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Lehrer fordern eine Weiterentwicklung ihrer Ausbildung

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Die Kultusministerkonferenz (KMK) hatte sich in einer Empfehlung von 1994 dafür ausgesprochen, dass „die Erfüllung sonderpädagogischen Förderbedarfs nicht an Sonderschulen gebunden ist; ihm kann auch in allgemeinen Schulen, zu denen auch berufliche Schulen zählen, vermehrt entsprochen werden“. In den nachfolgenden vertieften Einzelempfehlungen zu den Förderschwerpunkten wurde darauf orientiert, dass der festgestellte sonderpädagogische Förderbedarf sowohl an allgemeinen Schulen als auch an Förderschulen oder Förderschulzentren angeboten werden könne. Die KMK hatte mit ihren Beschlüssen eine Entwicklung angestoßen, die langsam in Fahrt kam und von Kritik begleitet wurde. Denn ziemlich bald wurde offenbar, dass erstens die notwendigen Ressourcen für sonderpädagogische Förderung an Regelschulen nur unzureichend bereitgestellt wurden, zweitens auffallend vielen Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert wurde und drittens trotz eines Anwachsens der Schülerzahlen mit sonderpädagogischem Bedarf in allgemeinen Schulen die Anzahl der Schüler in Förderschulen nicht zurückging. Seit PISA wurde in Deutschland zugleich ein starker Handlungsbedarf spürbar, die Menge der Schulabgänge ohne Abschluss zu verkleinern. Förderschulen dürfen in den meisten Bundesländern nicht zu einem Abschluss führen.

Vor diesem Hintergrund wurde in der deutschen Übersetzung des Artikels 24 – „Bildung“ – der UN-Behindertenrechtskonvention nicht von einem inklusiven Bildungssystem wie im englischen Original gesprochen: „Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen […].“ Fakt ist: Die deutschen Länder sind auf dem Weg zur „sonderpädagogischen Integration“ per Völkerrecht zur Inklusion verpflichtet worden.

Für den Verband Bildung und Erziehung (VBE) ist die korrekte Übersetzung mehr als eine Formsache. Die Zueignung sonderpädagogischen Förderbedarfs ist zwar auf die Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ausgerichtet, aber der inklusive Ansatz der UN-Behindertenrechtskonvention, dass Menschen mit Behinderungen Experten in eigener Sache sind, muss in der Gesellschaft wie im Bildungssystem grundsätzlich gelten.

 

Mehrheit unterstützt Inklusion

Der VBE hat die Einstellung der Bundesbürger zur Inklusion 2011 und 2013 von infratest dimap erfragen lassen. Die Idee des gemeinsamen Lernens findet demnach in der Bevölkerung eine große Unterstützung. Inklusion in der Grundschule bringt aus Sicht von 71 Prozent der Bundesbürger allen Kindern eher Vorteile, Inklusion in weiterführenden Schulen aus Sicht von 66 Prozent eher Vorteile. Diese grundsätzlich positive Einstellung zur Inklusion geht allerdings mit großen Bedenken gegenüber der Politik einher. 65 Prozent der Bundesbürger vermissen bei der Politik den Willen, für Inklusion die nötigen finanziellen Mittel für zusätzliche Lehrer und Sonderpädagogen bereitzustellen. 79 Prozent der Bundesbürger sehen die Absenkung der Klassenstärken als Voraussetzung gemeinsamen Lernens an. Bemerkenswert ist auch, dass 73 Prozent der Bundesbürger die Inklusion nicht nur als Pflicht der Schule, sondern auch als Aufgabe anderer gesellschaftlicher Bereiche ansehen.

Das Stimmungsbild ist repräsentativ und gibt insofern auch wieder, entlang welcher Linien Lehrerinnen und Lehrer die konkrete Umsetzung der Inklusion an den Schulen diskutieren.

