Als der Parlamentarische Rat im Bonner Museum Koenig – auf den Tag genau vier Jahre nach Kriegsende und nach acht Monaten Arbeit – das Grundgesetz verabschiedete, konnte niemand ahnen, dass der Begriff „Bonner Republik“ schon bald und für lange Zeit zum Synonym für die zweite deutsche Demokratie werden sollte. Dies war vor allem deswegen bemerkenswert, weil das Grundgesetz ausdrücklich als Provisorium angelegt und gedacht war – bis ein wiedervereinigtes Deutschland eine „echte“ Verfassung bekäme. Doch das, was unter unsicheren und schwierigen Bedingungen in kürzester Zeit erstellt wurde, entpuppte sich alsbald als eines der großartigsten Regelwerke, die je auf deutschem Boden formuliert wurden. Die Tatsache, dass viele langwierig verhandelte Änderungen oder Ergänzungen in den folgenden Jahrzehnten an die Klarheit und Stringenz des Grundgesetzes nicht anschließen konnten, spricht für die Qualität dieser Verfassung und setzt ihren Machern nachträglich immer wieder ein Denkmal.
Die 61 Mütter und Väter des Grundgesetzes haben mit einer Entscheidung den entscheidenden Schritt getan, damit aus der jungen Bundesrepublik eine stabile Demokratie werden konnte: Sie erhoben mit dem ersten Artikel des Grundgesetzes die Würde des Menschen zur unantastbaren Grundlage allen staatlichen Handelns. Das war die zentrale Lektion aus zwölf Jahren nationalsozialistischem Unrecht und sollte sich zugleich – neben den Entscheidungen für ein parlamentarisches Regierungssystem und einen starken Föderalismus – als kluge Weichenstellung für eine freiheitliche und wehrhafte Demokratie erweisen.
Klar war damals aber auch, dass ein demokratisches Deutschland nicht nur nach vorn schauen konnte, sondern sich ebenso zu seiner Vergangenheit bekennen musste. Ohne dieses Bekenntnis hätte Deutschland seine staatliche Souveränität nicht so schnell wiedererlangt. Erste Ansätze dazu wurden 1952 im Luxemburger Abkommen zur Wiedergutmachung mit Israel deutlich. Auch der Weg konsequenter Westbindung und die Bereitschaft, die strategischen Ressourcen Kohle und Stahl in eine europäische Montanunion einzubringen und mit einer eigenen Armee einen Beitrag zur europäischen Verteidigung zu leisten, schufen außenpolitisches Vertrauen. Die Aussöhnung mit unseren Nachbarn gipfelte 1963 im Élysée-Vertrag, der die Grundlage für die deutsch-französische Freundschaft und Partnerschaft in Europa bildete.
Der „Alte aus Rhöndorf“
Diese außenpolitischen Entwicklungen wurden flankiert von einer ungeahnten wirtschaftlichen Dynamik. Die Verankerung der Sozialen Marktwirtschaft als Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung unter Wirtschaftsminister Ludwig Erhard brachte Prosperität und soziale Stabilität für Millionen Menschen. Die Soziale Marktwirtschaft, die konzeptionell aus dem Ordoliberalismus und der katholischen Soziallehre hervorging, entwickelte sogar eine staatsprägende Bedeutung. Denn dieser „dritte Weg“ zwischen sozialistischer Planwirtschaft und ungebremstem Kapitalismus basiert – so wie das Grundgesetz auch – auf den Lehren aus der deutschen Geschichte und stellt den Menschen in den Mittelpunkt der Ordnung. Nichts beschreibt dies treffender als der Dreiklang aus Personalität, Subsidiarität und Solidarität, der als Gegenpol zur politischen und ökonomischen Machtkonzentration der totalitären Ideologien von Nationalsozialismus und Kommunismus zu verstehen ist.
