Am Morgen des 5. November 2024 ließ die Bundesanwaltschaft acht mutmaßliche Mitglieder einer rechtsextremistischen terroristischen Vereinigung in Sachsen und Polen festnehmen. Laut Haftbefehl wird der Gruppe, die sich im November 2020 gegründet haben soll und sich selbst „Sächsische Separatisten“ nennt, ein rassistisches, antisemitisches und in Teilen apokalyptisches Weltbild vorgeworfen. Die Gruppierung bereite sich auf einen „Tag X“ vor, an dem sie mit Waffengewalt Gebiete in Sachsen und gegebenenfalls in anderen ostdeutschen Ländern erobern wolle, um dort ein am Nationalsozialismus ausgerichtetes Staatsund Gesellschaftswesen zu errichten.1
Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, erläuterte, dass die Anhänger der Vereinigung der sogenannten Siege-Szene – das Wort „siege“ bedeutet im Englischen „Belagerung“ – beziehungsweise dem militanten Akzelerationismus angehören.2 Ob sich dieser Anfangsverdacht bestätigt, werden die Ermittlungen zeigen – es wäre jedoch nicht der erste Fall einer in Deutschland operierenden Gruppe, die diese Ideologie teilt.
Kollaps des politischen Systems
Akzelerationismus (lateinisch accelerare – „beschleunigen, beeilen, herbeieilen, fördern, befördern“) ist ein politisches Konzept, das darauf setzt, dass bestimmte Bereiche moderner Gesellschaften unaufhaltsam unter ihrem eigenen Gewicht kollabieren werden.3 Da dieser Prozess nicht umkehrbar sei, soll er umso mehr beschleunigt werden. Im linken Akzelerationismus werden dabei die Widersprüchlichkeiten von modernen kapitalistischen Gesellschaften in den Mittelpunkt gestellt. Dies unterscheidet ihn vom rechten Akzelerationismus, der die Gleichstellung von Individuen als Gefahr betrachtet. Mitte der 2010er-Jahre fand dieses Konzept seinen Weg in die US-amerikanische rechtsextreme Szene und wurde entsprechend angepasst. Zum einen interpretierte der britische Philosoph Nick Land die politische Theorie im rechtslibertären Sinne um, was die Aufmerksamkeit in der rechtsextremen AltRight-Szene hervorrief. Zum anderen griff der US-amerikanische Neonazi James Mason in seinem Newsletter Siege auf Elemente des Akzelerationismus zurück.4
Als Ergebnis dieser Entwicklung formierte sich eine Strömung des Rechtsextremismus, die mittels antisemitischer und rassistischer Verschwörungsnarrative ein dystopisches, apokalyptisches Weltbild generierte, dem zufolge die eigenen politischen Forderungen nicht mehr an der Wahlurne durchgesetzt werden können, weshalb Mitglieder der Szene auf Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung zurückgreifen. Militanter Akzelerationismus wird somit als eine Reihe von Taktiken und Strategien definiert, die darauf abzielen, Druck auf eine latente soziale Spaltung auszuüben und diese – oftmals durch Gewaltanwendung – zu verschärfen, um den Zusammenbruch der Gesellschaft zu beschleunigen.5
Wie das Vorhaben im operativen Bereich umgesetzt werden soll, zeigt ein grafisch animierter Leitfaden, der in bestimmten Telegram-Gruppen geteilt wird. Szenemitglieder sollen die Produktion von Fabriken durch Sabotageakte auf kritische Infrastruktur, etwa auf die Stromversorgung, nachhaltig beeinträchtigen. Dies wirkt sich auf die finanzielle Gesamtsituation der Region oder des gesamten Staates aus, die eine sozioökonomische Krise herbeiführt. Dadurch sollen bestehende Probleme der Gesellschaft intensiviert und mit einer Fortführung dieser Aktivitäten ein Kollaps des politischen Systems initiiert werden, der in einem Bürger- und Rassenkrieg kulminiert. Sich selbst erachten militante Akzelerationisten dabei als triumphierende Sieger, die in der Lage sind, eine neue Gesellschafts- und Politikordnung zu etablieren.6
Prägendes Merkmal der Bewegung ist ihr digitales Agieren, da für die Verbreitung der eigenen Propaganda vor allem der Messengerdienst Telegram – innerhalb der Szene auch Terrorgram genannt – genutzt wird, was unweigerlich zu einer transnationalen Vernetzung führt. 2019 tötete ein australischer Rechtsterrorist 51 Menschen im neuseeländischen Christchurch und streamte seine Tat live. Sowohl die Videoaufnahmen als auch sein Manifest, in dem er sein rassistisches Weltbild darlegte, verbreiteten sich schnell und motivierten andere zu Terrorakten. Drei Jahre später tötete ein weiterer Rechtsterrorist im US-amerikanischen Buffalo zehn Menschen, wobei die Tat nicht nur ähnlich ideologisch motiviert war, sondern auch von der gleichen Methode des Livestreamings begleitet wurde. Der transnationale Charakter der Bedrohung zeigte sich auch im Jahr 2024. Im türkischen Eskişehir verletzte ein Angreifer fünf Personen mit einem Messer – er streamte seine Tat ebenfalls live und bezog sich in seinem Manifest auf etliche militant akzelerationistische Täter vor ihm – unter anderem auf den Anschlag in Christchurch.
