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von Markus Römer

Gesellenwanderung – Vergangenheitsrelikt oder Hochschule des Handwerks?

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Wer über den Brauch der Gesellenwanderung berichtet, bewegt sich auf dünnem Eis. Dies gilt zumindest dann, wenn der Fokus nicht auf der Vergangenheit und somit auf der mehr als 700 Jahre alten Geschichte der Gesellenwanderung liegt, sondern auf dem Status quo. Es befinden sich zwar momentan nur etwa 450 Gesellinnen und Gesellen auf der Walz – aber die Kommunikation innerhalb ihres Netzwerks funktioniert hervorragend. Inkorrekte Zeitungsartikel oder zweifelhafte Darstellungen im Fernsehen verbreiten sich rasch und fallen Verantwortlichen nicht selten in Form der Bitte um Richtigstellung vor die Füße. Auch die interviewten und abgelichteten Gesellen müssen mitunter ihren Kameraden Rede und Antwort stehen, wenn sie sich missverständlich geäußert haben beziehungsweise entsprechend zitiert wurden. Deshalb verhalten sich die meisten Wandergesellen eher zurückhaltend, wenn es um Medienberichte geht.

Das sinnbildliche Eis ist für Beobachter der Wandergesellenkultur auch deswegen sehr dünn, da über „die“ Wandergesellen nur wenig Allgemeingültiges geschrieben werden kann: Von Laien zumeist als homogene Gruppe wahrgenommen, handelt es sich bei ihnen in Wirklichkeit um eine äußerst heterogene Gruppe von Individuen mit unterschiedlichsten Motivlagen, Herkunftsmilieus und Weltanschauungen, die sich nicht gern in Schubladen einordnen lassen. Darüber hinaus sind viele Wandergesellen Mitglied in Gesellenvereinigungen. Diese bilden – jede für sich – abgeschlossene soziale Sphären, in die selbst nicht zugehörigen Gesellen kaum Einblick gewährt wird. Soziologisch gesprochen, wird man in der Lebenswelt der Wandergesellen ständig mit Phänomenen der Inklusion und der Exklusion konfrontiert – wobei man sich als „Kuhkopp“, wie nicht wandernde Laien von den Gesellen genannt werden, meist in der Rolle des Außenstehenden befindet, dem vieles nicht verraten werden darf und der bei bestimmten internen Zusammenkünften und Ritualen nicht erwünscht ist.

Eine Abgrenzung findet bereits mittels des Sprachgebrauchs statt: Wörter wie „Kuhkopp“, aber auch „Schniegelei“ (Arbeit), „Platte machen“ (übernachten) oder „schmal machen“ (Reiseunterstützung organisieren) sind der alten Mundart des Rotwelschen entnommen und ermöglichen bei Bedarf eine Kommunikation zwischen Wandergesellen, ohne dass ein zufällig anwesender Laie versteht, worum es geht.

Die derart gepflegte Diskretion wird unter anderem historisch begründet: Seit dem Aufkommen der Gesellenbruderschaften im 14. Jahrhundert wurden diese von der Obrigkeit misstrauisch beäugt und teils strafrechtlich verfolgt. Im „Dritten Reich“ und in der DDR waren die Bruderschaften verboten – Geheimhaltung war überlebenswichtig. Dass dieselbe bis heute gepflegt wird, erhöht die Faszination für die Walz, macht es aber nicht leichter, die Balance zwischen sachlich richtiger Berichterstattung und einer als ungehörig empfundenen Anbiederung oder gar Indiskretion zu finden. Und: Über vieles kann der außenstehende Beobachter gar nicht berichten, da er es nie erfahren wird – der Respekt und die ethischen Regeln der Sozialforschung verböten einen solchen Vertrauensbruch ohnehin.

