mehr abgeschoben werden kann, kein Afrikaner und keine Person afrikanischer Abstammung gezwungen werden kann, zu flüchten, das Leben bei dem Versuch aufs Spiel zu setzen, Berge, Wüsten, Flüsse und Meere zu überwinden, um an einen Ort zu gelangen, an dem er oder sie nicht willkommen ist, schwer misshandelt oder an Körper und Seele brutalisiert und erniedrigt werden könnte. Ein für alle Mal – bringen wir das Zeitalter der Schande zu Ende. Möge Südafrika, die jüngste und gleichzeitig älteste Tochter unseres Kontinents, bei diesem unserem letzten Vorstoß zu unserer kollektiven Befreiung die Führung übernehmen!

 

Achille Mbembe, geboren 1957 in Malandè bei Otélé (Kamerun), Historiker, Politikwissenschaftler und Theoretiker des Postkolonialismus, Professor am Institute of Social and Economic Research, University of the Witwatersrand, Johannesburg (Südafrika).

 

Der Beitrag ist eine gekürzte Fassung des Vortrags des Autors zum Thema „Blacks From Elsewhere and the Right of Abode“, Ruth First Memorial Lecture 2019, Wits-Theater, Johannesburg (Südafrika), 3. Oktober 2019.

Übersetzung aus dem Englischen: Wilfried Becker, Germersheim

 

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