Auch in der Bundesrepublik Deutschland lassen sich entsprechende Strukturen identifizieren. Am 1. Juni 2018 gab die in den USA ansässige militant akzelerationistische und rechtsterroristische Vereinigung Atomwaffen Division – ihr Logo ist ein schwarz-weißes Strahlenwarnzeichen, das an Kennzeichen der Waffen-SS erinnert – die Gründung eines deutschen Ablegers bekannt. In einem Video posiert eine Person mit einer Pistole vor einer Hakenkreuzflagge und ruft dazu auf, sich der Bewegung anzuschließen. Im Gründungsjahr konzentrierte sich die „Atomwaffen Division Deutschland“ auf die Rekrutierung neuer Mitglieder sowie auf die Verbreitung von Propagandamaterialien. In den Bibliotheken der Berliner Humboldt-Universität sowie der Goethe-Universität Frankfurt am Main wurden rassistische und antisemitische Flyer gefunden.
Verschwörungsnarrativ „Großer Austausch“
Ein Jahr später, kurz vor dem 15. Jahrestag des vom „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) verübten Anschlags vom 9. Juni 2004 in der Kölner Keupstraße, verschickte die „Atomwaffen Division Deutschland“ unfrankierte Umschläge mit rassistischen Inhalten an Haushalte in Köln-Mülheim. Diese Aktion diente nicht mehr der Mitgliederrekrutierung, sondern der gezielten Einschüchterung von muslimischen Menschen. Langfristig sollte eine gesellschaftliche Spaltung durch Sabotageaktionen und andere Formen der Gewaltanwendung erreicht werden. Nach der Bekanntmachung im Jahr 2019, der zufolge die Aufbauphase abgeschlossen sei und man zu bewaffneten Aktionen übergehen könne, kam es allerdings nicht zu erneuten Aktivitäten. Am 6. April 2022 führten Durchsuchungen von Ermittlungsbehörden zur Festnahme von zehn mutmaßlichen Mitgliedern der „Atomwaffen Division Deutschland“.7
Der militante Akzelerationismus manifestiert sich nicht nur in Gruppen, sondern ist ebenfalls bei Einzeltätern auszumachen. Sowohl bei Personenzusammenschlüssen als auch bei Individuen lassen sich die gleichen ideologischen Elemente finden, vor allem der Glaube an einen „Großen Austausch“. Dieses verschwörungsideologische Narrativ verbreitet, dass die Bevölkerung Europas durch eine gesteuerte Zuwanderung aus Afrika sowie dem Nahen und Mittleren Osten substituiert werden soll. Dass dieses Verschwörungsnarrativ zu konkreten Gewalttaten motivieren kann, verdeutlicht das Manifest von Stephan B. – der Rechtsterrorist versuchte am 9. Oktober 2019, in eine Synagoge in Halle (Saale) einzudringen, um Jüdinnen und Juden zu ermorden. Als ihm dies nicht gelang, tötete er zwei Personen in der näheren Umgebung.8
Auch künftig stellt militant akzelerationistisch motivierte Gewalt eine Bedrohung dar. Einzelne Entwicklungen lassen sich bereits prognostizieren. Es spricht vieles dafür, dass die bisherigen Feindbilder, jüdische und muslimische Menschen sowie Mitglieder der LGBTQI+-Szene, weiterhin zentrale Angriffspunkte der Ideologie bleiben. 3D-gedruckte Waffen, wie sie bereits Stephan B. benutzte, werden in ihrer Herstellung und Wirkungseffizienz zuverlässiger und vermehrt von Angehörigen der Szene verwendet. Die Professionalisierung der Verbreitung ideologischer Narrative über schwach regulierte soziale Medien wird gleichermaßen voranschreiten.
Um diesen Herausforderungen zu begegnen, müssen Sicherheitsbehörden die rechtsextremistischen Aktivitäten im digitalen Raum besser überwachen beziehungsweise kontrollieren können. Eine Anpassung der aktuell gültigen rechtlichen Grundlagen ist dafür zwingend notwendig. Gleichzeitig müssen Plattformbetreiber ihrer Verantwortung nachkommen und entsprechende Inhalte nach einer ordnungsgemäßen Überprüfung löschen oder rechtsextreme Netze mittels „Deplatforming“ vollständig zerschlagen. Darüber hinaus muss die Präventionsarbeit auf minderjährige und internetaffine Personen angepasst werden, um die derzeitigen Radikalisierungstendenzen eindämmen zu können.
Felix Neumann, geboren 1996 in Dresden, Referent für Extremismus- und Terrorismusbekämpfung, Hauptabteilung Analyse und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.
[1] Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof: Festnahme von acht mutmaßlichen Mitgliedern einer rechtsextremistischen terroristischen Vereinigung, 05.11.2024, www.generalbundesanwalt.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2024/Pressemitteilung-vom-05-11-2024.html [letzter Zugriff: 18.11.2024].
[2] Konrad Litschko / Jean-Philipp Baeck / Anne Fromm / Johannes Grunert: „‚Sächsische Separatisten‘ mit Verbindungen zur AfD“, in: taz, 05.11.2024, www.taz.de/Festnahmen-von-Neonazis-in-Sachsen/!6046702/ [letzter Zugriff: 18.11.2024].
[3] Matthew Kriner / Erica Barbarossa / Isabela Bernardo / Michael Broschowitz: „Behind the Skull Mask: An Overview of Militant Accelerationism“, in: Global Network on Extremism & Technology, 04.04.2024, https://gnet-research.org/2024/04/04/behind-the-skull-mask-an-overview-of-militant-accelerationism/ [letzter Zugriff: 18.11.2024].
[4] Zack Beauchamp: „Accelerationism: the idea inspiring white supremacist killers around the world“, in: Vox, 18.11.2019, www.vox.com/the-highlight/2019/11/11/20882005/accelerationism-white-supremacy-christchurch [letzter Zugriff: 18.11.2024]; Miro Dittrich / Jan Rathje / Thilo Manemann / Frank Müller: „Militanter Akzelerationismus. Ursprung und Aktivitäten in Deutschland“, Report, Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS), 15.09.2022.
[5] Matthew Kriner: „An Introduction to Militant Accelerationism“, in: The Accelerationism Research Consortium, 2022, www.accresearch.org/shortanalysis/an-introduction-to-militant-accelerationism [letzter Zugriff: 18.11.2024].
[6] Kriner / Barbarossa / Bernardo / Broschowitz, a. a. O., siehe En. 3.
[7] Miro Dittrich / Jan Rathje / Thilo Manemann / Frank Müller: „Militanter Akzelerationismus. Ursprung und Aktivitäten in Deutschland“, Report, Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS), 15.09.2022.
[8] Matthew Kriner / Meghan Conroy / Alex Newhouse / Jonathan Lewis: „Understanding Accelerationist Narratives: The Great Replacement Theory“, in: Global Network on Extremism & Technology, 30.05.2022, https://gnet-research.org/2022/05/30/understanding-accelerationist-narratives-the-great-replacement-theory/ [letzter Zugriff: 18.11.2024].