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Eindrücke aus Südkorea sechzig Jahre nach dem Waffenstillstand

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Seoul, März 2013: ein endlos großer Aufmarschplatz, begrenzt von einem wuchtigen Gebäude mit Freitreppe und Pfeilerhallen. Die steinerne Platzfläche davor ist leer, nur die Fahnen bewegen sich im Wind. Vor dem Platz martialische Denkmäler. Ein aufgeschnittenes, riesenhaft vergrößertes Geschoss ragt über zwanzig Meter in den blauen Himmel. Grimmige Bronzesoldaten stürmen heran. Historisches Kriegsgerät steht nebenan auf einer Freifläche: Panzer, Flugzeuge, Schiffe. Es sind Eindrücke, die man wohl eher in Nordkorea erwartet hätte, im Reich des Diktators Kim Jong-un, weniger im Süden der geteilten Halbinsel, inmitten der geschäftigen Zehn-Millionen-Metropole. Das südkoreanische Kriegsmuseum – The War Memorial of Korea – demonstriert militärische Stärke und Siegeswillen. Es bedient sich dabei eines bizarren Pathos, das uns in Deutschland nach den Kriegserfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts fremd geworden ist. Aus dem Jahr 2003 stammt die Figurengruppe der anstürmenden Soldaten. Man hätte sie spontan weitaus älter geschätzt.

Das Kriegsmuseum ist die offizielle südkoreanische Gedenkstätte für den blutigen Bürgerkrieg, der unzählige Tote kostete und das Land in zwei Teile zerriss. Bis heute ist der Krieg nicht vorbei, sondern war – jedenfalls bis vor Kurzem – lediglich unterbrochen durch einen Waffenstillstand, der vor sechzig Jahren, am 27. Juni 1953, nach mühsamen Verhandlungen geschlossen wurde. Die Demarkationslinie, auf die sich Nordkorea, China und die Vereinten Nationen damals einigten, ist bis heute eine der am stärksten ausgebauten und bewachten Grenzen der Welt. Nie war der Zustand wirklich stabil. Aber so heikel wie jetzt ist er auch lange nicht erschienen: ständige Drohungen, Atom- und Raketentests. Am 8. März hat Kim Jong-un, der „großartige Führer von Partei, Armee und Volk“, das Waffenstillstandsabkommen aufgekündigt. Die nordkoreanische Parteizeitung Rodong Sinmun tönte, die Zeit der Entscheidungsschlacht sei gekommen. Wer vermag sicher zu sagen, ob es sich dabei tatsächlich nur um makabre Rhetorik handelt, mit der internationaler Status und Vergünstigungen erpresst werden sollen?

 

Der deutsche Blick auf Korea

Deutschland und Korea werden oft miteinander verglichen, weil sie im Kalten Krieg zwischen den politischen und militärischen Blöcken aufgeteilt wurden. Beide Völker erlebten grausame Kriegshandlungen und litten unter den Folgen der Teilung. Doch auf den zweiten Blick unterscheiden sich die historischen und politischen Umstände fundamental: Während Deutschland in einem Weltkrieg verwüstet wurde, den die Deutschen selbst angezettelt hatten, in dem sie aber nicht gegeneinander kämpften, litten die Koreaner unter einem mörderischen Bürgerkrieg. Während sich im Norden unter sowjetischem Einfluss ein „Arbeiter- und Bauernstaat“ etabliert hatte, wurde der Süden der Halbinsel von einer antikommunistischen Regierung beherrscht. Der Krieg begann am 25. Juni 1950, als die nordkoreanische „Volksarmee“ die Grenze am 38. Breitengrad überschritt und fast die ganze Halbinsel eroberte. Nur durch das Eingreifen einer Armee der Vereinten Nationen, die zu zwei Dritteln aus US-Truppen bestand, konnte ihr Vormarsch aufgehalten werden. Bei den Kampfhandlungen starben drei Millionen Koreaner. Das heißt: Etwa zehn Prozent der Einwohner der Halbinsel kamen ums Leben. Der Krieg zerstörte alle größeren Städte des Landes, riss Familien auseinander und entwurzelte eine ganze Generation.

Vor diesem Hintergrund ist kaum zu verstehen, wie wenig sichtbare Spuren diese tragische Vergangenheit im südkoreanischen Alltag hinterlassen hat. Aus der deutschen Erfahrung ist man zu glauben geneigt, dass die Menschen Orte brauchen, um zu trauern – und um über Schuld und Versöhnung zu sprechen. Doch in Südkorea scheinen solche Orte zu fehlen. Der Krieg, der vor sechzig Jahren eingestellt wurde, ist nicht mehr präsent – vielleicht, weil er als schwelende Drohung fortbestand? Fragt man die ältere Generation, dann erzählt sie nicht vom Krieg, sondern von Armut und Hunger, die sich als bittere Erfahrung in das Gedächtnis eingebrannt haben. Ihre Lebensgeschichten sind eng mit dem wirtschaftlichen Aufstieg des Landes verbunden, das sich innerhalb weniger Jahrzehnte von einer der ärmsten Nationen Asiens zur zehntgrößten Wirtschaftsmacht der Welt entwickelte. Mit dieser Erfolgsgeschichte identifizieren sich die Südkoreaner offenbar. Der Krieg spielt dagegen keine Rolle.

Erst 1994 wurde in Seoul auf dem früheren Gelände des Hauptquartiers der südkoreanischen Streitkräfte das War Memorial eröffnet – eine Mischung aus Museum, Gedenkstätte und Freizeitpark. Der Koreakrieg wird hier haarklein nacherzählt. Die Gegenseite aber – und das macht die Schwierigkeit des Gedenkens aus – hat kein Gesicht. Einerseits prangert das Museum die Bedrohung aus dem Norden an, andererseits vermeidet man alles, was den Eindruck erwecken könnte, dass das nordkoreanische Volk der Feind sei. Das Totengedenken – ein Wasserbecken im Sonnenlicht symbolisiert die Schöpferkraft der Nation – geht mit der Aufforderung zur Wehrbereitschaft einher. Und so scheinen es vor allem Einheiten der südkoreanischen Armee zu sein, die das War Memorial besuchen. Sie verlassen es mit der Botschaft, dass ihre Republik der einzige legitime Vertreter des koreanischen Volkes sei.

 

Und die Einheit?

Unter den ästhetisch eher fragwürdigen Denkmälern, die das Museumsgelände umgeben, befindet sich auch die Friedensuhr. Mit süßlichem Realismus soll sie die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung der geteilten Halbinsel ausdrücken. Offenbar eine fast abgeschriebene Hoffnung, steht doch das Denkmal – wie abgeschoben – an der Parkplatzzufahrt. Auf einem Bronzepfeiler aus zerbrochenen Waffen klammert sich ein Mädchen an eine Uhr, die jene Zeit anzeigt, zu der am 25. Juni 1950 der Koreakrieg begann. Eine Frau, die das Mädchen aufzurichten versucht, schultert eine zweite Uhr mit der aktuellen Uhrzeit. Sie soll eines Tages durch eine Uhr ersetzt werden, die den Zeitpunkt der friedlichen Wiedervereinigung angibt. Diese Uhr steht schon bereit. Doch die Schrift auf der Granittafel, die davon berichtet, ist längst verwittert.

Die Hoffnung auf Wiedervereinigung wurde in meinen Gesprächen nur von wenigen Menschen in Südkorea geäußert. Das liegt wohl auch an der totalen Abschottung der Landesteile. Anders als im Deutschland des Kalten Kriegs ist zwischen den Einwohnern der beiden Nachbarländer keinerlei Kontakt möglich – keine Besuche, keine Briefe, keine Telefonate. Die Lebenswelten haben sich in fast sieben Jahrzehnten vollkommen auseinanderentwickelt. Umfragen bestätigen, dass nur wenige Südkoreaner mit einer Wiedervereinigung rechnen. Aber wird die Frage der Vereinigung im Süden entschieden werden? Was wird man tun, wenn die Bevölkerung Nordkoreas nach einem Ende der Diktatur einen Zusammenschluss wünscht?

