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Historische Erfahrungen über die Verabsolutierung des gesellschaftlichen Friedens

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Wie sterben Demokratien? Mit Blick auf die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts lauten gängige Antworten: durch eine militärische Niederlage, infolge eines Bürgerkriegs, einer Revolution oder eines Militärputsches. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich eine andere, gegenwärtig wieder aktuelle und höchst beunruhigende Ursache. Die US-amerikanischen Autoren Steven Levitsky und David Ziblatt haben sie in ihrem 2018 erschienenen Buch How Democracies Die thematisiert: Demokratien sterben (auch) von innen heraus, durch Wahlen, wenn sich immer mehr Wählerinnen und Wähler überzeugen lassen, dass demokratiefeindliche, autoritäre Kräfte vermeintlich bessere Lösungen für die vorhandenen Probleme anzubieten haben, und bereit sind, für den vermeintlichen gesellschaftlichen Frieden auch die Aushöhlung demokratischer Prinzipien und die Außerkraftsetzung bisher verbindlicher Regeln in Kauf zu nehmen.

Bereits der Untergang der Weimarer Republik – das bis heute wohl am intensivsten erforschte Beispiel einer nicht auf revolutionärem, sondern auf legalem Wege sterbenden Demokratie – hing wesentlich mit dem enormen Aufschwung der NSDAP bei den Reichstagswahlen seit 1930 zusammen. Mit 37,9 Prozent erzielte sie im Juli 1932 das beste Ergebnis, das eine deutsche Partei bis dahin bei gesamtstaatlichen Wahlen erreichen konnte. Lediglich bei den Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung 1919 war die SPD auf exakt den gleichen Stimmenanteil gekommen. Grund genug also – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in den USA, Ungarn, Polen, Frankreich und auch bei uns –, sich die Frage zu stellen, worin die „Verlockung des Autoritären“ bestand und besteht, der Menschen in demokratischen Systemen in großer Zahl erlagen und heute vielfach wieder zu erliegen scheinen. Ebenso liegt es nahe, einen Fokus auf die Erosion und schließlich Zerstörung der Demokratie von Weimar zu richten.

 

Warum scheiterte die erste deutsche Demokratie?

Selbstverständlich war ein so komplexer Prozess wie das Scheitern der ersten deutschen Demokratie von vielen verschiedenen, sich in unheilvoller Weise verbindenden Faktoren geprägt:

  • der Belastung durch die als zutiefst ungerecht und revisionsbedürftig empfundenen Bestimmungen des Versailler Vertrages;
  • der „Dolchstoßlegende“, wonach das „im Felde unbesiegte deutsche Heer“ aufgrund des Verrats der nunmehrigen republikanischen Eliten hinterrücks „erdolcht“ worden sei;
  • Verfassungsmängeln beziehungsweise -lücken, die in Krisensituationen höchst problematische Wirkungen zeitigen konnten;
  • dem Trauma der im Krisenjahr 1923 ihren Höhepunkt erreichenden Hyperinflation, die zur Vernichtung aller in festen Geldbeträgen angelegten Vermögen und damit zur Verarmung eines wesentlichen Teils des Mittelstandes führte, und das Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses der Deutschen wurde;
  • der zunehmenden Fragmentierung der Gesellschaft und der Parteienlandschaft;
  • der sich ab 1929 massiv verschärfenden, mit immer höherer Arbeitslosigkeit einhergehenden Wirtschaftskrise, die zu millionenfacher Verelendung führte, die Widerstandskraft vieler Menschen endgültig erschöpfte und für einen massiven Vertrauensverlust gegenüber dem politischen System sorgte;
  • einer als Folge der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs von Gewalt geprägten politischen Kultur.
     

Nicht übersehen werden sollte zudem, dass die Demokratien in der Zwischenkriegszeit generell zusehends in eine Krise gerieten und sich durch autoritäre Tendenzen bedroht sahen oder ihnen erlagen. Als Beispiele sind das faschistische Italien oder die Entwicklungen in Spanien, Polen, Ungarn, Rumänien und Österreich zu nennen. Insgesamt war die Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg von einer sukzessiven Abwendung von den erst kurz zuvor etablierten Demokratien geprägt, sodass in den 1930er-Jahren in Europa nur noch Großbritannien, Frankreich, die Tschechoslowakei, die skandinavischen Staaten und die Schweiz demokratisch verfasst waren. Und auch in diesen Ländern gab es durchaus Tendenzen und Ideen zu einer autoritären Umformung des politischen Systems, ebenso in den USA während des New Deal und des Zweiten Weltkriegs, als Präsident Franklin D. Roosevelt mit einer bis dahin beispiellosen exekutiven Machtfülle ausgestattet wurde.

