Asset-Herausgeber

Hin zu den Glücksgütern, weg vom Hamsterrad

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Eine wichtige Frage erobert die politische Agenda: die Frage nach dem „guten Leben“. Immer mehr Menschen überlegen sich, was ihnen der alltägliche Lauf im Hamsterrad eigentlich bringt. Obwohl sich seit den 1960er-Jahren das Bruttoinlandsprodukt verfünffacht hat, nahm das Lebensglück der Deutschen, wie es etwa der Eurobarometer erhebt, nicht im selben Umfang zu. Vielmehr stagniert die Lebenszufriedenheit, von einigen Aufs und Abs abgesehen. Dieser Befund gilt für alle reichen Industriestaaten.

Den meisten von uns geht es gut, wir haben eigentlich mehr Freizeit als früher, aber die psychische Arbeitsbelastung nimmt zu, wie zuletzt der Stressreport der Bundesregierung belegte. Das Arbeitstempo, der Veränderungsdruck und die Anforderungen wachsen. Dem stehen jedoch nur marginale Reallohngewinne gegenüber, und ob es jetzt vierzehn Geruchsrichtungen für WC-Spüler oder dreißig neue Joghurtsorten mehr gibt, beeinflusst die Zufriedenheit nicht wirklich. Unserem Wirtschaftssystem gelingt es immer weniger, die Vorteile von technischem Fortschritt und Produktivität in „glückbringenden“ Wohlstand umzusetzen.

Ein Grund für das weitverbreitete Unbehagen ist der Rendite- und Effizienzdruck, der sich in einer zunehmenden Beschleunigung aller Lebensverhältnisse und in einem regelrechten Optimierungswahn niederschlägt. So haben die Menschen mittlerweile das Vertrauen in die Lebensmittelindustrie weitgehend verloren. Was haben wir davon, wenn ein Masthähnchen, das einmal siebzig Tage leben durfte, bis es sein Schlachtgewicht erreichte, heute nur noch 44 Tage dafür brauchen darf, und künftig nur vierzig Tage oder 35 Tage? Wann ist Schluss? Schmeckt das Fleisch dann besser? Wahrscheinlich nicht, denn für diese Ertragssteigerung muss es mit noch mehr Wachstumshormonen und Antibiotika vollgestopft werden. Wie viel Sinn ergibt es, in unserem Konsumverhalten einfach weiterzumachen wie bisher? Vieles schmeißen wir kaum gebraucht weg, darunter 800.000 Tonnen Kleidung, 6,7 Millionen Tonnen Lebensmittel und eine Million Tonnen noch funktionsfähige Elektronik im Jahr. Lohnt es sich, dafür länger und härter zu arbeiten?

 

Tempo in der Tretmühle

Unsere Gesellschaft ist – trotz vieler sozialer Probleme – übersättigt. Wir sind überarbeitet und schaffen es zu selten, Arbeit und Konsum zu entschleunigen, um dadurch echte Lebensqualität zu gewinnen. Mit der ungebremsten Produktion von immer mehr Gütern gefährden wir einerseits unsere ökologischen Lebensgrundlagen. Aber es gibt auch eine andere, eine sehr menschliche Seite der Wachstumsdynamik: Sie untergräbt die Grundlagen des guten Lebens. Trotz aller Produktivitätsschübe treten die Menschen nicht kürzer, sondern das Tempo in der Tretmühle wird stetig schneller. Am besten sieht man es an den Topmanagern: Ihre Leistungsdisziplin atmet einen Korpsgeist, der wie nie zuvor auch alles Private dem Erfolg unterordnet. Der moderne Manager hat niemals frei und niemals Zeit, er ackert, als gäbe es kein Morgen. Ständig verfügbar zu sein und für die Arbeit zu leben, ist bis ins mittlere Management hinein zum Statussymbol geworden.

Wir stecken mitten in einem Steigerungswettlauf, der uns zu immer neuen Höchstleistungen antreibt. Wir sollen immer und überall ein bisschen besser werden. Im Beruf erfolgreicher, zu Hause bessere Partner, bessere Eltern, besser aussehend, fitter, gesünder. Was muss nicht noch alles optimiert werden: der Körper (mit Schönheitsoperationen), das Hirn (mit Drogen und Gehirndoping), das Essen (mit Functional Food), das Trinken (mit Energydrinks), der Sex (mit Viagra), das Lernen (mit Schnelllesetechnik), die Moral (mit 360-Grad-Total-Feedbacks), das Soziale (mit Facebook). Jede einzelne dieser Optimierungen verspricht, unser Leben zu erleichtern. Aber wir wissen inzwischen, dass sie das nicht tun. Sie erhöhen den Druck, sie machen die Zeit schneller, sie lassen uns nicht zur Ruhe kommen. Viele Lebensbereiche, sagt der Soziologe Hartmut Rosa, „kommen uns vor wie Rolltreppen, die nach unten fahren“. Selbst wenn wir nur auf derselben Höhe bleiben wollen, müssen wir die Treppe hochlaufen.

