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Das Gleiche ist nicht immer gleich gut

Zur deutschen Diskussion um die Sonderbeschulung

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In Zusammenhang mit der UN-Behindertenrechtskonvention wird in Deutschland eine heftige Diskussion über die Sonderbeschulung und das gegliederte Schulsystem geführt. Von radikaler Seite wird dabei eine „grundsätzliche Unvereinbarkeit unseres ausgrenzenden und aussondernden Regel- und Sonderschulsystems mit dem Anspruch der Konvention auf vollständige Inklusion“ (Brigitte Schumann, 2009) konstatiert. Ein Systemwechsel sei unabdingbar, die Auflösung aller Sonderschulen und spezieller schulischer Einrichtungen unumgänglich. Die einzig vertretbare Lösung bestehe, so wird mit hohem moralischen Impetus gefordert, in einer Einheitsschule, einer „Schule für alle“. Als „völlig aussonderungsfreie“ Schule, so Alfred Sander – emeritierter Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität des Saarlandes –, dürfe sie niemanden, aber auch wirklich niemanden abweisen. Dies sei für alle Kinder und auch für die mit Behinderung der beste und einzig gangbare Weg.

Eine nüchterne Betrachtung der UN-Konvention führt allerdings zu einem anderen Ergebnis. Das zentrale Anliegen der Konvention besteht darin, einen Bildungsanspruch für Kinder mit Behinderung zu garantieren; ein uneingeschränkter Zugang zur (schulischen) Bildung soll gesichert werden. Dieses Ziel ist in der Tat von brennender Aktualität angesichts des Umstandes, dass weltweit Millionen von behinderten Kindern keinen Zugang zu Bildungseinrichtungen haben. Selbst in Europa sind Länder wie Rumänien und Bulgarien noch weit von einer regelhaften Beschulung behinderter Kinder entfernt. Für Deutschland gilt dies nicht: Ein Bildungsrecht für Menschen mit Behinderung existiert seit Langem und ein Diskriminierungsverbot ist im Grundgesetz fest verankert. Das muss bei der Interpretation der UN-Behindertenrechtskonvention mitbedacht werden, insbesondere dann, wenn schulstrukturelle Veränderungen unter Berufung auf die Menschenrechte eingefordert werden.

 

Unhaltbare Behauptungen

Selbst wenn es oft behauptet wird: Von einer Abschaffung der Sonderschulen ist in der Konvention an keiner Stelle die Rede. Im Gegenteil: Es wird sogar ausdrücklich betont, dass besondere Maßnahmen, die behinderten Menschen guttun, nicht als diskriminierend angesehen werden dürfen. Auch der viel zitierte Artikel 24 Absatz 2 b verlangt lediglich, dass sich die Unterzeichnerstaaten zu einem inklusiven, das heißt für alle behinderten Kinder zugänglichen, wohnortnahen Bildungssystem verpflichten. Die Forderung nach einer „Schule für alle“ lässt sich daraus nicht herleiten. Das hat auch die Kultusministerkonferenz 2010 festgestellt: „Aussagen zur Gliederung des Schulwesens enthält die Konvention nicht.“

Gleichwohl ruft die UN-Konvention zu Recht dazu auf, dass die Lebens- und Lernsituation behinderter Menschen auch hierzulande verbessert werden soll. Es gilt, soweit irgend möglich, Bildungsprozesse auf einem höheren Niveau als bisher anzusiedeln und die gesellschaftliche Teilhabe und Partizipation von Menschen mit Behinderung zu stärken. Insofern gibt es viel zu tun. Ohne Zweifel ist dabei die gemeinsame Unterrichtung von Kindern mit und ohne Behinderung von hohem Wert. Und es kann im Allgemeinen nur begrüßt werden, wenn künftig mehr schulische Gemeinsamkeit gelingt. Doch dies darf nicht bedingungslos und unter allen Umständen geschehen, und schon gar nicht auf Kosten der jeweils betroffenen Kinder. Im Mittelpunkt der Bemühungen muss jeweils das einzelne Kind stehen mit seinen individuellen Bedürfnissen und der Frage, unter welchen Bedingungen es ihm am besten geht und an welchem Ort es am besten gefördert werden kann. Spezielle Einrichtungen müssen sich nun allerdings sehr viel stärker legitimieren als vor der Unterzeichnung der UN-Konvention.

 

Normativer Standpunkt – empirische Wirklichkeit

Radikale Inklusionsbefürworter halten die Frage nach dem Beschulungsort grundsätzlich nicht für zulässig. Für sie ist die Antwort von vornherein klar. Die unbedingte Gemeinsamkeit aller gilt ihnen als ein so überragendes Ziel, dass alles andere dagegen verblasst. Dem liegt zugrunde, dass Behinderung in erster Linie als „diversity“ angesehen wird: als Teil der Unterschiedlichkeit von Menschen, die es im Rahmen einer begrüßenswerten Vielfalt anzuerkennen gilt. Der Fördergedanke gerät dadurch zwangsläufig in den Hintergrund, denn er geht von einer anderen Prämisse aus: Im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit stehen Entwicklungsbeeinträchtigungen, die einer Veränderung bedürfen. Diese Beeinträchtigungen müssen in der Logik individueller Förderung auch als solche erkannt und benannt werden.

Wird ein normativer, sich selbst genügender Standpunkt verlassen und gerät die empirische Wirklichkeit in den Blick, dann zeigt sich, wie komplex die Verhältnisse sind. Die schulische Praxis hat mit diversen Hürden zu rechnen und ist von zahlreichen Widersprüchen durchzogen. Als Beispiel dafür können die Ergebnisse der bundesweit bedeutendsten Inklusionsuntersuchung dienen. Im sogenannten Hamburger Schulversuch wurde bereits vor mehr als einem Jahrzehnt überprüft, wie es Kindern mit Beeinträchtigungen des Lernens, der emotional-sozialen Entwicklung und der Sprache bei gemeinsamer Beschulung ergeht, wenn kein individueller Förderbedarf erhoben wird. Es zeigte sich, dass die emotionale und soziale Integration dieser Schüler, die zuvor nicht im Mittelpunkt des Integrationsbeziehungsweise Inklusionsinteresses standen, weitgehend gelang. „Integrative Regelklassen arbeiten erfolgreich!“, so lautete deshalb das Resümee der Forschergruppe. Auf der Ebene harter Daten waren die Ergebnisse allerdings enttäuschend: „Die Negativbilanz der Integrativen Regelklassen ist in der Summe der Fakten bestürzend: weniger gymnasiale Empfehlungen, keine Reduzierung von Sonderschulüberweisungen, durchgängiger Leistungsrückstand der Integrativen Regelklassen“, so ist bei Hans Wocken zu lesen, einem Mitautor der Studie. Zudem blieben die erhofften Erfolge bei Kindern mit besonderen Lernbeeinträchtigungen aus, ihre relative Leistungsposition verschlechterte sich über die Zeit.

Dennoch mutiert diese zweifelsfrei ungünstige Befundlage in Wockens Augen zu einem randständigen Phänomen. Sie wird in Kauf genommen, um ein größeres, übergeordnetes Ziel zu retten, das der gemeinsamen Beschulung. Tapfer beharrt der Autor darauf, dass es nicht das Ziel von Integration oder Inklusion sei, Behinderungen des Lernens abzuschaffen. Es gelte in allererster Linie, sie zu akzeptieren. Das allerdings ist eine bemerkenswerte Position, wenn man bedenkt, dass eine erfolgreiche Förderung lernbeeinträchtigter Kinder nicht gelang, ihre Potenziale also ungenutzt blieben.

Ein Überblick über den aktuellen Forschungsstand ergibt kein klares Bild. Die vorliegenden Befunde sind uneinheitlich, zum Teil widersprüchlich und sie werden zudem kontrovers diskutiert. So wurde zum Beispiel mehrfach nachgewiesen, dass Kinder mit Lernbeeinträchtigungen im integrativen Kontext mehr lernen, da das Anregungsniveau stärker ist und wohl auch, weil höhere Leistungsanforderungen gestellt werden als auf Sonderschulen. Das ist ein gewichtiger Befund. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass die soziale Position, die diese Kinder in der Klasse einnehmen, häufig eine ungünstige ist und sie verstärkt psychischen Belastungen ausgesetzt sind. Andere Untersuchungen, wie der soeben genannte Hamburger Schulversuch, bestätigten dies nicht. Insgesamt spricht die Forschungslage keine eindeutige Sprache – weder für eine gemeinsame noch für eine spezielle Beschulung. Das gilt auch für andere Behinderungsformen, die sich ebenfalls der schlichten Logik einer Einheitslösung verschließen.

 

Intensive Betreuung ist oftmals besser

Als besonders schwierig erweist sich die gemeinsame Beschulung von Schülern, die schwere Verhaltensstörungen aufweisen. Häufig sind sie massiven Ablehnungen ausgesetzt, geraten in Außenseiterrollen, die sie nur schwer ertragen können, und bleiben in der Klasse ohne innere Anbindung. In überschaubaren pädagogischen Settings mit einer intensivpädagogischen Betreuung geht es ihnen zwar nicht immer, aber häufig besser. Erst dort finden sie einen Raum, in dem sie sich mit ihren Schwierigkeiten angenommen fühlen. Die Erfahrung zeigt, was die empirische Forschung bestätigt: Die Auflösung spezieller Einrichtungen stellt für diese Schüler keine vertretbare Lösung dar. Denn dann bahnen sich andere institutionelle Lösungen den Weg, psychiatrische Einrichtungen und Klinikschulen werden umso häufiger frequentiert.

 

Von den Kindern aus denken

 

Unterschiedliche Beschulungsformen weisen jeweils spezifische Vorund Nachteile auf. Es wäre deshalb viel gewonnen, wenn stärker von den Kindern als von den Systemen aus gedacht würde. Dann könnte jeweils unaufgeregt im Einzelfall entschieden werden, für wen der eine oder der andere Weg vorteilhaft sein dürfte.

Die Gelassenheit, die dazu notwendig ist, fehlt gegenwärtig allzu oft. „Schweizer Langzeitstudie entzieht der Sonderschule für Lernbehinderte die Legitimation“, so ist gegenwärtig an vielen Orten zu lesen und mitunter noch lauter zu hören (Michael Eckhart et al. 2010). Ein besseres Beispiel dafür, dass der vorgefasste Wille und der Zwang, die eigene Anschauung zu bestätigen, mehr zählen als die nackte Faktenlage, lässt sich selten finden. Dem vollmundigen Deckeltext, nunmehr könne endgültig und eindeutig über die sozialen und beruflichen Folgen unterschiedlicher Beschulungsformen für Schüler mit Lernbehinderungen entschieden werden, steht ein äußerst spärliches empirisches Material gegenüber. In weiten Teilen der Arbeit werden Schüler unterschiedlicher Beschulungsformen miteinander verglichen, die ganz verschiedene Ausgangslagen aufweisen. Die Autoren wissen das natürlich und sie weisen ausdrücklich darauf hin. Wirklich parallelisiert ist lediglich eine winzige Stichprobe von jeweils 33 Schülern, im statistischen Mittel sind das noch nicht einmal zwei Kinder pro Schweizer Kanton. Auf dieser schmalen Datenbasis zeigt sich, dass die integriert beschulten Kinder einige Vorteile beim Berufsübergang und bei der beruflichen Integration haben, auch zeigen sie ein besseres Selbstwertgefühl und Fähigkeitskonzept. Das ist kein völlig überraschendes Ergebnis und ein weiterer, wenngleich nur kleiner Hinweis darauf, dass die integrative Beschulung von Schülern mit Lernbehinderungen von Vorteil sein kann. Wieso dieses, von den Forschern akribisch herausgearbeitete Resultat ein abschließendes Urteil über das deutsche Schulsystem ermöglichen soll, bleibt rätselhaft.

 

Ein „neues Format“ für die Wirklichkeit?