 

Kapitulation des parlamentarischen Systems

In Deutschland führten die genannten Faktoren zu einer fortschreitenden Aushöhlung und Delegitimierung des demokratischen Systems der Weimarer Republik und einem massiven Vertrauensverlust in die demokratischen Institutionen und Parteien. Einerseits wuchs die Kritik am Kompromisscharakter zahlreicher politischer Entscheidungen, die man „nicht selten als einen gravierenden Verstoß gegen die Prinzipienfestigkeit eines einmal eingenommenen politischen Standpunkts interpretierte“ (Hendrik Thoß). Andererseits erhöhten das oftmals langwierige „Parteiengezänk“, das Entscheidungen vorausging, und die sich verschärfende wirtschaftliche und soziale Lage die Anfälligkeit gegenüber antidemokratischen Denkmustern von links und rechts, wonach der Einzelne den liberalen Individualismus ablegen und sich vorbehaltlos in die „Volksgemeinschaft“ beziehungsweise in das „Kollektiv“ einordnen sollte. Diese Denkmuster versprachen ein Ende der Auseinandersetzungen, die Auflösung der vorhandenen Widersprüche und die Herstellung des gesellschaftlichen Friedens, nach dem sich viele sehnten.

Die wachsende Skepsis gegenüber Parteien und Parlamentarismus konnte an die deutsche Tradition des „Unpolitischen“ anknüpfen, die in Thomas Manns 1918 erstmals erschienenen Betrachtungen eines Unpolitischen einen bis heute vielzitierten Ausdruck fand. Danach galten Parteien nicht als Instrumente zur Artikulation politischer Interessen und des Ringens um Kompromisse, Interessensausgleich und konsensfähige Lösungen, sondern als Ausdruck von Partikularinteressen zulasten eines wie auch immer zu definierenden nationalen Interesses oder „Volkswohls“.

Übrigens befürworteten noch 1950 gerade einmal 53 Prozent der befragten Bundesbürger ein Mehrparteiensystem, während beachtliche – und bedenkliche! – 25 Prozent einen Einparteienstaat präferierten. Bereits die Entscheidung für den ehemaligen kaiserlichen Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg bei der Reichspräsidentenwahl 1925, die als „konservative Umgründung der Republik“ (Heinrich August Winkler) charakterisiert worden ist, war in erheblichem Maße vom Widerwillen gegen „Parteiengezänk“ und vermeintliches politisches „Geschacher“ geprägt. Der „Held von Tannenberg“ erschien demgegenüber als Symbol des Volksganzen und hatte auch selbst im Wahlkampf „die Bedeutung des Willens zur Einigkeit“ hervorgehoben, „der nichts mit Parteipolitik zu tun hat, sondern dem gesunden Nationalgefühl des deutschen Volkes entspricht“.

In der Rückschau handelte es sich um eine erste empfindliche Niederlage der jungen Republik und war ein Symptom für das Unbehagen an der Parteiendemokratie und die Sehnsucht nach gesellschaftlichem Frieden und Einigkeit. Verstärkt wurde diese Sehnsucht, weil die junge Demokratie die Belastungen immer weniger zu bewältigen vermochte und weil die Parteien und Verbände auf die Verfolgung ihrer Sonderinteressen mehr Energie verwendeten als auf die Gesamtverantwortung für die Republik. Dass es dem Reichstag ab März 1930 nicht mehr gelang, aus eigener Kraft eine mehrheitsfähige Regierung zu bilden, kam einer Kapitulation des parlamentarischen Systems gleich. Das Versprechen Adolf Hitlers, die zahlreichen Parteien und damit auch die von ihnen vertretenen Partikularinteressen „aus Deutschland hinauszufegen“, erschien immer mehr Menschen attraktiv.

 

Unbefriedigter Wunsch nach Einheit und Harmonie

Anne Applebaum hat in ihrem persönlich gehaltenen, in seinen Befunden höchst beunruhigenden Essay Die Verlockung des Autoritären mit Blick auf die gegenwärtigen Entwicklungen zwei weitere wichtige Aspekte genannt, die für den Untergang der Weimarer Republik ebenfalls eine Rolle gespielt haben, aber zurzeit von noch einmal stark erhöhter Bedeutung sind. So sei das für liberale Demokratien konstitutive Wettbewerbsprinzip oftmals nicht in der Lage, Antworten auf die tieferen Fragen nach nationaler oder persönlicher Identität zu geben, und lasse „den Wunsch nach Einheit und Harmonie unbefriedigt“. Die verschiedenen Versuche, mit Blick auf das bundesdeutsche Grundgesetz einen „Verfassungspatriotismus“ zu postulieren, kann man auch als Bemühungen zur Kompensation dieses Defizits verstehen.

Des Weiteren, so Applebaum, sei der Wunsch nach Komplexitätsreduktion ein Grund für die Attraktivität autoritären Denkens. Viele Menschen seien überfordert oder hätten schlicht „keine Lust, sich auf Komplexität einzulassen“. Sie folgten daher Politikern, die eine einfache „neue und geordnetere politische Ordnung versprechen“. Wird aber der gesellschaftliche Frieden zum absoluten Prinzip erhoben und als endgültiger Zustand verstanden und nicht mehr als prozessuales Gut, das sich im Streit und Kompromiss immer neu austarieren muss, dann droht der Umschwung zum Autoritären oder gar Totalitären. Denn autoritäre Regime versprechen den endgültigen Frieden – den Stillstand der Konflikte – und suchen ihn durch Ausschluss, Zensur und Gewalt durchzusetzen.

Der Wunsch nach Einigkeit, Komplexitätsreduktion und gesellschaftlichem Frieden ist für sich genommen wohl nicht ausreichend, um ein etabliertes demokratisches Gemeinwesen in seinen Grundfesten zu erschüttern. Kommen aber andere krisenhafte Entwicklungen hinzu – tatsächliche oder als solche wahrgenommene –, so führt eine sich ständig zuspitzende politische Polarisierung zu häufigen Blockaden des Systems (man denke an die fast schon periodisch auftretenden „Government-Shutdowns“ in den USA). Sorgt zudem eine überbordende, in Teilen dysfunktionale Bürokratie dafür, dass Entscheidungsprozesse verlangsamt oder gar blockiert werden, kann dieses Verlangen tatsächlich dazu beitragen, dass Individuen oder Gruppen und schließlich ganze Staaten der „Verlockung des Autoritären“ und einer Verabsolutierung des gesellschaftlichen Friedens erliegen.

 

„Es kommt darauf an, zu entscheiden“

Nun ist gesellschaftlicher „Frieden“ ein Grundbedürfnis jeder Gesellschaft. Dolf Sternberger, einer der bedeutenden Demokratieerzieher der jungen Bundesrepublik, kennzeichnete im November 1960 in seiner Heidelberger Antrittsrede das Politische „als den Bereich der Bestrebungen, Frieden herzustellen, Frieden zu bewahren, zu gewährleisten und zu schützen und freilich auch zu verteidigen“. Allerdings wusste Sternberger, dass gesellschaftlicher Frieden nicht als Zustand oder Momentaufnahme verstanden werden kann, sondern als Prozess, der auf Verhandlung und politischer Vereinbarung beruht, um das Gegensätzliche wenn nicht zu überwinden, so doch ausgleichen und in einen Zustand erträglicher Koexistenz überführen zu können. Dazu gehört die Fähigkeit, Verschiedenheiten und Gegensätze anzuerkennen und Konflikte zwischen sozialen Gruppen, politischen Lagern und kulturellen Milieus so auszutragen, dass das Gemeinwesen nicht zerbricht. Sternberger rechtfertigte daher auch Sanktionen gegen Antidemokraten als selbsterhaltende Maßnahme und war Befürworter einer wehrhaften Demokratie.

Der im Frühjahr 2025 verstorbene Bernhard Vogel, ein Schüler Sternbergers, hat als eine Quintessenz seiner langjährigen Erfahrungen festgehalten, dass es in der Politik oftmals vor allem darauf ankomme, dass entschieden werde. Eher selten gebe es Entscheidungen „wirklich von grundsätzlicher Bedeutung“, die dann natürlich besonders wichtig seien. In der Regel gehe es in der Politik also „nicht um Sendungsbewusstsein“. Der notwendige Streit um die besten Lösungen bedürfe daher zumeist auch pragmatischer Kompromissbereitschaft.

Ob die Jahre zwischen 1990 und 2015 tatsächlich – wie von Levitsky und Ziblatt behauptet – „das demokratischste Vierteljahrhundert der Geschichte“ waren, sei einmal dahingestellt. Unbestreitbar aber ist, dass sich gegenwärtig die liberale, vermeintlich gefestigte Demokratie westlichen Typs auch im Inneren in einem Maße mit Herausforderungen und Gefahren konfrontiert sieht, wie man es jahrzehntelang nicht für möglich gehalten hätte. Es zeigen sich hier die Grenzen des Vergleichs mit dem Schicksal der Weimarer Republik, die in einem Land ohne große demokratische Tradition und unter äußerst schwierigen äußeren und inneren Bedingungen gegründet wurde. Bei traditionsreichen, über einen langen Zeitraum durchaus gefestigten Demokratien ist der Befund, dass bisher als fundamental geltende Normen zunehmend infrage gestellt werden, besonders verstörend und alarmierend. Zugleich ist hier aber auch die Hoffnung größer, dass eine Rückbesinnung auf diese Normen, darunter die Notwendigkeit produktiven Streits, möglich ist.

Dazu gilt es, sich klarzumachen, dass gesellschaftlicher Friede die Anerkennung von Konflikten und divergierenden Interessen voraussetzt. Es gilt, sich immer wieder die Notwendigkeit einer nicht mit Prinzipienlosigkeit zu verwechselnden – und schon gar nicht als solche zu denunzierenden – Kultur des politischen Kompromisses ins Gedächtnis zu rufen und diese auch zu praktizieren. Es gilt, so Anne Applebaum, sich den Herausforderungen der freiheitlichen Demokratie zu stellen, die ihren Bürgern „Teilnahme, Diskussion, Einsatz und Auseinandersetzung“ abverlangt und „Stimmengewirr und Durcheinander auszuhalten, aber auch denen Kontra zu geben, die es anzetteln“.

 

Christopher Beckmann, geboren 1966 in Essen, promovierter Historiker, Referent Wissenschaftliche Dienste / Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Konrad-Adenauer-Stiftung.

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