Asset-Herausgeber

Die Autobiographie Alexej Nawalnys

Alexej Nawalny: Patriot. Meine Geschichte, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2024, 560 Seiten, 28,00 Euro.

Asset-Herausgeber

„Die Menschen kämpften gegen das Regime, nicht gegen ihr Land.“ So beschreibt Alexej Nawalny die Motivation der vielen Hunderttausend Menschen, die in den späten 1980er­Jahren die neue Redefreiheit nutzten, um kompromisslos und lustvoll die Unzulänglichkeiten des sowjetischen Systems öffentlich auszubreiten. Wenig später brach der Staat zusammen – „[und ich] bereute es nicht im Geringsten, denn was hatte ich schon verloren? Russland, meine Heimat, war immer noch da“ (S. 74). Wer gegen die Staatsmacht ist, ist nicht gegen Russland – ganz im Gegenteil. Dies ist die zentrale Botschaft des Buchs, das nicht zufällig den Titel Patriot trägt. 

Für Wladimir Putin, der sich vom Sprecher der Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, zur Inkarnation des Landes erklären ließ, ist das womöglich ein letzter Affront. Ein letzter Seitenhieb Nawalnys, der seine politische Laufbahn seit ihrem Beginn als Widerstand gegen Putin persönlich verstand und der sich in direkter Auseinandersetzung mit Putin begriff.

Am 16. Februar 2025 jährte sich der Tod Alexej Nawalnys zum ersten Mal. In diesen Tagen wurde Nawalny noch einmal die Aufmerksamkeit der Welt zuteil. Seine Autobiographie, posthum erschienen, zeichnet sicher kein objektives Bild – wie wäre das auch möglich? Und doch lässt sich aus ihr vieles über ihn lernen. Aus den Elementen seines Lebens, die er betont und herausstreicht, genauso wie aus dem lässig Ausgesparten erfahren wir: Wie möchte Alexej Nawalny seinem Land und der Welt in Erinnerung bleiben? Und damit auch: Wie stellt sich Nawalny – der trotz seiner außergewöhnlichen Talente ein „gewöhnlicher“ Russe der letzten sowjetischen Generation war – eine politische Führungsfigur vor, die die Chance hätte, Russland auf einen anderen Weg zu lenken?

Nawalny präsentiert sich als Kind seiner Zeit. Als Heranwachsender in Garnisonsstädten um die Hauptstadt, in denen sein Vater als Militäranwalt stationiert ist, sprengt er, wenn er nicht gerade Tolstoi liest, mit Begeisterung herumliegende Munition in die Luft und treibt seine Lehrer als Klassenclown zur Weißglut. Als Student der Rechtswissenschaft in den 1990er-Jahren erliegt er auch der Versuchung der Korruption. In einer der starken, reflektierenden Passagen beschreibt er die Überheblichkeit, mit der er die aus der Zeit gefallenen sowjetischen Dozenten narrt und sich einmal – nur einmal – mit 150 Dollar eine gute Note erkauft.

Solche Episoden sind für Nawalny eine Quelle tiefer und glaubhafter Scham. Dazu zählt seine Begeisterung für Boris Jelzin bis in die späten 1990er-Jahre. Freimütig schildert Nawalny, wie er Jelzin in damaligen Diskussionen verteidigt. Als dieser 1993 das Parlament beschießen lässt, als er die Kontrolle über Staatsunternehmen und Ressourcen durch die berüchtigten „loans for shares“ an eine Handvoll zwielichtiger Unternehmer verscherbelt und als er die Wahlen von 1996 durch oligarchische Mediendominanz knapp gewinnt – all das versteht der zwanzigjährige Nawalny als Mittel zum Zweck, ordnet es dem Ziel eines liberalen Umbaus der russischen Wirtschaft und Gesellschaft unter.

Heute erachtet er Jelzins Präsidentschaft als Ursprung des Putin-Regimes. Die Liberalen, die in den 1990er-Jahren regierten, hätten – mit Unterstützung von Menschen wie ihm – die Demokratie verraten. Und viele hätten nach Jelzins Abgang die autoritäre Umstrukturierung eigennützig mitgemacht. „Jetzt […], wo wir mit eigenen Augen die ‚Reformer der 1990er‘ in Putins Speichellecker, Propagandisten, Oligarchen und Bürokraten verwandelt sehen“ (S. 137), sei es klar, dass Russland diese Jahre verschwendet und die Chance auf Demokratie und breiten Wohlstand verspielt habe. Den russischen Akteuren dieser Zeit stellt Nawalny ihre Kollegen aus anderen Ländern gegenüber, um zu zeigen, dass es auch anders möglich war: „Ist Leszek Balcerowicz, der Architekt der polnischen Reformen, ein Multimillionär wie Anatoli Tschubais geworden? Hat die Familie von Václav Havel […] ein Haus im Wert von 15 Millionen Dollar […]?“ (S. 136–137)