 

Wandernde Bäcker, zünftige Regeln

 

Was verraten werden darf: Wandergesellen sind Handwerkerinnen und Handwerker, die ihrem Wohnort für mehrere Jahre den Rücken kehren, um in Kluft – und damit in der Öffentlichkeit leicht erkennbar – zu reisen und in ihrem Gewerk zu arbeiten. Mehr als drei Dutzend unterschiedliche Gewerke befinden sich heute auf der Straße; es wandern längst nicht mehr nur Bauhandwerker, sondern auch Bäcker, Schuhmacher oder Goldschmiede. Selbst eine wandernde Friseurin, ein Elektriker und ein Fahrradmechaniker wurden vom Autor angetroffen. Die gegenwärtig praktizierte, gewerkeübergreifende Walz befindet sich im Einklang mit der historischen Wanderpraxis: Um 1400 setzte sich der Brauch der Gesellenwanderung im deutschsprachigen Raum allgemein durch, ab dem späten 16. Jahrhundert wurde er für die meisten Handwerker zur Pflicht.1

Dass heute auch Gewerke neueren Datums wandern, die im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit noch nicht existierten, führt innerhalb der Gemeinschaft der Wandergesellen von Zeit zu Zeit zu regen Diskussionen. Unterschiedlichste Positionen werden zu diesem Thema bezogen. Auch die Tatsache, dass die Walz in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts weiblicher wurde und heute zahlreiche Frauen wandern, wird intern teilweise immer noch kritisch gesehen – womit man aber auch schon im Bereich äußerst sensibel zu behandelnder Gesprächsthemen angekommen ist.

Die Wanderpflicht für Gesellen entfiel in Deutschland in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts – wer heute wandert, tut dies aus freien Stücken. Allerdings achtet die Gemeinschaft der Wandergesellinnen und -gesellen darauf, dass bestimmte Voraussetzungen bei Interessenten gegeben sind und eine Reihe von Regeln eingehalten werden: Interessenten sollten unter dreißig Jahre alt, unverheiratet, kinderlos und schuldenfrei sein. Die Regeln der zünftigen Walz beinhalten heute unter anderem den Verzicht auf ein eigenes Mobiltelefon sowie die Vorgaben, für Mobilität und Unterkunft möglichst kein Geld auszugeben. Der weltliche Besitz wird am Leibe getragen beziehungsweise im Bündel über der Schulter mitgeführt. Des Weiteren muss eine sogenannte „Bannmeile“ um den eigenen Wohnort beachtet werden, das heißt, dieser ist während der Walz – die mindestens zwei, meistens aber drei und mehr Jahre dauert – tabu.

Fern der Heimat in aufsehenerregender Kleidung und ohne Handy unterwegs? Trampen als gängiges, jedoch ziemlich unberechenbares Fortbewegungsmittel?

Regelmäßig mit dem Problem des nächsten Schlafplatzes konfrontiert und notgedrungen öfter einmal – selbstverständlich ohne Zelt – bei „Mutter Grün Platte machen“, also in der freien Natur campieren? Solche extremen Verhaltensweisen werfen unweigerlich die Frage auf: Warum tut man sich freiwillig so etwas an?

 

Weideschussverfahren und Kalfatern

 

Die meisten Gesellen geben als Motive für die Walz eine Mischung aus Abenteuer- und Reiselust sowie das Ziel an, sich im eigenen Gewerk weiterzuentwickeln. Dass eine solche Reise abenteuerlich ist, dass man in Kluft ständig im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht und sich vor Kontakten oft kaum retten kann, ist leicht vorstellbar. Ebenso leuchtet es ein, dass die Walz für die Herausbildung bestimmter lebenspraktischer Fähigkeiten förderlich ist, wie zum Beispiel für die Einübung eines selbstbewussten Auftretens oder für die klare Kommunikation der eigenen Wünsche und Interessen. Auf sich allein gestellt, werden auf der Straße selbstverantwortliches Handeln und auch eine gewisse stoische Gelassenheit schnell erlernt – oder die Wanderschaft wird aufgrund solcher Herausforderungen abgebrochen, was gelegentlich vorkommt.

Aber welchen berufsbildenden Lernwert hat die Walz heute? Hat der Ausdruck des Handwerksforschers Rudolf Wissell, der von der Walz als „Hochschule des Handwerks“2 sprach, nach wie vor seine Gültigkeit?

Diese Frage ist schwer zu beantworten. Grundsätzlich bietet die Walz zahllose Möglichkeiten, sich spannenden Projekten und Tätigkeiten zu widmen, die den alltäglichen Arbeitshorizont übersteigen: Sei es der Maurer, der schon seit Monaten keine gerade Wand mehr gemauert hat, da er sich nur die kompliziertesten Rundbögen aussucht, die Fleischerin, die sich für das in Deutschland noch seltene Weideschussverfahren interessiert, der Bootsbauer, der sich im Kalfatern, also im Abdichten von Schiffsplanken mit Hanf und Pech, übt, oder der Zimmerer, der in Japan beim traditionellen Holztempelbau mitwirkt und in Handarbeit Holzverbindungen fertigt – sie alle nutzen die Freiheit, die die Walz ihnen bietet, um sich in ungewöhnlichen Tätigkeiten auszuprobieren, mit denen sie in ihrem normalen Berufsalltag niemals in Kontakt gekommen wären.

Lernbegierigen Wandergesellen, die neue Fertigkeiten erlangen und ihnen bislang unbekannte Zweige ihres Gewerks oder anderer Gewerke erkunden wollen, kommen dabei zwei Umstände zugute: Erstens sind sie finanziell relativ unabhängig, da sie ihre materiellen Bedürfnisse auf ein Minimum reduzieren. Für nicht wenige Wandergesellen bedeutet dies, dass sie sich den Luxus leisten können, ausschließlich Arbeiten ihrer Wahl zu verrichten. Allerdings schwanken diese Freiheitsgrade von Gewerk zu Gewerk erheblich, wobei momentan insbesondere Gesellinnen und Gesellen der Baugewerke sehr viel Wahlfreiheit genießen. Trotzdem: Kein Wandergeselle arbeitet während der gesamten Walz „nur“ für Geld – das eine oder andere Wunschprojekt ist bei jeder und jedem dabei.

Zweitens begegnen Arbeitgeber Wandergesellen meist mit einer gewissen Toleranz. Wenn ein schweizerischer Dachdeckergeselle bei einer norddeutschen Reetdachdeckerei um Arbeit vorspricht, so ist von vornherein klar, dass ein etwaig zustande kommendes Anstellungsverhältnis deutlich von dem normalerweise erwartbaren abweicht. Im Betrieb ähnelt die Rolle von Wandergesellen oft eher der von Lehrlingen. Viele Arbeitgeber akzeptieren dies.

Am Beispiel Dachdeckerhandwerk wird klar: Im Handwerk existieren zahlreiche regionale Unterschiede, die auf der Walz kennengelernt werden können. Was davon später in den Berufsalltag übertragen werden kann, sei dahingestellt. Der handwerkliche Erfahrungshorizont wird dadurch jedoch allemal erweitert.

Abschließend bleibt festzustellen, dass bei der Walz – ähnlich wie bei einem Hochschulstudium – sehr viel von der Eigeninitiative und Eigenverantwortung des einzelnen Individuums abhängt. Allein schon deswegen ist die Frage nach dem Lernwert der Walz pauschal kaum zu beantworten. Zumindest bietet die Wanderschaft ein Höchstmaß an Freiheit und zahllose Gelegenheiten zur Weiterentwicklung im jeweiligen Gewerk – zumindest die vom Autor interviewten Personen schienen die Kultivierung dieser Freiheit äußerst zielstrebig zu betreiben.

 

Wertschätzung von Tradition

 

Wo immer Wandergesellen auftauchen, stehen sie im Mittelpunkt, sind Hingucker, Fotomotiv, Medienereignis. Für die meisten Menschen ist der Anblick von Wandergesellen in Kluft positiv konnotiert; oft wird ihnen ein gewisser Vertrauensvorschuss entgegengebracht – wovon die Gesellen bei der Suche nach dem nächsten Schlafplatz oder der nächsten Mitfahrgelegenheit profitieren. Wenn man bedenkt, wie radikal anders, ja konträr sich Wandergesellen zu gesellschaftlichen Trends und Buzzwords wie etwa „Digitalisierung“ verhalten, wirft das die Frage auf: Was verrät uns diese von Faszination geprägte Wahrnehmung über uns selbst?

