„Nun weiß ich, wie es heißen muss. ‚Soziale Marktwirtschaft‘ muss es heißen! ‚Sozial‘ mit einem großen ‚S‘!“, rief Alfred Müller-Armack an einem Morgen im Hungerwinter 1946/47 aus. Raschen Schrittes eilte er damals die Treppe im Turm des Herz-Jesu-Klosters in Vreden-Ellewick herunter.1 So erinnern sich Brüder des katholischen Ordens der Canisianer, die damals das Kloster betrieben. Sie haben diesen „Heureka“-Moment des seit dem Krieg dort einquartierten Professors überliefert.
Müller-Armack hatte ein theoretisches Konzept zu einem griffigen Schlagwort verdichtet. Es sollte den politischen Diskurs in Deutschland prägen – und das bis heute.
Geboren wird Alfred Müller-Armack am 28. Juni 1901 in Essen als Sohn des Direktors bei den Krupp-Werken Hermann Müller. Den Geburtsnamen seiner Mutter Elise, geborene Armack, fügt er später hinzu, um als publizierender junger Wissenschaftler Verwechslungen vorzubeugen, sich sozusagen „einen Namen zu machen“.2 Müller-Armack studiert Nationalökonomie in Gießen, Freiburg, München und Köln. An der Universität zu Köln wird er 1923 bei dem Soziologen Leopold von Wiese zum Dr. rer. pol. promoviert und habilitiert sich 1926 ebenfalls dort in wirtschaftlichen Staatswissenschaften mit einer Arbeit über „Ökonomische Theorie der Konjunkturpolitik“. Damit ist er einer der jüngsten Privatdozenten im Deutschen Reich, lehrt und forscht zunächst weiter in Köln, wo er 1934 zum außerordentlichen Professor berufen wird.
Nachdem 1936 eine Berufung an die Universität Frankfurt aufgrund der Intervention staatlicher Stellen im NS-Staat unterbunden wird, geht er 1938 als außerordentlicher Professor nach Münster und wird 1940 als Ordinarius auf eine Professur für „Nationalökonomie, Kultursoziologie und insbesondere Religionssoziologie“ berufen. Parallel leitet er seit 1939 die kleine Forschungsstelle für Siedlungs- und Wohnungswesen. Diese Erfahrung empfiehlt ihn 1941 als Gründungsdirektor der von der deutschen Textilwirtschaft initiierten „Forschungsstelle für allgemeine und textile Marktwirtschaft“, die dem Institut für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität angegliedert war.3
Die zunächst mit acht Wissenschaftlern und vier Sekretärinnen ausgestattete Forschungsstelle wuchs in der Folge auf bis zu 27 Mitarbeiter an, was die in der Universität zur Verfügung stehenden Raumkapazitäten sprengte. Daher und aufgrund der zunehmenden Luftangriffe forcierte die Forschungsstelle ihre Evakuierung. Als geeignete Räumlichkeiten bot sich das Herz-Jesu-Kloster der „Gemeinschaft der Canisianerbrüder“ in der am westlichen Rand des Münsterlandes im heutigen Landkreis Borken gelegenen Stadt Vreden, genauer gesagt ihres dörflichen Ortsteils Ellewick, an.
Aus der Klosterzelle
Im Juli 1943 erfolgte der Umzug der Forschungsstelle und ihrer Mitarbeiter, die überwiegend in Klosterzellen oder auch auf umliegenden Bauernhöfen wohnten; damit entging die Forschungsstelle der Zerstörung – ganz im Gegensatz zum Staatswissenschaftlichen Seminar in Münster, das, wie die gesamte Innenstadt, bei dem großen Luftangriff vom 10. Oktober 1943 in Flammen aufging. Erst im August 1949 konnte die Forschungsstelle wieder nach Münster zurückziehen.