Dies zeigt, mit wem sich Nawalny vermutlich insgeheim vergleicht. Er knüpft damit aber auch an die in Russland weit verbreitete Auffassung an, die 1990er-Jahre seien vor allem eine Zeit des Chaos und der schamlosen Bereicherung Einzelner gewesen – auch wenn sie für ihn persönlich und für viele in seiner Generation eine Zeit der Freiheit waren. Diese Ambivalenz zu akzeptieren und offenzulegen, gibt Nawalnys Bericht eine unerwartete Tiefe.

Putin übernimmt im Dezember 1999 die Macht, und wenig später beginnt Nawalnys Laufbahn als politischer Aktivist und Oppositionspolitiker – im autoritären Russland allerdings ohne Amt und Mandat. Er organisiert intensive politische Debatten, die immer mehr Zuhörerinnen und Zuhörer anziehen, und er steigt bei der kleinen liberalen Partei Jabloko ein. Dort lernt er seinen Lebensfreund und Unterstützer Ilja Jaschin kennen – einer der wenigen Namen aus der tusovka, der hauptstädtischen Politikerclique, die Nawalny für wert erachtet, im Buch erwähnt zu werden. Mit Jablokos intellektuellem und dem aus Nawalnys Sicht vollkommen ineffektivem Parteichef Grigori Jawlinski legt er sich an und wird daraufhin bald aus der Partei ausgeschlossen.

Der Vorwurf von Jabloko lautet damals wie heute: Nationalismus. Nawalny schreibt, zu diesem Thema werde er noch immer von jedem westlichen Journalisten befragt. Das Augenrollen ist zu spüren. Sieht man sich die Videos mit rassistischen Sprüchen aus den späteren 2000er-Jahren an, erscheinen diese Fragen allerdings berechtigt. Doch Nawalny, das betont er im Buch nicht zum ersten Mal, fühlt sich missverstanden. Die Nationalisten seien, abgesehen von „einigen unangenehmen“ und manchen „regelrecht abstoßend[en]“ Typen bei den Russischen Märschen, „gewöhnliche Menschen mit konservativen, wenn auch bisweilen ausgefallenen oder engstirnigen Ansichten“ gewesen (S. 216). „In jedem normalen, entwickelten politischen System wäre ich kein Mitglied einer nationalistischen Partei“ (S. 217). Doch diese Leute existierten nun einmal. Und außerdem waren sie damals eine signifikante Strömung, mit der er kooperieren wollte.

 

Negative Koalition

Diese Strategie bringt ihm viel Ärger ein. Das Muster wiederholt sich später, 2018, als er mit seinem Team die Smart-Voting-App entwickelt und versucht, per Wahlvorschlag die oppositionellen Stimmen auf den pro Wahlkreis aussichtsreichsten Oppositionskandidaten zu konzentrieren, selbst wenn dieser, wie in der überwiegenden Zahl der Fälle, von der halbloyalen Kommunistischen Partei kommt. Viele sind entrüstet. Doch Nawalny sieht es pragmatisch. Sein Ziel war es immer, eine negative Koalition zu schmieden, wie es die Protestforschung nennt: Ein temporäres Bündnis von Menschen, die nicht alle Ziele teilen – wohl aber das eine, das Wichtigste: das Ende des Regimes. Erst nach diesem Ende sollte die politische Strategie den eigenen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Vorstellungen folgen. Und so setzt er auf Massenmobilisierung und darauf, „mit jedem einen Dialog zu führen“ (S. 216), selbst wenn das der reinen liberalen Lehre widerspricht. Andernfalls gewinne das Regime. Und genauso, konstatiert er resigniert, sei es dann auch gekommen: „Während wir uns in unseren kleinen Streitereien verzetteln und zu entscheiden versuchen, wen man als Mitglied von welcher Fraktion brandmarken musste und ob es für uns schicklich sei, in ihrer Gesellschaft fotografiert zu werden, stellten wir auf einmal fest, dass wir in einem Land leben, wo Menschen ohne Grund ins Gefängnis gesteckt oder sogar ermordet wurden“ (S. 217).