All diese Weichenstellungen und Entwicklungen sind untrennbar mit Konrad Adenauer, dem „Alten aus Rhöndorf“, verbunden. Aber auch viele andere Politiker haben ihren Beitrag zum Gelingen der zweiten deutschen Demokratie geleistet. Es gehört zu den Eigenheiten der Bonner Republik, dass sie von Persönlichkeiten lebte, die immer mehr waren als das austauschbare Personal einer vermeintlichen Staatsbühne. Ob der erste Bundespräsident und große Liberale Theodor Heuss oder der von jahrelanger Haft im Konzentrationslager gezeichnete SPD-Übervater Kurt Schumacher, ob die knurrig-streitlustigen und so gegensätzlichen Herbert Wehner und Franz Josef Strauß, ob Ludwig Erhard, Willy Brandt, Helmut Schmidt oder Helmut Kohl: Die Bonner Republik war geprägt von starken Charakteren, die leidenschaftlich für ihre Positionen, aber auch das Wohl der Bundesrepublik eintraten.
Kein Raumschiff oder Elfenbeinturm
Keine Frage: Bonn war nicht behäbig, wie es heute allzu oft dargestellt wird, es ging zur Sache. Der Deutsche Bundestag am Rhein war kein Raumschiff oder Elfenbeinturm. Die Wege waren kurz und der Draht zu den Bürgerinnen und Bürgern direkt. Dazu trug maßgeblich bei, dass die Bonner Republik eingebettet war in das „Bindestrich-Land“ Nordrhein-Westfalen, das westfälische, rheinische und lippische Gebiete vereinte. Nordrhein-Westfalen bildete nicht nur die geografische Heimat Bonns im Kanon der Bundesländer, sondern prägte auch die Politik der Bonner Republik. Das bevölkerungsreichste Land besaß und besitzt noch heute mit seinen städtischen und ländlichen, evangelischen und katholischen sowie industriell und landwirtschaftlich geprägten Regionen eine enorme integrative Kraft, die sich wie ein gesellschaftlicher Kitt um die Bonner Republik legte. Unter Karl Arnold, dem zweiten Ministerpräsidenten des Bundeslandes, wurde aus dieser integrativen Kraft auch eine politische Marschrichtung. In seiner Regierungserklärung formulierte er 1950, dass das Land Nordrhein-Westfalen das soziale Gewissen der Bundesrepublik sein werde. Eine Aussage von enormer Tragweite, begründete er damit doch eine bis zum heutigen Tag über Parteigrenzen hinaus anerkannte spezifisch nordrhein-westfälische Staatstradition.
Unter Arnold wurde Nordrhein-Westfalen aber auch zum europapolitischen Impulsgeber. Für ihn als Gewerkschafter waren die europäische Aussöhnung, die Bildung einer echten Wertegemeinschaft, die Frieden, Freiheit und Wohlstand für die Völker Europas bringen sollte, zentrale Ziele. Mit seinem Vorschlag zur Gründung eines völkerrechtlichen und wirtschaftlichen Zweckverbandes zwischen Deutschland, Frankreich, Belgien und Luxemburg – geäußert in seiner Neujahrsansprache 1949, also noch vor der Gründung der Bundesrepublik – wurde er zu einem der geistigen Väter und Wegbereiter der heutigen Europäischen Union.
Dieser ausgleichende, integrative und proeuropäische Charakter Nordrhein-Westfalens prägte auch die Politik der Bonner Republik. Denn Bonn ließ Raum für regionale Machtzentren und einen starken Föderalismus. Die Länder sorgten von Beginn an dafür, dass die Politik in Deutschland die Lebenswirklichkeit der Menschen in ihrer Heimat – von der Nordseeküste bis zu den Alpen – stärker berücksichtigte als in zentralistisch ausgerichteten Staaten. Der Föderalismus ist und bleibt das schärfste Schwert gegen politische und wirtschaftliche Machtkonzentration, auch und gerade in diesen bewegten Zeiten.
Internationale und multilaterale Drehscheibe
Vor zwanzig Jahren sind Parlament und Bundesregierung nach Berlin umgezogen. Dennoch ist Bonn als zweites bundespolitisches Zentrum bis heute unentbehrlich. Es steht gleichermaßen für die föderale Identität Deutschlands und seine neue Rolle in der Welt. Die Bundesstadt ist mittlerweile UN-Stadt geworden – die einzige in Deutschland. Mit zwanzig Organisationen der Vereinten Nationen und einer Vielzahl weiterer internationaler Institutionen hat sich Bonn zu einer einzigartigen Drehscheibe der internationalen und der multilateralen Zusammenarbeit entwickelt.