Vielleicht bieten einige der manchmal sperrig anmutenden Begrifflichkeiten des Philosophen Hermann Lübbe Erklärungsansätze. Laut Lübbe befinden wir uns inmitten in einer Epoche, die sich durch eine nie dagewesene Schnelllebigkeit des zivilisatorischen Wandels auszeichnet. Ständig kommen Innovationen auf und lösen eben noch neue Produkte und Techniken, aber auch vertraute Handlungsmuster und Lebensweisen ab. Das Ergebnis: Unsere Welt veraltet schneller, wird uns schneller neu und unvertraut, als es jemals der Fall war – ein Phänomen, für das Lübbe den Begriff der „Gegenwartsschrumpfung“ geprägt hat.3 Eine Folge dieser epochalen Dynamik ist laut Lübbe, dass das Interesse am Historischen als Kompensation des erlebten Vertrautheitsverlustes steigt: Vergangene Zeiten werden mit einem nostalgischen Gefühl erinnert, die heutige Geschichtsfokussiertheit sei historisch ohne Beispiel, so Lübbe.

Im Zuge dieses allgemeinen Historismus nimmt auch das Interesse an kulturellen Traditionen zu. Traditionen, als auf Dauer gestellte menschliche Verhaltensformen, bilden einen Gegenpol zur permanenten Entscheidungsnotwendigkeit, mit der sich der moderne Mensch konfrontiert sieht. Allerdings sind nur wenige Traditionen im 21. Jahrhundert noch lebendig, denn die wissenschaftlich-technische Zivilisation zieht, so Lübbe, einen „Traditionsgeltungsschwund“ nach sich: Überlieferte Verhaltensweisen werden mittels rationaler Kriterien hinterfragt und eingestellt. Auch die Weiterführung der Walz stand in den 1970er-Jahren vor dem Aus; sie konnte sich jedoch regenerieren und ist heute – mit neuer Dynamik beseelt – eines der wenigen Beispiele für eine überregional bekannte, gelebte kulturelle Tradition in Deutschland.

Ausgehend von Hermann Lübbe darf vermutet werden, dass die in ihrer malerischen Kluft scheinbar unbeschadet durch die Zeit gereisten Gesellinnen und Gesellen dem historischen Interesse und dem nostalgisch gefärbten Kompensationsbedürfnis ihrer Zeitgenossen in hohem Maße entgegenkommen. Die auf der Straße zufällig anzutreffenden Wandergesellen sind wie äußerst unwahrscheinliche, aber sehr lebendige Boten der Vergangenheit, die von der Möglichkeit der Beständigkeit, ja der Möglichkeit zeitloser Dauer menschlich kultivierter Lebensart künden – kurz: von Qualitäten, die in der turbulenten, sich ständig selbst überholenden modernen Gegenwart selten geworden sind und die wir deswegen wertschätzend wahrnehmen.

 

Markus Römer, geboren 1977 in Hannover, Diplom Soziologe und Doktorand an der Universität Bayreuth, stellv. Leiter Verwaltung und Lehrgänge des Berufsbildungszentrums der Handwerkskammer Oldenburg. Im Rahmen seiner Dissertation interviewt er Wandergesellinnen und -gesellen zu ihren Erfahrungen auf der traditionellen Gesellenwanderung „Walz“.

 

 

1 Vgl. Knut Schulz: Handwerk, Zünfte und Gewerbe. Mittelalter und Renaissance, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2010, S. 54.

2 Rudolf Wissell: Des Alten Handwerks Recht und Gewohnheit, Colloquium Verlag, Berlin 1971 (Originalausgabe erschienen 1929 unter gleichem Titel), S. 301.

3 Vgl. Hermann Lübbe: Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, Springer Verlag, Berlin 1992.

 

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