 

Ein bisschen Geschichte darf sein

Zur Entfremdung der beiden Landesteile hat vermutlich auch beigetragen, dass man in Südkorea die Erinnerung an den Koreakrieg und die dramatischen Ereignisse des zwanzigsten Jahrhunderts weitgehend verdrängt. Heute wirkt Seoul wie eine geschichtslose Millionenstadt, in der alle Spuren der Vergangenheit getilgt zu sein scheinen. Nirgendwo erfährt man, dass die alte Hauptstadt im Koreakrieg mehrfach zwischen den Kriegsparteien hin- und herwechselte, dass sie zweimal von den Nordkoreanern eingenommen und in Straßenschlachten wieder zurückerobert wurde. Eines der wenigen Gebäude, das den Krieg überstand, war der 1926 erbaute Gouverneurspalast der einstigen japanischen Kolonialmacht. In dem mächtigen Kuppelbau wurde 1948 die Republik Korea gegründet und 1950 die Rückeroberung der Hauptstadt aus nordkoreanischer Hand gefeiert. Bis 1985 war das Gebäude der Sitz der Nationalversammlung. 1995 allerdings ordnete der südkoreanische Präsident Kim Young-sam den Abriss des Gebäudes an. Das symbolträchtige Bauwerk wurde mit der Begründung abgetragen, dass man nicht mehr an die japanische Kolonialherrschaft erinnert werden wolle. Nachdem man den authentischen Ort beseitigt hatte, wurde im War Memorial ein Pappmodell aufgestellt.

Heute steht dort, wo sich einst das Herz der südkoreanischen Politik befand, ein nachgebautes Palasttor. Es steht für die Herrschaft der koreanischen Könige und damit für die kulturellen Traditionen des Landes vor der japanischen Besetzung und vor den schmerzvollen Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts. Ein bisschen Geschichte darf also sein, sofern sie nicht verstört.

Im geschäftigen Verkehr der großen Hauptstraße, die auf dieses Tor zuführt, übersieht man leicht den einzigen innenstädtischen Gedenkort des Koreakriegs: In privater Initiative wurden auf dem Fußweg Tafeln aufgestellt, die eindringliche Fotos des vergessenen Kriegs zeigen. Auf die Open-Air-Galerie machen Flaggen jener Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen aufmerksam, die 1950 Soldaten und Hilfskräfte auf die Halbinsel schickten und so den nordkoreanischen Angriff zurückschlugen. Es soll ein Dank an die Nationen sein, die Korea in tiefster Not nicht im Stich ließen. Dass sich so viele Länder damals am Einsatz der Vereinten Nationen beteiligten – sogar das kleine Luxemburg schickte Soldaten –, überrascht auch die europäischen Besucher.

Für uns Deutsche ist der Koreakrieg kaum mehr als eine Episode aus dem für viele inzwischen schon fernen Kalten Krieg. Dass dieser mehr als zwanzig Jahre nach seinem Ende in Europa in einer anderen Weltgegend doch noch in einen heißen Krieg umschlagen könnte, ist eigentlich eine absurde Vorstellung. Eine Versicherung gegen einen Atomkrieg liegt darin freilich nicht. Es könnte schließlich auch geschehen, was niemand für möglich hält. Der Krieg ging vor sechzig Jahren in Korea nicht zu Ende. Im Alltag Südkoreas ist er nicht präsent. Dennoch liegt er wie ein großer dunkler Schatten über der koreanischen Gesellschaft. Ein Schatten, der vorhanden ist, selbst wenn man alles tut, um die Augen davor zu verschließen.


Matthias Donath, geboren 1975 in Freital, freiberuflicher Kunsthistoriker und Buchautor.


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