Bonn hat sich zwischenzeitlich als Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort längst einen eigenen Namen gemacht. Man könnte also der Versuchung erliegen, die Ära der Bonner Republik den Geschichtsbüchern zu überlassen. Wir können dieses Jubiläum jedoch auch als Chance begreifen, innezuhalten und darüber nachzudenken, was von der Bonner Republik bleibt, und, vor allem, was wir behalten wollen. Denn die Bonner Republik war eine gute Gründung; bereits 1956 stellte der Schweizer Journalist Fritz René Allemann plakativ fest: „Bonn ist nicht Weimar!“ Das sollte sich nicht nur als Zustandsbeschreibung, sondern auch als Prophezeiung bewahrheiten. Die neu gegründete Republik ist im Lauf der Zeit mit vielen, auch fundamentalen Herausforderungen fertiggeworden: mit der jahrzehntelangen „Zementierung“ der deutschen Teilung durch den Mauerbau und mit den großen Krisen des Kalten Krieges, wie der Kuba-Krise oder der Bedrohung Westeuropas durch sowjetische Mittelstreckenraketen in den 1980er-Jahren. Auch die Außerparlamentarische Opposition der 1960er-Jahre, die Studentenunruhen und der Terror der Rote Armee Fraktion (RAF) konnten die parlamentarische Demokratie „Made in Bonn“ nicht dauerhaft ins Wanken bringen.
Diese Stabilität verdankte die Bonner Republik der steten Suche nach dem Ausgleich, sowohl nach innen wie nach außen, dem Wahrnehmen und Ausbalancieren verschiedener Standpunkte zum Wohle aller – auch in schwierigen Zeiten. Wir müssen dieses Erbe der Bonner Republik pflegen und erneuern, um denjenigen Paroli zu bieten, die mit der Rückkehr zum Nationalstaat vermeintlich einfache Antworten bieten. Sie wollen nicht zurück in die Bonner Republik, sondern in jene Zeiten, die durch das Grundgesetz überwunden wurden.
Dabei stehen wir heute vor großen Herausforderungen, bei denen – im Gegenteil – wieder ein Stück mehr Bonner Republik in Berlin weiterhelfen könnte. Denn die Welt befindet sich im Wandel, globale Machtgefüge verschieben sich. China drängt – robust, zielstrebig und mit einer Absage an individuelle Freiheitsrechte und demokratische Standards – auf die Bühne der Weltpolitik. Gleichzeitig ziehen sich die USA unter Präsident Donald Trump aus multilateralen Strukturen und der westlichen Allianz zurück. Die Digitalisierung und die enormen Fortschritte im Feld der Künstlichen Intelligenz werden die Art, wie wir wirtschaften und zusammenleben, weiterhin von Grund auf verändern. Auch das Thema Migration wird uns weiter beschäftigen.
Nur mit Maß und Mitte lassen sich auch in einer globalisierten, digitalen Welt Fragen nach dem richtigen Verhältnis von wirtschaftlichen Chancen und sozialer Gerechtigkeit beantworten. Etwa indem wir erkennen, dass der Zugang zu digitaler Infrastruktur in allen Regionen Deutschlands eine entscheidende Voraussetzung für Wachstum und Arbeitsplätze ist. Die neuen sozialen Fragen im Zeitalter von Globalisierung und Digitalisierung müssen wir überzeugend beantworten können. Ein wichtiger Teil der Antwort wird sein, dass wir auch in einer globalisierten, digital vernetzten Welt das Individuum in den Mittelpunkt der Politik stellen – so, wie es das Grundgesetz und die Soziale Marktwirtschaft vorsehen. Das Erbe der Bonner Republik ist aktueller denn je.
Armin Laschet, geboren 1961 in Aachen, seit 2000 Mitglied des Vorstandes der Europäischen Volkspartei (EVP), seit 2012 stellvertretender Vorsitzender der CDU Deutschlands und Vorsitzender des CDU-Landesverbandes Nordrhein-Westfalen, seit Juni 2017 Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen.