„Sind Sie Anglerin?“, fragt ein junger Mann auf dem Parkplatz die Frau in dem Auto nebenan, als er den Fisch-Aufkleber auf der Heckscheibe ihres Wagens sieht. Die Frau mit dem Fisch ist Pastoralreferentin. Sie habe auch schon erlebt, dass sie für eine Außendienstmitarbeiterin der Fisch-Imbisskette „Nordsee“ gehalten wurde, erzählt sie später im Gespräch des Seelsorgeteams. Das Symbol der Urchristen wird nicht mehr auf der Straße erkannt, überhaupt ist das Christentum in Deutschland vor allem als Religion des „Nicht-Mehr“ öffentlich präsent: Nicht einmal mehr fünfzig Millionen Deutsche sind Mitglied einer der beiden großen Kirchen, nicht einmal mehr jeder registrierte Christ kennt seine Pfarrerin oder seinen Priester persönlich, nicht einmal mehr jeder Katholik lässt sich kirchlich beerdigen, nicht einmal mehr jeder evangelische Christ weiß, welcher Geschehnisse am Reformationstag gedacht wird, neun von zehn Kirchenmitgliedern gehen nicht mehr sonntags in den Gottesdienst. Früher, wann immer das gewesen sein mag, war anscheinend mehr Glaubenspraxis, mehr Glaubenswissen und überhaupt mehr christliche Selbstverständlichkeit unter den Deutschen.
„Von wem gehen die wichtigsten Impulse für die Gestaltung unserer Zukunft aus?“, fragte das Institut für Demoskopie Allensbach im Jahr 2011. Zwei Prozent der Befragten nannten die evangelische Kirche, vier Prozent die katholische; damit belegten die Kirchen die letzten beiden Plätze in trauter Ökumene der Abgeschlagenheit. Ganz vorn landeten Ingenieure, Techniker und Naturwissenschaftler. Selbst Schriftstellern trauten siebzehn Prozent der Befragten Zukunftsimpulse zu – ein Wert, von dem Bischöfe nur träumen können, wenn sie denn überhaupt träumen wollen. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Reinhard Kardinal Marx mag das Klagelied des Nicht-Mehr nicht mehr hören. Die hohen Austrittszahlen seien eben eine Nebenwirkung der Freiheit, sagt er, ein Gewinn also.
Konkurrenz für den Kirchenchor
Doch bei denjenigen, die sich in Gemeinden engagieren, ist das Verlustgefühl stark. „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“, heißt ein bekannter Kanon. Es ist schwierig geworden, überhaupt zwei oder drei zu finden, die sich regelmäßig versammeln wollen im Bibelkreis, in der Bücherei, beim Pfarrfest, im Kirchenchor. Christsein in der Gemeinde gilt als Freizeitbeschäftigung, die mit vielen anderen Angeboten konkurriert – und oft verliert.
Auch in der großen Öffentlichkeit ist das Christliche nichts mehr für jeden Tag, sondern etwas für existenzielle Ausnahmesituationen. Rituell tauchen Debatten über das „C“ in der CDU auf, und der Konsens lautet meistens: Das „C“ sei irgendwas mit Werten, mit dem christlichen Menschenbild, mit den Grenzen menschlichen Handels am Anfang und am Ende des Lebens. Christentum wird im politischen Betrieb zu einer Art ethischer Putzhilfe. Diese Dienstleistung professioneller Christen ist gefragt, wenn Gewissensentscheidungen über Leben und Tod, über Krieg und Frieden anstehen. Christen sitzen in Ethikräten und Talkshows. Dort sollen sie sagen, ob assistierter Suizid nicht doch moralisch sauber erlaubt sein kann und Waffenlieferungen an die Anti-IS-Kämpfer zu rechtfertigen sind. Sie sind zuständig für die Thomas-von-Aquin-Zitate oder Dietrich-Bonhoeffer-Worte, die in der politischen Routinesprache keinen Platz haben.
Schwerer, als das Nicht-mehr zu diagnostizieren, ist es jedoch, jenseits der Floskeln zu beschreiben, was das Christentum ist. Derzeit wird auch das vor allem ex negativo bestimmt. DAS christliche Erkennungszeichen ist neben dem eingangs erwähnten Fisch das Nazarener-N. Wer dieses N in sein Facebook-Profil aufnimmt oder es auf dem T-Shirt trägt, macht darauf aufmerksam, dass anderswo Christen wegen ihres Glaubens verfolgt und ermordet werden. Oft verbindet sich damit der Vorwurf, dass die Medien diese Opfer ignorieren und als Berichterstattung über das Christentum lieber den tausendsten Beitrag über den Bischof von Limburg verbuchen. Um eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen, machen E-Mails die Runde, in denen detailliert geschildert wird, wie der IS Kinder tötet, die nicht bereit sind, Jesus abzuschwören. So verständlich es ist, auf das Leid im Irak und in Syrien aufmerksam zu machen, so selbstverständlich dürfte es für jeden menschenrechtssensiblen Bürger sein, Christenverfolgung abzulehnen. Sich über die Grausamkeit anderer, in diesem Fall islamistischer Gewalttäter, zu definieren, kann als Identitätsmerkmal des Christlichen nicht ausreichen.
Was aber bewegt Christen, was empfinden sie als das Eigene, das Wesentliche, das Unverwechselbare, das für die Gesellschaft Bereichernde? Christen sind kaum darin geübt, diese Fragen zeitgemäß zu beantworten. Gemeinhin wird der Weg von der allseits bekannten Menschenfischer-Gemeinschaft zum mutmaßlichen Angelsportverein mit dem Passepartout Säkularisierung beschrieben. Dabei gerät leicht aus dem Blick, dass im angeblich säkularisierten Deutschland mehr religiöse Akteure denn je unterwegs sind: weltumspannende wie das Judentum, der Islam und der Buddhismus ebenso wie esoterische Kleinstgruppen. Schutzengel und Naturgötter bevölkern den Luftraum über Deutschland, heilende Steine liegen in deutschen Schlafgemächern, Yin- und Yang-Figuren baumeln unter den Rückspiegeln von Limousinen made in Germany. Ist das eine Konkurrenz für das Christentum, eine Bedrohung, bedeutet dies, etwas abgeben zu müssen?
Aber abgeben wovon? Es ist bequem, unbeirrt in Sonntagsreden von „unserer“ christlich-jüdischen Leitkultur zu sprechen, obwohl der stilisierte Fisch im Alltagstest schon längst auf dem Parkplatz durchfällt. Es ist auch bequem, sich in kirchlichen Binnen-Debatten und Selbstbeschäftigungskreisen zu ergehen. Das entlastet vom Blick aufs große Ganze. Dabei fängt Christsein zunächst einmal für jeden Einzelnen ganz oben an. Christsein hat, schlicht formuliert, etwas mit dem Glauben an Gott zu tun. Daraus leiten sich Entscheidungen im privaten Leben und gesellschaftspolitische Interventionen ab. Christsein heute bedeutet, für eine Gesellschaft zu werben, die auch nach oben offen ist, und zwar mit frischen Argumenten, nicht mit Besitzstandswahrersätzen wie „Das Staats-Kirchen-Verhältnis hat sich bewährt“.
Gott, eine Feinstaubschleuder?
In Schleswig-Holstein gelang es im Herbst 2014 nicht, den Halbsatz „in Verantwortung vor Gott“ in die Landesverfassung aufzunehmen. Gegner des Gottesbezugs überschrieben ihre Initiative mit dem Claim einer „Verfassung für alle“. Als sei Gott eine Feinstaubschleuder, die freies Atmen für alle unmöglich macht. Gott löst zunehmend Allergien aus, er gerät in den Verdacht, ein Schadstoffproduzent zu sein, der gegen das Ziel der religiösen Klimaneutralität verstößt. In Hamburg öffnete kürzlich eine Kirche ohne Gott ihre Türen, das Nachrichtenmagazin Der Spiegel widmete dem „Glauben ohne Gott“ eine Titelgeschichte.
Die Kirchen mit Gott sind immer noch großflächiger präsent als jene ohne. Sie haben garantierte Rechte, von der Kirchensteuer bis zur Sendezeit im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Es wird aber in einer gottesallergischen Umgebung nicht reichen, die übliche Dreifaltigkeit der Argumente für diese Sonderrechte auszubreiten.
Diese Dreifaltigkeit lautet: 1. Das war schon immer so. 2. Kennen Sie nicht das Böckenförde-Diktum, wonach der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann? 3. Und wenn Sie zu links sind für Böckenförde, dann denken Sie daran, dass sogar Jürgen Habermas Religion für eine wichtige Ressource der Gesellschaft hält.
„Proposer la foi“
Christsein ist zuallererst keine Aufgabe für Staats- und Verfassungsrechtler, auch keine für kirchliche Lobbyarbeiter. „Den da oben“ ins Gespräch zu bringen, ist Aufgabe aller, die sich zu ihm bekennen. Mit „Proposer la foi“ war ein Hirtenbrief französischer Bischöfe von 1996 überschrieben. Den Glauben vorschlagen, das kann der zarte, keineswegs zaghafte Versuch sein, der Gesellschaft Gott als Deutungsmöglichkeit anzubieten und damit den Himmel offen zu halten. Das klingt sehr bescheiden, fast buddhistisch sanft und angreifbar für alle, die ständig ein „entschiedenes christliches Bekenntnis“ fordern. „Proposer la foi“ ist jedoch eine weit anspruchsvollere Aufgabe als der Glaubensbefehl und -gehorsam früherer Tage. Was sagen Christen glaubhaft über die Liebe, in einer Gesellschaft, die empfänglicher für den Computeralgorithmus einer Online-Partnervermittlung ist als für den Gedanken, es könnte ein Abbild der göttlichen Liebe zu den Menschen geben? Was sagen Christen zum Wert des Lebens, wenn ein Baby ein Projekt und ein Sterbender eine Last ist?
Die wenigsten Christen können außerhalb von geschützten Räumen darüber sprechen, was es für ihr Leben bedeutet, an Gott zu glauben und den Menschen nicht für allmächtig, aber auch nicht für allohnmächtig zu halten. Sie haben das Reden darüber an die Profis in den Kirchen delegiert. Der Politologe Andreas Püttmann sagte kürzlich in einem Vortrag mit der Leitfrage, wie „wir“ christliche Themen zur Sprache bringen können: „Erklärungsbedürftig ist nicht, warum so viele, sondern warum so wenige Leute aus der Kirche austreten.“ Die Kirchen genießen Umfragen zufolge wenig Vertrauen, aber ihr soziales Wirken wird geschätzt. Sie leben von dem verbreiteten Gefühl: Es ist gut, dass die da sind, damit sich wenigstens eine große Institution um Schwache, Arme und Kranke kümmert.
Jesus – als guter Typ akzeptiert
Es fehlt Christen an einem Selbstbewusstsein, das mehr ist als diese diffuse Sozial-Agentur-Dankbarkeit. Es mangelt eine Selbstverständigung darüber, was sie bewegt und was sie gesellschaftlich bewegen wollen. Das hat auch damit zu tun, dass viele Glaubensgewissheiten bei Katholiken wie Protestanten ungewiss geworden sind. Dass Jesus Gottes Sohn ist, dass er auferstanden ist von den Toten, dass er richten wird die Lebenden und die Toten, all das ist unter den 48 Millionen Kirchenmitgliedern keineswegs Konsens. Ungeteilte Zustimmung bekommt allein die Bergpredigt, weniger als konkrete politische Handlungsanweisung, aber als prinzipiell gute Idee fürs menschliche Zusammenleben. Jesus ist als guter Typ allgemein akzeptiert, als Künder der Nächstenliebe.
Dass Papst Franziskus Katholiken wie Nicht-Katholiken rührt, hat mit seinem Jesus-Appeal zu tun. Franziskus kann, was viele Christen in Deutschland nicht können: über den Glauben sprechen, aus dem Glauben heraus handeln, spontan, herzlich, gewinnend, lachend, ohne Aggressivität und ohne Angst vor dem Urteil der Besserglauber. Er schreibt keine theologischen Bücher über den Begründer der christlichen Religion, er nimmt den Ballast weg, der sich in zweitausend Jahren Kirchengeschichte über der Bergpredigt aufgetürmt hat. Franziskus ist trotz des bescheidenen Auftretens ambitioniert. Er verlangt Einsatz von jedem für jeden, er verlangt von seinen Hierarchen Macht- und Kontrollverzicht, er verlangt von der Basis, dass sie das Evangelium ernst nimmt im Leben. Ausreden von wegen „Die da oben nehmen es ja auch nicht ernst“ duldet er nicht.
Eine Gesellschaft nach oben offen zu halten, das bedeutet auch: offen für das Nicht-Zählbare, Nicht-Messbare, Nicht-Bewertbare, Nicht-Ökonomisierbare, für das Andere. Das aber geht nicht gegen die Anderen. Was Christen bewegt, bewegt Menschen.
Christiane Florin, geboren 1968 in Troisdorf-Sieglar, Redaktionsleiterin der Beilage „Christ & Welt“ in der „ZEIT“.