Die Abgeschiedenheit eines Klosters in der tiefen Provinz als Geburtsstätte einer bahnbrechenden Idee wie der Sozialen Marktwirtschaft mag klischeehaft anmuten, zumal die Kriegsereignisse auch Vreden keineswegs unberührt ließen – die Kleinstadt wurde ebenfalls stark zerstört, und das Kloster in Ellewick nahm zusätzlich ein Lazarett sowie später Ostflüchtlinge auf. Nicht nur zufällig flankiert dieser Rahmen einer Lebens-, Arbeits- und Forschungsgemeinschaft im Kloster den von Alfred Müller-Armack vertretenen, weiter ausgreifenden interdisziplinären Ansatz. Als Kultur- und Religionssoziologe nahm er über das Wirtschaftssystem hinaus die dasselbe tragende Gesellschaft und ihr Werteverständnis ganzheitlich in den Blick.
Sein Werk Das Jahrhundert ohne Gott als Teilschrift des Bandes Religion und Wirtschaft. Geistesgeschichtliche Hintergründe unserer europäischen Lebensform entstand ebenfalls im Vredener Kloster. Müller-Armack sollte es später als sein bedeutendstes Werk bezeichnen.4 In diesem Schlüsselwerk deutete er den Nationalsozialismus, den er in der Retrospektive als Ersatzreligion in einer Zeit des Glaubensabfalls betrachtete, religionssoziologisch aus.
Introvertierter Denker?
Ausgehend von diesen Analysen und seinem Rückgriff auf das christliche Menschen- und Gesellschaftsbild, entwickelte er in Vreden das Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft nicht nur als Überschrift eines Konzepts, sondern als Begriff und gleichzeitig als „irenische Formel“.
Doch dem Bild vom introvertierten Denker – das etwa auch der Buchtitel Soziale Marktwirtschaft aus der Klosterzelle nahelegen mag5 –, dem entspricht, wie viele dem NS-Regime gegenüber kritische Intellektuelle in jener Zeit, die in innerer Emigration an den Entwürfen für eine Zeit nach Hitler arbeiten, Müller-Armack im Vredener Kloster keineswegs. Gerade in der Forschungsstelle im entlegenen Vreden liefen die unter den Bedingungen von Krieg und NS-Diktatur höchst sensiblen, von der Wirtschaft bereitgestellten Daten zusammen. Dies verschaffte Müller-Armack – „Marktbeobachtung“ gehörte zu den Kernaufgaben seiner Forschungsstelle – Innenansichten des industriellen Kerns der deutschen Wirtschaft sowie einen ungetrübten Blick auf die Diskrepanzen zu ihrer Einbettung in die Kommando-Kriegswirtschaft des NS-Regimes und bot seiner konzeptionellen wissenschaftlichen Arbeit einen praktischen Bezugsrahmen. Dies vertiefte offensichtlich seine – dem Zeitgeist deutlich widersprechende – Überzeugung, dass eine Rückkehr zur Marktwirtschaft unumgänglich sein würde, um Deutschland nach dem Krieg wiederaufzubauen.
1947 veröffentlichte Müller-Armack seine Überlegungen und sein Gesamtkonzept – das er „Soziale Marktwirtschaft“ betitelte – mit seinem im Vredener Kloster entstandenen Buch Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft. Dies war das grundlegende theoretische Werk, auch wenn es ebenso wie Müller-Armack selbst nur in der Fachwelt Beachtung fand.
„Verkörpert“ wird die Soziale Marktwirtschaft von Ludwig Erhard als dem bis heute populären „Vater des Wirtschaftswunders“, zumal dieser mit seinem Buch Wohlstand für Alle die Soziale Marktwirtschaft auch in einer breiten Öffentlichkeit bekannt machte. Hinter Erhard stand jedoch stets Müller-Armack, zunächst als Inspirator, dann als Berater und schließlich als enger Mitarbeiter im Bundeswirtschaftsministerium.
Ludwig Erhard, der 1941 mit Müller-Armack in Kontakt gekommen war, wurde 1947 Leiter der Expertenkommission „Sonderstelle Geld und Kredit“ – angegliedert bei der Verwaltung der Finanzen der britisch-amerikanischen Bizone –, deren Hauptaufgabe die Vorbereitung der Währungsreform war. In dieser Funktion berief er Müller-Armack als Berater; dies blieb er auch, als Erhard 1949 zum ersten Bundeswirtschaftsminister der neugegründeten Bundesrepublik aufstieg.