An solchen Streitereien ist Nawalny selbst jedoch keineswegs unbeteiligt. Mit Hingebung und Kompromisslosigkeit stürzt er sich, gern vor den Augen der Social-Media-Öffentlichkeit, in Gefechte mit Journalistinnen und Kollegen aus der liberalen Szene. Diese Facette seiner Persönlichkeit bleibt im Buch genauso unterbelichtet wie die gescheiterte Zusammenarbeit unter anderem mit dem Ex-Ministerpräsidenten Michail Kassjanow von 2015 und 2016. Auch wenn Nawalny im Buch manche falsche Entscheidung reflektiert – seine berüchtigten Attacken auf Mitstreiter und seine Überzeugung, die einzig richtige Strategie zu kennen und deswegen von anderen Gefolgschaft zu erwarten, gehören nicht dazu. Ebenso wenig erwähnt er seine recht restriktiven Positionen zur Migration aus Zentralasien und seine hochumstrittene Aussage von 2015, die Krim werde wohl nicht mehr an die Ukraine zurückgegeben. Später nimmt er in dieser Frage eine eindeutige Kurskorrektur vor, und die Tagebucheinträge aus dem Gefängnis zeigen nachdrücklich seine Abscheu vor dem Krieg, den Russland 2022 gegen die Ukraine beginnt. Und doch dominiert die Auseinandersetzung mit Korruption und Autoritarismus; der Imperialismus bleibt unterbelichtet.

 

Korruptionsbekämpfung als Lebensthema

Nach dem Ausschluss aus Jabloko ist Nawalny frei, sich seinen eigenen Projekten zu widmen, und er tut dies mit Leidenschaft. Sein Lebensthema wird die Korruptionsbekämpfung. Er findet in ihr ein Vehikel für seine größeren politischen Pläne – und im Internet, das in Russland auch unter Putin lange Zeit unreguliert existieren kann, findet er eine Plattform, auf der er am Regime und seiner Mediendominanz vorbeisenden kann. Sein außergewöhnliches Sprachtalent erschließt ihm dabei ein Publikum in einer Größe, die anderen versagt bleibt. Auch im Buch blitzt sein Sprachgefühl immer wieder auf. Ein Beispiel sind seine Erinnerungen an den Augustputsch 1991: „Im Radio wurden Stellungnahmen des Komitees als angebliche ‚Bekanntmachungen der sowjetischen Führung‘ verlesen. Ich kam schnell zu dem Schluss, dass eine Gruppe von Tattergreisen den Verstand verloren hatte und versuchte, die Macht wieder an sich zu reißen. Das leitete ich weniger aus dem Inhalt der Ankündigungen ab als aus ihrem Stil. Sie waren überladen mit alten Sowjetklischees und Phrasen wie: ‚mit dem Ziel, diese tiefgreifende und vielschichtige Krise zu meistern‘ […]“ (S. 87).

Ein weiteres Beispiel, nun schon aus der Untersuchungshaft im Februar 2021: „Das Leben ist durchzogen von Ritualen. Aus dem ersten Paket, das Julija mir geschickt hat, sind noch eine Zitrone und Honig übrig. Beides habe ich streng rationiert, so dass ich nach der Dusche einen Tee mit Zitrone und Honig schlürfen kann. Meine Zubereitungszeremonie ist so ausgefeilt und sorgfältig, dass sich jeder Japaner vor Neid erschießen würde. Meine Freude an der Vorbereitung steht dem Genuss beim Trinken in nichts nach“ (S. 356).

Scharf, selbstironisch, treffend. Wer beim Lesen lacht, bleibt länger dabei, gerade wenn es um die komplizierten Finanzen russischer Staatskonzerne geht, auf deren Berichte er als Kleinaktionär Zugriff hat und die er mit seinem – im Zweitstudium erworbenen – Finanzwissen seziert.

Mit diesen Recherchen und seiner wachsenden Zahl von Unterstützern gerät Nawalny ins Visier des Regimes. Es werden mehrere strafrechtliche Verfahren gegen ihn und gegen seinen Bruder Oleg angestrengt; sicher nicht zufällig lauten die Vorwürfe auf Korruption und Betrug – als wäre es die Absicht, den wichtigsten Antikorruptionsaktivisten des Landes der Heuchelei zu bezichtigen und ihm das zu unterstellen, was er anderen vorwirft.