 

Puritanische Selbstverbesserung

Woher kommt diese Ruhelosigkeit? Warum kann der Kapitalismus, der viel zu unserem Wohlstand beigetragen hat, nicht genug kriegen und warum muss er alles einer unbedingten Nutzenmaximierung unterziehen? Der Soziologe Max Weber hat vor hundert Jahren die Entstehungsgeschichte des modernen Kapitalismus beschrieben. An seiner Wiege standen die Puritaner. Sie machten aus Menschen, die „von Natur aus einfach leben wollen, wie sie zu leben gewohnt sind, und nur so viel erwerben, wie dazu erforderlich ist“, Berufsmenschen, die den Sinn ihres Lebens in der Optimierung ihrer Arbeitsleistung sehen und ihr Leben als ständige Selbstverbesserung begreifen.

Der Mensch soll leben, um zu arbeiten, und nicht arbeiten, um gut zu leben. Das war der Bruch mit dem Ideal eines maßvollen Lebens, wie es im frühen Christentum oder in allen großen, global bedeutsamen Kulturtraditionen gepflegt worden war. Seither ist Zeit Geld, und wer seine Zeit nicht optimal nutzt, sündigt und bewährt sich nicht. Die neoklassische Ökonomie hat das puritanische Prinzip der Nutzenmaximierung übernommen und sogar radikalisiert: Mehr ist besser als weniger, lautet eine Grundregel. Sie ist die Formel zur unbegrenzten Steigerung. Wir entscheiden uns, vor die Wahl zwischen mehr und weniger gestellt, immer für mehr. In der Ökonomie gibt es keinen „guten“ oder „schlechten“ Konsum, sie hat auch keinen Begriff vom „guten Leben“. Ob eine Gesellschaft geschlossen bei McDonald’s isst oder Slow Food genießt, das eine ist ihr so richtig wie das andere. Ob die Schüler ihr Pausenbrot verzehren oder Crack rauchen – beides sind „revealed preferences“, und für beide gilt die Maximierung: Mehr ist besser als weniger.

 

Vernachlässigte Glücksgüter

Dieser „puritanische Geist“ hat unsere Mentalität tief geprägt und trägt bis heute dazu bei, dass wir der Arbeit und dem beruflichen Erfolg zu viel Bedeutung beimessen und darüber andere Glücksgüter vernachlässigen. Umfragen zeigen, dass die Menschen gern weniger arbeiten würden und mehr Zeit mit der Familie und mit Freunden verbringen möchten. Angesichts der erreichten Produktivität müsste das leicht möglich sein. Um dem guten Leben näher zu kommen, muss unsere Managementkultur aufhören, den Typus des Workaholics zu bevorzugen. Für eine bessere Work-Life-Balance benötigen wir in den Unternehmen obligatorische Teilzeitmodelle, Betriebskindergärten, Jahres- und übertragbare Lebensarbeitszeitkonten, Auszeiten, Familienfreundlichkeit.

Weniger Arbeit würde aber auch weniger Einkommen bedeuten. Die Kunst besteht darin, den Ausfall beim Einkommen durch eine glücklichere Lebensbalance auszugleichen. Angenommen, wir verbringen die gewonnene Zeit mit den Kindern, dem Hobby oder etwas Sport, dann ist die Zufriedenheitsbilanz schon positiv, solange wir es auch schaffen, aus diesen Bereichen den Optimierungsgedanken ein für alle Mal zu verbannen. Für höhere und mittlere Einkommen sind moderate Einkommenseinbußen unproblematisch, für Geringverdiener nicht. Einige schlagen deshalb ein Grundeinkommen vor, das jedem Bürger zusteht und ihn zu einer Art Zuwendungsempfänger macht. Das ist keine Lösung, denn Geld ist kein Glücksgut, sondern nur Mittel, um Glücksgüter zu erwerben. Man kann aber auch Drogen und Fast Food davon kaufen. Das Grundeinkommen sollte nicht blindlings in den normalen Konsum fließen.

 

Arbeit und Familie

Die Glücksforschung zeigt, dass Sachleistungen des Sozialstaats eine größere Lebenszufriedenheit bei den Bürgern bewirken als Geldleistungen. Schweden, das den Schwerpunkt auf Sachleistungen legt, verzeichnet viel höhere Zufriedenheitswerte als etwa Italien, das primär auf Geldtransfers setzt. Diese Erfahrungen sprechen dafür, sich Gedanken zu machen, wie Staat und Gesellschaft zum guten Leben gerade auch der eher Bedürftigen beitragen können.