1950 übernahm Müller-Armack den Lehrstuhl für Wirtschaftliche Staatswissenschaft an der Universität zu Köln, den er zunächst behielt, als er 1952 in Erhards Bundeswirtschaftsministerium ins nahe Bonn wechselte; zuerst als Leiter der Grundsatzabteilung und seit 1958 als Staatssekretär. Als Erhard 1963 zum zweiten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt wurde und das Wirtschaftsministerium verließ, beendete auch Müller-Armack seine dortige Tätigkeit und lehrte bis zu seiner Emeritierung 1970 wieder in Köln. Hier ist er 1978 verstorben.
Die irenische Formel heute
Was hat uns Alfred Müller-Armack heute noch zu sagen? Es lohnt sich, die Grundlagen seines Konzepts in Erinnerung zu rufen, wenn es um die Herausforderung der Digitalisierung, Fragen nach dem Menschensein, der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung wie auch den gesellschaftlichen und damit politischen Rahmenbedingungen geht.
Das Konzept Müller-Armacks, die irenische – friedenssuchende – Formel dieser Ordnung, kann auch der Disruption der Digitalisierung eine ethische Kontur geben, weil sie „nie aus dem Zweckdenken und überalterten politischen Ideen allein hervorgehen kann, sondern der tieferen Begründung durch sittliche Ideale bedarf, welche ihr erst die innere Berechtigung verleihen“.6 Dieser menschengemäße, normative Kern macht das Konzept unvergleichbar mit anderen liberalen Modellen, wenn es besagt, „[…] es scheint doch notwendig, darauf hinzuweisen, dass das letzte Kriterium für eine Wirtschaftsordnung auch im Geistigen ruht und nicht im Wirtschaftlichen allein.“7
Wir stehen vor der Aufgabe, diese menschliche, geistige Dimension der sozialen Beziehungen ähnlich gegenüber dem Digitalen zu schützen, wie es mit der Sozialen Marktwirtschaft in der frühen Bundesrepublik Deutschland gelungen ist, die Würde des Menschen gegen die Übertreibungen des Marktes wie den unbotmäßigen staatlichen Eingriff zu schützen.
Müller-Armacks Ansatz ist auch eine angemessene Richtschnur im Umgang mit Staaten wie China oder Russland, die eine gänzlich andere Gesellschaftsordnung verfolgen. Denn er gründet auf einem ganzheitlichen Denken, wenn er schreibt: „Die Frage der Wirtschaftsordnung steht in unlösbarem Zusammenhange mit der politischen und Gesamtlebensordnung, die wir erstreben. Es gilt heute Klarheit darüber zu gewinnen, wie wenig es möglich ist, die Ideale menschlicher Freiheit und persönlicher Würde zu verwirklichen, sofern die wirtschaftliche Ordnung, die wir wählten, dem widerspricht.“8 Die Soziale Marktwirtschaft ist der Ordnungsrahmen, der eine leistungsfähige Wirtschaft in einer symbiotischen Beziehung zur geistigen, sozialen und politischen Ordnung ermöglicht. Seine Offenheit für den geordneten Streit der Meinungen und Ideen unterscheidet ihn von autoritären Systemen genauso wie seine Überzeugung, dass die Wirtschaft den Menschen dient und nicht der Nation, dem Staat oder einer Partei. Die Wirtschaftsordnung der Sozialen Marktwirtschaft ist der dezidierten Wirtschaftslenkung überlegen, wenn sie unterschiedliche Interessen ausgleichen kann, ohne sich brachial zugunsten einiger (weniger) entscheiden zu müssen, und wenn sie in ihrer Offenheit nicht beliebig ist, sondern möglichst allen Interessen einen Platz einräumt und damit in einem umfassenden Sinne inkludiert.