Sein Blog, seine schärfste Waffe, wird 2014 gesperrt. Der Wechsel zu YouTube fällt ihm als Liebhaber des Geschriebenen und Virtuosen des Schreibens schwer. Doch die Entscheidung, mit seinem anwachsenden Team in der von ihm 2011 selbst gegründeten Stiftung für Korruptionsbekämpfung (Fond borby s korrupzijei, FBK) auf immer professionellere und bildgewaltigere Darstellungen des Reichtums korrupter Funktionäre zu setzen, ist folgerichtig. Denn Nawalny sucht mit dem Instinkt eines geborenen Politikers nach Breitenwirkung – und sieht sich in einer beständigen Auseinandersetzung mit dem Kreml um die öffentliche Meinung: Wie wird eine Festnahme am Flughafen wirken? Wie generieren Demonstrationen die maximale Aufmerksamkeit? Noch im Gefängnistagebuch dokumentiert er akribisch die Klickzahlen seines letzten großen Coups – des Videos über Putins geheimen Palast am Schwarzen Meer.

Nawalny schöpft aus seiner wachsenden Bekanntheit eine gewisse Sicherheit. Jemanden mit Nawalnys Sichtbarkeit umzubringen – das traut er dem Regime nicht zu. Der Mordanschlag 2020 zeigt ihm, dass er danebenlag.

 

Wer wollte Nawalny sein?

Und doch schreibt Nawalny, dass auch die Inhaftierung im Januar 2021 nach seiner Rückkehr aus Deutschland, wo er nach dem Giftanschlag medizinisch behandelt wurde, nur eines von mehreren Szenarien war, die sein Team durchspielte. Würde nicht eine Verhaftung nur Putins Schwäche zeigen? Dass seine Haft – genau wie das Verbot seiner Organisation und die vielen Gefängnisstrafen gegen seine Kolleginnen und Mitstreiter – wohl eine Kriegsvorbereitung war, lässt sich im Nachhinein vermuten. Er ahnt es bei seiner Rückkehr nicht.

Nawalny begann die Arbeit an Patriot, als er sich in Deutschland von seiner Vergiftung erholte. Der zweite Teil zu seiner Jugend („Heranwachsen“) ist mit Muße und Liebe zum Detail geschrieben. Es finden sich spannende Einzelheiten, besonders gelungen sind die Alltagsberichte aus der späten Sowjetunion und den 1990er-Jahren. Porträtiert in einem unterhaltsamen, unprätentiösen und oft treffend übersetzten Stil, ist durch sie das Buch als oral history auch abseits von Nawalnys Person sehr lesenswert. Der dritte Teil „Die Arbeit“ wirkt spätestens ab 2012 schnell und ungeduldig abgehandelt – als rücke die Abreise nach Russland näher und als wollte er seine Geschichte bis dahin erzählt haben. Nur für den Fall. Es folgen Tagebucheinträge aus dem Gefängnis, die kürzer und spärlicher werden, je restriktiver die Haftbedingungen sind. Patriot ist so unvollendet wie Nawalnys Leben. Doch bis zuletzt behält er seinen ironischen Blick und seinen unerschütterlichen Optimismus.

Die Persönlichkeit, die Nawalny porträtiert, ist zugleich Pragmatiker und Moralist, popkulturell zugleich spätsowjetisch und amerikanisch, stilistisch zugleich Intellektueller und Mann des Volkes, politisch zugleich Revolutionär und Liberaldemokrat. Er suchte den fundamentalen Wandel in Politik und Gesellschaft, ohne den Menschen weitere Entbehrungen zuzumuten; er strebte ein neues Russland an, ohne das alte zu vergessen. Er verurteilte das Regime, das ihn quält und sein Land in Geiselhaft hält, in drastischen Worten – und fand trotzdem eine Sprache mit den Polizisten, Richterinnen und Gefängniswärtern. Wer als Person all dies zu vereinen versucht, zieht Widerspruch an. Nawalny konnte das aushalten. Putin offenbar nicht.

 

Jan Matti Dollbaum, Assistenzprofessor für Vergleichende Politikwissenschaft und Osteuropastudien, Université de Fribourg, und Leiter einer Nachwuchsforschungsgruppe an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Zusammen mit Morvan Lallouet und Ben Noble hat er 2021 „Navalny. Putin’s Nemesis, Russia’s Future?“ (Hurst / Oxford University Press) vorgelegt, das in neun Sprachen übersetzt wurde und 2022 auf Englisch und Deutsch (Hoffmann & Campe) in zweiter Auflage erschienen ist.

comment-portlet