Eine weitere Forderung radikaler Inklusionsverfechter besteht darin, alle personenbezogenen sonderpädagogischen Förderkategorien abzuschaffen. Sie seien diskriminierend und beschämend, enthielten unzumutbare Etikettierungen und zwängten die Betroffenen in ein Korsett, das ihre Individualität untergrabe und ihre Würde verletze. Die Zweigruppentheorie, die behinderte und nichtbehinderte Kinder unterscheide, müsse aufgegeben werden. Stattdessen soll Behinderung als eine Form von Besonderheiten angesehen werden – wie Geschlecht, Herkunft, Religionszugehörigkeit, sexuelle Orientierung, Armut oder Reichtum. Erst in diesem Rahmen könne ein humaner Umgang mit behinderten Kindern gelingen. Aus den Fesseln einer schädigenden Sonderbetrachtung und -behandlung befreit, werde nunmehr ein Leben in „Normalität“ möglich. Behinderung verliert dadurch an Bedeutung und Gewicht, sie wird nebensächlicher. Und das ist durchaus so gewollt.

Die Kritiker der sonderpädagogischen Ordnung begeben sich damit auf ein gefährliches Terrain. Die Wirklichkeit lässt sich nicht durch Dekategorisierung in ein neues Format pressen; und die Besonderheiten, die Kinder mit Behinderung aufweisen, können nicht dadurch aus der Welt geschaffen werden, dass man ihnen den begrifflichen Hintergrund entzieht. An die Stelle fachlicher Kategorien, die einen Diskurs ermöglichen, treten zwangsläufig informelle, teilweise auch versteckte Bezeichnungen, deren Folgen kaum absehbar sind. Es darf bezweifelt werden, dass Kindern mit einer Behinderung dadurch geholfen wird, dass nicht mehr benannt werden soll, was für ihre Eltern und zumeist auch sie selbst offensichtlich ist.

 

„Begriffsentsorgung“ macht Behinderung nur unsichtbare

Ein folgenschwerer Irrtum liegt auch in der Annahme, die Qualität der pädagogischen Förderung ließe sich steigern, indem auf eine einschlägige, auf das einzelne Kind bezogene Fachlichkeit verzichtet wird. So wünschenswert auch eine verbesserte Unterrichtsarbeit vor Ort im Sinne aller Kinder ist: Kinder mit Behinderung brauchen auch etwas Besonderes, eine Förderplanung, die speziell auf sie abgestimmt ist. Mit dem Einsatz von Mitteln, die „unspezifisch allen“ dienen sollen, wird ihnen am Ende nur wenig geholfen sein. Wenn Behinderung durch „Begriffsentsorgung“ unsichtbar gemacht wird, bleiben behinderte Kinder mit ihren speziellen Bedürfnissen auf der Strecke. Die Qualität der pädagogischen Arbeit sinkt, das Alltägliche ersetzt eine fachspezifische Professionalität, auf die nicht verzichtet werden kann.

Zweifelsfrei ist ein Mehr an Gemeinsamkeit von behinderten und nichtbehinderten Kindern begrüßenswert. Dazu bedarf es wohlbedachter Lösungen, die vom Kindeswohl ausgehen, dem Realitätsprinzip verpflichtet sind und sich ideologischer Zuspitzungen enthalten. Inklusionsquoten allein sind noch kein Garant dafür, dass die angestrebten Ziele auch wirklich erreicht wurden. Die Grenzen einer unbedingten Gemeinsamkeit sind anzuerkennen. Für viele Kinder mag eine gemeinsame Beschulung förderlich sein, sie ist es aber ganz sicher nicht für alle Schüler. Insofern werden in Zukunft weniger Sonderschulen benötigt, prinzipiell kann aber nicht auf sie verzichtet werden. Doch auch das steht bereits in der UN-Konvention: Nicht immer wird für jedes Kind das Gleiche gleich gut sein.

 

Bernd Ahrbeck, geboren 1949 in Hamburg, Leiter der Abteilung Verhaltensgestörtenpädagogik, Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.

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