Kürzlich interviewte die ARD-Journalistin Sandra Maischberger Bundeskanzler Friedrich Merz. Wohl in dem Bemühen, dem Gespräch eine heitere Note zu geben, fragte sie ihn, ob er Berlin vermisse, wenn er die Wochenenden im Sauerland verbringe. Merz antwortete, es sei gerade umgekehrt: Wenn er unter der Woche in Berlin sei, vermisse er das Sauerland. An diese Möglichkeit einer Antwort hatte Maischberger offensichtlich nicht gedacht. Diese kleine Szene illustriert ein Problem, das den Zusammenhalt der Gesellschaft in Deutschland erheblich belastet: die anscheinend zunehmende Unfähigkeit – oder der Mangel an Bereitschaft – weiter Teile der Eliten in Wissenschaft, Kultur und Medien, sich in die Lebenswelt von Menschen außerhalb ihrer eigenen Kreise hineinzuversetzen.
In den letzten Jahren ist in der Öffentlichkeit oftmals behauptet worden, dass sich die Gesellschaft in Deutschland zunehmend spalte und radikalisiere. Dieser These wird nur selten widersprochen. Doch geht man der Sache mit den Methoden der Umfrageforschung nach, zeigt sich, dass die Vorstellung, wonach die Gesellschaft gleichsam in der Mitte auseinanderbricht, nicht zutrifft – ein Befund, den beispielsweise auch die Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser in ihrem Buch Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft ausführlich darlegen. Auch die These der Radikalisierung ist nicht uneingeschränkt haltbar. Zwar kann nicht bestritten werden, dass in den letzten Jahren radikale Parteien, allen voran die AfD, immer stärker geworden sind, doch damit geht kein entsprechender Anstieg radikalen Denkens einher. Links- und rechtsradikale Denkmuster waren 2024 in der Bevölkerung nicht weiter verbreitet als 2019.
Dies alles bedeutet allerdings noch nicht, dass die These von einer Spaltung der Gesellschaft gänzlich falsch wäre. Tatsächlich gibt es Anzeichen für sich vertiefende gesellschaftliche Gräben, doch diese verlaufen anders, als meist angenommen wird, nämlich nicht durch die Mitte der Gesellschaft, sondern zwischen einer in den Medien tonangebenden intellektuellen Elite auf der einen und der großen Mehrheit der Bevölkerung auf der anderen Seite, in der ein wachsender Teil in den letzten Jahren den Eindruck gewonnen hat, dass auf ihn keine Rücksicht mehr genommen werde. Erkennbar wird dies beispielsweise an den Ergebnissen der vom Institut für Demoskopie Allensbach regelmäßig in Repräsentativumfragen gestellten Frage: „Hat man als Bürger Einfluss auf das, was hier am Ort geschieht, oder ist man da machtlos?“ Seit 1992, als die Frage zum ersten Mal gestellt wurde, stieg langsam, aber eindeutig die Zahl derjenigen, die sagten, man habe durchaus Einfluss auf die Vorgänge am Wohnort. Vor rund drei Jahrzehnten vertraten 22 Prozent der Befragten diese Meinung. 2021 war der Wert auf 47 Prozent gestiegen. Dann aber, im Juni 2023, fiel er auf 29 Prozent zurück. Umgekehrt war von 1992 bis 2021 die Zahl derer, die sagten, man sei als Bürger machtlos, von 55 auf 30 Prozent zurückgegangen. 2023 lag der Wert wieder bei 52 Prozent und damit fast auf dem gleichen Niveau wie drei Jahrzehnte zuvor (siehe Grafik 1). Noch negativer sind die Werte in Ostdeutschland: Hier meinten fast zwei Drittel, 63 Prozent, man sei als Bürger machtlos. Nur 15 Prozent widersprachen.
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen Nr. 5069, 6075, 7068, 10049, 11034, 12038, 12072.
Beim Ansehen der Institutionen ist eine ähnliche Entwicklung zu verzeichnen: Gemeinhin wird angenommen, dass das Institutionenvertrauen in Deutschland seit Jahrzehnten kontinuierlich rückläufig sei, doch das trifft nicht zu, im Gegenteil: In der Zeit von der Mitte der 2000er-Jahre bis etwa 2020 stieg das Ansehen von Institutionen wie etwa dem Deutschen Bundestag, der Bundesregierung oder – wenn auch auf sehr niedrigem Niveau – der Parteien. Erst in jüngster Zeit, in den vergangenen vier, fünf Jahren, sind in dieser Hinsicht wieder deutliche Rückschritte zu verzeichnen.