Mehr Geld löst die Probleme nicht, erst recht nicht mehr Konsum. Die Probleme liegen heute in der Verwahrlosung von Kindern und Jugendlichen, in desolaten Familienverhältnissen, in Antriebsschwäche, im Ausgeschlossensein. Um dies anzugehen, benötigt der Sozialstaat eine Idee des guten Lebens: Welche Lebensumstände sind für ein Kind gut und welche sind schlecht. Psychische Störungen sind heute bei Kindern weit verbreitet: In den 1970er-Jahren war das mittlere Ersterkrankungsalter für eine Depression 25 Jahre, heute liegt es bei neunzehn Jahren. Auch bei Angststörungen und Suchterkrankungen rutschte das Alter nach vorn. Das hat mit den erodierenden Familienstrukturen zu tun: Die Scheidungsrate steigt, die haltgebenden Tagesabläufe lösen sich auf. Was allein Fernsehen, Videospiele und Internet in Kinderzimmern anstellen können, wenn die Familie versagt, das weiß der Sozialstaat zwar, aber davor kapituliert er auch. Am Ende des Tages bezahlt das Sozialamt alles, was zum Normalkonsum gehört, auch Spielkonsolen. Dem Glück dient das nicht.

Würden wir das „Glück“ der Kinder zur ersten Priorität machen, dann würden wir die Arbeitswelt nach den Bedürfnissen der Familien ausrichten und nicht umgekehrt. Geringverdiener haben heute mehr Stress als früher. Trotz der Erfolge der Arbeitsmarktreformen finden Arbeitslose häufig nur Jobs von kurzer Dauer. Der Niedriglohnsektor wächst, und der Anteil an befristet oder geringfügig Beschäftigten und Leiharbeitern hat deutlich zugenommen. Die 24/7-Kultur der ständigen Erreichbarkeit lastet vor allem auf den Schultern der Billigjobber. Diese Trends sind für deren Familien sehr schlecht, denn alle Familienmitglieder leben im Gefühl ständiger Unsicherheit. Wir sollten diese Trends daher nicht auch noch fördern. Das wachsende Heer prekärer Arbeitsverhältnisse muss einen Gutteil des wirtschaftlichen Strukturwandels und der Flexibilisierung tragen. Die Glücksforschung hat in vielen Studien nachgewiesen, wie eminent wichtig ein stabiles Arbeitsverhältnis für das Selbstwertgefühl jedes Menschen ist. Es geht dabei nicht um steile Karrieren oder „Helden der Arbeit“, sondern um Konstanz im Beruf und um das Bewusstsein, die eigene Familie ernähren zu können und einen sinnvollen Beitrag zur Gemeinschaft zu leisten. Insofern ist Arbeit ein wichtiges Glücksgut geworden.

 

Maß und Balance

Die Idee der Glücksgüter stammt von Aristoteles. Dazu zählte er Freundschaft, Nachkommen, Gesundheit, Vermögen, Schönheit, physische Stärke und ein günstig gestimmtes persönliches Schicksal. Diese nicht vollständige Liste zeigt schon, dass Aristoteles nicht davon ausging, dass jeder Mensch zu hundert Prozent glücklich werden könne. Würden wir alle Glücksgüter maximieren, würden wir nicht glücklich werden, sondern unsere Balance verlieren. Wer sich nur für die Familie aufopfert, ist genauso einseitig wie jemand, der auf Kinder der Karriere wegen verzichtet. Glücksgüter sind kein Mittel zum guten Leben, sie sind Teil des guten Lebens. Jeder sollte versuchen, das richtige Maß für sich zu finden. Vieles haben wir in gewissem Umfang selbst in der Hand: Das Gelingen unserer Partnerschaft oder der Erfolg im Beruf hängen natürlich auch von unserem persönlichen Verhalten ab. Bei vielen Glücksgütern ist es aber auch nötig, dass die Gesellschaft umsteuert, indem sie sich vom reinen Wachstums- und Steigerungskurs abwendet.

Der Staat hat die Glücksgüter nicht zu garantieren, sondern die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass die Glücksgüter besser erreichbar sind. Es geht also beim „guten Leben“ nicht um einen neuen Paternalismus, sondern um ein Umsteuern: Warum subventioniert der Staat den Verkehr – von der Steuerfreiheit für Flugbenzin bis zur Entfernungspauschale – heute genauso wie zu Zeiten des Wirtschaftswunders? Die Glücksforschung hat ergeben, dass das längere Pendeln vom Wohnort ins Büro ein großer Glückskiller ist. Schon ab 200 Kilometer Fahrtweg pro Woche steigt die Unzufriedenheit signifikant an. Da wäre es doch besser, Glücksgüter zu fördern: Warum sind Kindergärten so teuer, aber die Milliardengewinne des Hochfrequenzhandels an den Börsen bleiben steuerfrei?

Die aktuelle Debatte über das „gute Leben“ fragt endlich danach, wie wir leben wollen. Sie fordert keine Kultur des Verzichts, sondern eine Neubestimmung unserer Prioritäten: hin zu Glücksgütern, weg vom Steigerungskonsum und raus aus den Tretmühlen. Das Ziel ist ein Leben mit mehr Selbstbestimmung und Zufriedenheit.



Max A. Höfer, geboren 1959 in Stuttgart, Politologe und Publizist, Ressortleiter von „Capital“ und von Anfang 2006 bis Ende 2009 Geschäftsführer der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, leitet die Agentur höfermedia, Berlin (2010).

 

Literatur
Max A. Höfer: Vielleicht will der Kapitalismus gar nicht, dass wir glücklich sind?, Knaus Verlag, München 2013.

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