Im Vordergrund steht das Wie der Inklusion. Die Lehrkräfte in allen Bundesländern zeigen eine große Bereitschaft, sich für die neuen Aufgaben zu qualifizieren, und gerade deshalb fühlen sie sich von der Politik nicht hinreichend unterstützt. Expertise für das Unterrichten in heterogenen Lerngruppen bedarf systematischer Aus-, Fort- und Weiterbildung. Klar muss auch sein, dass in allen Lehramtsstudiengängen Inklusion zu einem Thema der Ausbildung wird. Sonderpädagogische Module für jeden Lehramtsstudiengang sind ein richtiger Ansatz, ohne dass sie die Existenz von Fachkräften für Sonderpädagogik obsolet machen. Gleichermaßen müssen sich aber die sonderpädagogischen Studiengänge auf Inklusion einstellen, und das bedeutet, die hohe Spezialisierung der Sonderpädagogik zu hinterfragen.

Das Maß für die Umsetzung der Inklusion heißt: Es darf keine Verlierer geben – nicht bei den Kindern mit Beeinträchtigung und nicht bei den Kindern ohne Beeinträchtigung. Im Hinblick darauf sehen sich Lehrerinnen und Lehrer von allgemeinen Schulen und Förderschulen in der Verantwortung, die konkreten Bedingungen vor Ort mit seismografischer Genauigkeit anzuzeigen.

 

Es darf keine Verlierer geben

Mehr und mehr Schulen entwickeln inklusive Konzepte. Den stärksten Input geben hier die Grundschulen. Sie haben seit jeher die heterogenste Schülerschaft. Daher haben sie die größte Erfahrung, wie gemeinsames Lernen von Kindern ganz verschiedener Ausgangslagen erfolgreich gestaltet werden kann. Ein inklusiver Unterricht – ob in Grundschulen oder weiterführenden Schulen – muss der Vielfalt der unterschiedlichen Lern- und Leistungsvoraussetzungen von Kindern und Jugendlichen Rechnung tragen. Alle Kinder sollten einen Zugang zu den verschiedenen Lernumgebungen und Lerninformationen erhalten. Es müssen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass sich die Kinder über eine Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten selbstbestimmt und selbstgesteuert in ihren Entwicklungsprozess einbringen, wie das der Beschluss der KMK vom 20. Oktober 2011 hervorhebt.

Da in der deutschen Schultradition lange auf scheinbar homogene Lerngruppen gesetzt wurde, bedeutet die Orientierung auf ein inklusives Schulsystem einen Bruch. Künftig wird nun von der Heterogenität der Schülerschaft als selbstverständlichem Regelfall einer Lerngruppe auszugehen sein. Die didaktisch-methodischen Konzepte von Unterricht und Lernen müssen folgerichtig verändert werden, und binnendifferenzierte Lernarrangements bekommen einen ganz anderen Stellenwert. Der Unterricht muss eine Vielfalt von Lernzugängen anbieten, in unterschiedlichen Anspruchsniveaus, in formal vielfältigen Aufgaben und Themeneinstiegen. Für diese hohen Anforderungen benötigen alle Lehrerinnen und Lehrer auch das nötige „Handwerkszeug“, worüber sich die politisch Verantwortlichen kaum im Klaren sind.

 

Für einen gelingenden inklusiven Unterricht sind kleine Lerngruppen notwendig, Räume, die innere Differenzierung zulassen. Lehrerinnen und Lehrer brauchen Kompetenzen, die eben in der Lehrerbildung in allen drei Phasen noch zu wenig vermittelt werden.

 

Methodisches Arsenal erweitern

Lehrerinnen und Lehrer benötigen Diagnosewissen und Kenntnisse in der Förderdiagnostik, und sie brauchen ein deutlich größeres didaktisches und methodisches Arsenal, damit alle Schüler individuell gefördert werden können. Zudem müssen sie sich auf neue Weise mit der Leistungsbewertung auseinandersetzen, um jedem Kind gerecht zu werden, es in seiner Persönlichkeit zu würdigen und auf dem Weg zu aktiver gesellschaftlicher Teilhabe zu begleiten. Sowohl für die Primarstufe als auch für die Sekundarstufe muss grundlegendes Wissen für ressourcenorientierte Diagnostik und individuelle Förderplanung, effektives Classroom-Management, Prävention und Intervention bei Verhaltensstörungen, Lern- und Sprachstörungen vorliegen. Die Arbeit mit Eltern muss noch intensiver als bisher erfolgen, damit der Bildungs- und Erziehungsauftrag gemeinsam getragen wird.

Als Einzelkämpfer können Lehrer die Herausforderung Inklusion nicht bewältigen. Daher muss Teamfähigkeit entwickelt und gefördert werden, müssen multiprofessionelle Teams funktionieren können. Das außerschulische Netzwerk (Ärzte, Therapeuten, Psychologen, Mitarbeiter der Jugend- und Sozialhilfe et cetera) muss ausgeweitet und gepflegt werden. Das Lehren und Lernen in heterogenen Gruppen muss sowohl von den Sonderpädagogen als auch von den Allgemeinpädagogen umfassend erlernt werden: Die Aspekte „Umgang mit Heterogenität“, „Diagnose“, „Individuelle Förderung“ sind in allen Ausbildungsphasen zu verankern, von der universitären Erstausbildung bis hin zur berufsbegleitenden Fort- und Weiterbildung. Die Forderungen an die Lehreraus- und -fortbildung lauten:

 

- Für Lehrerinnen und Lehrer im laufenden Dienst werden schlüssige Fortbildungsstrategien benötigt, die von der Kita über die Grundschule bis zur Sekundarstufe I und Sekundarstufe II maßgeschneiderte Angebote umfassen und auch den Übergang von einer Schule zur nächsten berücksichtigen.

- Die bisher nur punktuell angebotene Fortbildung zur Inklusion muss ausgeweitet werden.
- Die schulinterne Fortbildung muss deutlich mehr mit Best-Practice-Fortbildungen über die Schulgrenzen hinweg gekoppelt werden.
- Sonderpädagogik muss verpflichtend als Modul in jeden Lehramtsstudiengang für jedes Bundesland aufgenommen werden. Dies muss auch Folgen für die Studienpraktika und den Vorbereitungsdienst haben.
- Die Studiengänge für die Lehrerausbildung müssen mit Blick auf die Inklusion weiterentwickelt werden. Lehramtsanwärter müssen einen Einblick in die sonderpädagogische Ausbildung erhalten und sie müssen schon in ihrer Ausbildung teilweise in den gemeinsamen Unterricht eingebunden werden.
- Es muss vertiefte Studiengänge für Sonderpädagogen zum Erwerb von Kompetenzen für Erziehung, Unterricht und Förderung in einem inklusiven Schulsystem geben. Universitäten, Lehrerseminare und Fortbildungseinrichtungen müssen dementsprechend personell, finanziell und räumlich bestens ausgestattet werden.
- Lehrerstunden für sonderpädagogische Förderung müssen fest an der einzelnen Schule verankert werden.


„Ihr macht das schon“

Das Engagement der Lehrerinnen und Lehrer nach dem Motto „Ihr macht das schon“ durch den Dienstherrn zu beschwören und gleichzeitig Klassengrößen nicht abzusenken, keine zusätzlichen Lehrerstunden für inklusive Klassen zu sichern, Sonderpädagoginnen und -pädagogen nur als Feuerwehr einzusetzen und nicht in Kollegien zu integrieren, inklusive Räumlichkeiten in Schulen auszusparen, wissenschaftliche Begleitung gar nicht anzudenken, offenbart einen teils fahrlässigen bis verantwortungslosen Umgang politisch Verantwortlicher mit Inklusion. Bis heute steht ein transparenter breiter Dialog, in dem die Sorgen und Nöte aller Beteiligten auf den Tisch gelegt werden, aus. Stattdessen werden „von oben“ Gesetze, Verordnungen und Appelle erlassen und ausgerufen, ohne die sonderpädagogische Förderung konkret vom geltenden Finanzierungsvorbehalt zu befreien. Ernsthafte Sachdebatten kommen zu kurz. Das betrifft vornehmlich die Finanzierung der Inklusion. Als gesamtgesellschaftliche Aufgabe muss sie gemeinsam von Bund, Ländern und Kommunen getragen werden. Der Koalitionsvertrag der regierenden Bundesparteien gibt darauf keine Antwort. Das geltende Kooperationsverbot von Bund und Ländern im Bildungsbereich verhindert, dass Gelder gebündelt und koordiniert eingesetzt werden. Wir brauchen gerade mit Blick auf die UN-Behindertenrechtskonvention ein Kooperationsgebot für Bund und Länder.

 

Udo Beckmann, geboren 1952 in Menden (Nordrhein-Westfalen), Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE).

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