Dennoch ist die These vom allgemeinen Verfall des Vertrauens der Bürger in den Staat und seine Institutionen und Vertreter nicht gänzlich falsch. Im Vergleich zur Situation in Westdeutschland in den 1970er- und 1980er-Jahren lag das Vertrauen in die Institutionen auch vor dem jüngsten Rückschlag auf einem deutlich niedrigeren Niveau.
Die Erosion des Institutionenvertrauens über Jahrzehnte hinweg ist nicht ohne den Einfluss der Berichterstattung der Massenmedien auf die Meinungsbildung der Bevölkerung zu verstehen. Das Archiv des auf Medieninhaltsanalysen spezialisierten Instituts Media Tenor International enthält in dieser Hinsicht äußerst aufschlussreiche Ergebnisse. Eine Auswertung aus dem Jahr 1996 zeigte, dass in den damals führenden Massenmedien alle politischen Institutionen – Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, andere Organisationen der Wirtschaft und Zivilgesellschaft – in der Berichterstattung überwiegend negativ bewertet wurden, mit Greenpeace als einziger Ausnahme.
Neben persönlichen Gesprächen sind die Medien die wichtigste Informationsquelle der Bevölkerung. Bei Fragen der „großen“ Politik, die das Alltagsleben nicht oder nur sehr indirekt betreffen, sind sie sogar besonders wichtig. Lassen sie fortwährend den Missstand als Regelfall erscheinen, entsteht jene Kultur der Institutionen- und Elitenverachtung, die den Boden zum Aufstieg populistischer und radikaler Bewegungen bereitet. Die Erfolge radikaler Parteien in der Gegenwart sind ohne die – ohne Zweifel unbeabsichtigte – langjährige Vorbereitung durch die Massenmedien nicht denkbar.
Vertrauensverlust in die öffentlich-rechtliche Medien
Was in vielen Redaktionen allerdings vermutlich nicht bedacht wurde, ist, dass die von ihnen beförderte Verachtung gegenüber den Eliten und Institutionen letztlich auch die Medien selbst treffen könnte. Lange Zeit schien es tatsächlich so, als wären diese gegenüber dem Ansehensverfall, der andere Organisationen betraf, weitgehend immun. 2024 zeigten sich nun jedoch Anzeichen eines Glaubwürdigkeitsverlusts – speziell der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Nach wie vor sind ARD und ZDF für die Bevölkerung die wichtigste Quelle für politische Information. Selbst bei den unter 30-Jährigen behaupten sie sich neben den für diese Generation besonders wichtigen Internetquellen bemerkenswert gut. Noch 2023 sagten 77 Prozent der vom Allensbacher Institut Befragten, die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender seien eine besonders zuverlässige Informationsquelle. 2024 aber war der Anteil derer, die diese Antwort gaben, um 22 Prozentpunkte auf 55 Prozent zurückgefallen. Eine derart drastische Veränderung der Antworten von einem Jahr auf das folgende ist in der Umfrageforschung sehr ungewöhnlich und erweckt den Verdacht, dass es sich um einen „statistischen Ausreißer“ handeln könnte; eine starke, aber dennoch zufallsbedingte Schwankung, wie sie in einer von hundert Umfragen unvermeidlich einmal vorkommt. Doch die übrigen Ergebnisse derselben Umfrage zeigen keine Auffälligkeiten, sodass der Verdacht, dass die Befragtenstichprobe als Ganzes verzerrt sein könnte, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausscheidet. Man wird für ein endgültiges Urteil weitere Umfragen abwarten müssen; bis auf Weiteres spricht jedoch alles dafür, dass das Vertrauen in die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender in jüngster Zeit massiv gelitten hat.
Ein wesentlicher Grund für diesen Vertrauensverlust liegt wahrscheinlich darin, dass sich viele Bürger in der Berichterstattung der Medien nicht mehr wiederfinden. Dies zeigen die Antworten auf die Frage „Wenn Sie einmal daran denken, wie die Medien berichten: Wird dabei oft die Meinung vertreten, die auch Sie haben, oder haben Sie das Gefühl, dass Ihre Sichtweise in den Medien kaum oder gar nicht vertreten ist?“ Nur 28 Prozent der Befragten antworteten 2024 auf diese Frage, sie hätten den Eindruck, dass ihre Meinung oft vertreten wird. Deutlich mehr, 39 Prozent, sagten dagegen, ihre Meinung werde in den Medien kaum oder gar nicht vertreten. Da die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, wie bereits beschrieben, die wichtigste Informationsquelle auf dem Gebiet der Tagespolitik sind, muss man diese Antworten nicht zuletzt als Kommentar auf die Berichterstattung eben dieser Sender deuten. Dabei fällt auf, dass vor allem Befragte mit einfacher und mittlerer Schulbildung das Gefühl haben, ihre Meinung in den Medien nicht wiederzufinden, während dies bei Menschen mit Abitur oder Hochschulabschluss deutlich seltener der Fall ist (siehe Grafik 2).
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 12091.
Auch bei anderen Umfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung andere Prioritäten setzt als die maßgeblichen Redaktionen. Über die Medien werden Diskussionen geführt, die zwar wesentlich das politische Handeln bestimmen, aber weit an der Mehrheit der Bürger vorbeilaufen – man denke nur an die Einwanderungs- und Klimaschutzpolitik der letzten Jahre, das Gebäudeenergiegesetz oder den Beschluss, ab 2035 Autos mit Verbrennungsmotoren zu verbieten. Wenn aber alle demokratischen Parteien Ziele verfolgen und Entscheidungen mittragen, die zwar Intellektuellen und Journalisten gefallen, die Mehrheit der Bevölkerung aber befremden oder gar existenzielle Sorgen bei ihr auslösen, darf man sich nicht wundern, wenn sich bei dieser Mehrheit das Gefühl der Wehrlosigkeit breitmacht.
Zugleich wächst bei den Bürgern der Unmut über einen zunehmend als übergriffig empfundenen Staat, von dem sie den Eindruck haben, er wolle ihnen bis ins Kleinste vorschreiben, was sie zu denken und wie sie zu leben hätten. Und meistens, so der Eindruck, wird das, was sie selbst im Alltag tun, als falsch, wenn nicht gar als verwerflich gebrandmarkt. Bei den Bürgern kommt die Botschaft an: „Du hast die falschen politischen Ziele, du fährst das falsche Auto, du isst das Falsche, du bist ein unmoralischer Mensch.“
Das Gefühl der Gängelung
Hier wiederum liegt wahrscheinlich ein Schlüssel zum Verständnis der Krise der Demokratie speziell in Ostdeutschland. Der Ärger über die Bevormundung hat in ganz Deutschland zugenommen, besonders jedoch in den neuen Bundesländern. Dort haben die Menschen über Jahrzehnte hinweg die Erfahrung mit einem totalitären Staat machen müssen, der sie in keinem Winkel ihres Lebens in Ruhe ließ. Der Charakter vieler aktueller öffentlicher Diskussionen weckt da ungute Erinnerungen, was wiederum viele Westdeutsche, die keine derartigen Erfahrungen machen mussten, nicht verstehen. Wenn sich Ostdeutsche über eine „Meinungsdiktatur“ beklagen, die sie an die DDR erinnere, reagieren Westdeutsche darauf nicht selten empört mit dem Verweis darauf, dass man die heutigen Zustände doch nicht mit denjenigen in der DDR vergleichen könne. Dabei verstehen sie nur nicht, worauf die Gegenseite hinweisen will: Natürlich wissen die meisten Ostdeutschen sehr gut, dass die Bundesrepublik keine Diktatur ist. Doch sie haben genug Erfahrungen mit einem Staat gemacht, der ihnen vorschreiben wollte, was sie zu denken und wie sie sich zu verhalten hätten, um zu wissen, dass sie das nie wieder haben wollen.
Man kann annehmen, dass hier ein nicht unbedeutendes Motiv liegt, sich Protestparteien zuzuwenden. Psychologisch ausgedrückt: Das Gefühl, gegängelt zu werden, führt zu Reaktanz. Das ist demokratietheoretisch eigentlich ein zu begrüßender Reflex. Doch wenn er nur von radikalen Parteien ernst genommen und aufgegriffen wird, unterhöhlt dies letztlich dennoch die Demokratie. Allein schon deswegen wird eine wichtige Aufgabe in den nächsten Jahren sein, den belehrenden, besserwisserischen Tonfall aus der öffentlichen Diskussion zu verbannen. Die in Politik und Medien tonangebenden Eliten müssen wieder lernen, anderen Menschen zuzuhören, bevor sie Urteile fällen oder gar versuchen, ihnen ihre Normen aufzuzwingen. Der Graben zwischen der intellektuellen Elite und der übrigen Bevölkerung ist tiefer und gefährlicher als die viel beklagte angebliche Spaltung in der Mitte der Gesellschaft.
Thomas Petersen, geboren 1968 in Hamburg, Kommunikationswissenschaftler und Meinungsforscher, Projektleiter beim Institut für Demoskopie Allensbach (IfD).