Auch die Bewältigung der klimatischen Folgen unseres Lebens- und Wirtschaftsstils findet ihre Berücksichtigung, wenn Müller-Armack betont: „Neben den engeren Aufgaben der Wettbewerbssicherung […] des sozialen Schutzes steht der Staat seit je und heute bewusster als früher vor Aufgaben der Gesellschaftspolitik, um die heute so gern zitierte ‚Qualität des Lebens‘, d. h. die Lebensumstände für alle, zu verbessern.“9
Man kann die Bedeutung der Sozialen Marktwirtschaft für den wirtschaftlichen Wiederaufbau infrage stellen,10 als eine von verschiedenen Varianten des Kapitalismus11 oder eine Epoche besonderer historischer Umstände des Wiederaufbaus der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine solche Einordnung unterschätzt jedoch ihren eigenen Charakter als „offenem, der Ausgestaltung harrenden progressivem Stilgedanken“.12 Gerade im Zusammenspiel des „strengen“ Prinzipiengerüsts der Freiburger Schule Walter Euckens und des „begnadeten“ Kommunikationsstils Ludwig Erhards ist Müller-Armacks Beitrag grundlegend für die Anpassungsfähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft an die zahlreichen epochalen Umbrüche, die die immer noch junge Bundesrepublik Deutschland erlebt oder bestanden hat.
Wäre es anders, wäre uns oder anderen bereits etwas Besseres eingefallen. Und es wäre auch nicht zu erklären, warum diese Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung weiterhin Anziehungskraft auf Menschen weltweit ausübt. Man könnte sich keine bessere soft power wünschen, und diese ist untrennbar mit Alfred Müller-Armack verbunden.
Hans-Jörg Dietsche, geboren 1972 in Freudenstadt, Jurist und Politologe, Ministerialrat und Professor für Recht und nachhaltige Gesetzgebung, Fachhochschule des Mittelstands (FHM) Bielefeld.
Matthias Schäfer, geboren 1968 in Stuttgart, langjähriger Leiter der Arbeitsgruppe Soziale Marktwirtschaft, seit 2021 Leiter des Auslandsbüros Algerien der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Algier.
Ein Initiativkreis erinnert in Vreden an das Ereignis "75 Jahre Soziale Marktwirtschaft" mit einer Festveranstaltung und einer Ausstellung, die vom 7. Juni bis 31. Juli präsentiert wird. Die Feier mit Verleihung der Alfred Müller-Armack Verdienstmedaille findet am 28. Juni 2022 statt.
www.soziale-marktwirtschaft-ist-kult.de
1 Claus Hecking: „Die Erfindung der Sozialen Marktwirtschaft“, in: Die Soziale Marktwirtschaft – Made in Vreden, Beiträge des Heimatvereins Vreden zur Landes- und Volkskunde, Band 99, Vreden 2019, S. 19.
2 Daniel Dietzfelbinger: „Soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsstil“, in: Die Soziale Marktwirtschaft, a. a. O., S. 84.
3 Friedrich Aumann: „Die Forschungsstelle für allgemeine und textile Marktwirtschaft im Herz-Jesu-Kloster in Vreden 1943–1949“, in: Die Soziale Marktwirtschaft, a. a. O., S. 65.
4 Hermann Terhalle: „Das Herz-Jesu-Kloster in Vreden-Ellewick und die Soziale Marktwirtschaft“, in: Die Soziale Marktwirtschaft, a. a. O., S. 58.
5 Vgl. Volker Tschuschke: „Vreden und die Soziale Marktwirtschaft – vom Weltkrieg zum Wirtschaftswunder“, in: Die Soziale Marktwirtschaft, a. a. O., S. 32.
6 Alfred Müller-Armack: Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft. Frühschriften und weiterführende Konzepte, Bern/Stuttgart 1981.
7 Alfred Müller-Armack: Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Europäischen Integration, Bern/Stuttgart 1976.
8 Müller-Armack 1976, a. a. O.
9 Müller-Armack 1981, a. a. O.
10 Werner Abelshauser: Des Kaisers neue Kleider, RHI-Positionen, Nr. 7/2009.
11 Siehe Bundeszentrale für Politische Bildung, www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/10727_ Soziale%20Marktwirtschaft_Leseprobe.pdf [letzter Zugriff: 08.03.2022].
12 Müller-Armack 1976, a. a. O.