Asset-Herausgeber

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Die Grenzen der Preismessung

von Thomas Köster

Über den Warenkorb in digitalen Zeiten

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Einmal im Monat werden die Preisindikatoren des Statistischen Bundesamts präsentiert. Ein eher nüchtern vorgetragenes Ritual der Statistiker. Seit einigen Monaten schauen wir Bürger jedoch mit zunehmender Anspannung und Sorge nach Wiesbaden. Denn selten in der bundesrepublikanischen Geschichte waren die Preissteigerungen im alltäglichen Leben so präsent wie heute. Die Ökonomen wiederum sorgen sich weniger um die bereits vollzogenen Preissteigerungen, sondern schauen eher auf die anhaltend hohen Inflationserwartungen. Landauf, landab werden deshalb die berühmten Ketchupflaschen- und Zahnpastatuben-Vergleiche bemüht: Bei Ketchup und Inflation kommt lange nichts und dann alles auf einmal. Die Zahnpasta steht sinnbildlich für das Zentralbankgeld, das sich leicht in den Markt herausgeben, aber nur schwerlich zurückholen lässt. Dass eine Dämpfung der Inflation ein geld- und fiskalpolitisch ausgesprochen schwieriges Unterfangen ist, bedarf an dieser Stelle keiner besonderen Erwähnung. Erkenntnisfördernd ist ein Blick hinter die Indikatoren der Inflation. Was ist heute anders als zu Zeiten der Ölpreiskrise in den 1970er-Jahren oder nach der Wiedervereinigung, als Deutschland zuletzt mit derart galoppierenden Preisen zu tun hatte? Was zeichnet eine globale, vor allem digitale Weltwirtschaft aus, und bilden wir sie mit dem eingangs erwähnten Ritual der Inflationsmessung noch adäquat ab?

Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, muss man die Erhebungsmethode kurz skizzieren. Sowohl die nationale Messung von Veränderungen bei den Verbraucherpreisen (Verbraucherpreisindex, VPI) als auch die europäisch harmonisierte Variante (Harmonisierter Verbraucherpreisindex, HVPI) folgen dem gleichen Grundschema: Zunächst wird ein sogenannter Warenkorb mit bestimmten Güterklassen aufgesetzt. In Deutschland werden diese Verbrauchsgüter mithilfe einer eigenen statistischen Methode, der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, ermittelt. Repräsentativ ausgewählte Menschen führen dafür eine Art Haushaltsbuch über ihre Ausgaben. In dem damit in Güterklassen strukturierten Warenkorb werden tatsächlich erworbene Produkte hinterlegt. Diese Waren und Dienstleistungen werden im stationären Handel und auf Onlineplattformen verfolgt und möglichst stetig beobachtet, um ihre Preisveränderungen zu dokumentieren. Was auf dem Papier einfach aussieht, erweist sich in der Realität als ausgesprochen komplexes Verfahren. Die wissenschaftlichen Abteilungen des Statistischen Bundesamtes leisten bei der Inflationsberechnung Erstaunliches und genießen zu Recht – auch international – einen exzellenten Ruf. Methodik und Qualitätssicherung der Behörde bei ihren Kernaufgaben suchen ihresgleichen, und die volkswirtschaftlichen Abteilungen beteiligen sich überdies selbst proaktiv an der wissenschaftlichen Debatte um eine Fortentwicklung oder der korrekten Einordnung ihrer Ergebnisse.

Denn nicht nur die Preise ändern sich; auch das Konsumverhalten selbst entwickelt sich dynamisch. Die Preistransparenz, die die Digitalisierung mit sich gebracht hat, führt außerdem dazu, dass Preise sich häufiger ändern. Mithin lässt sich in der Digitalisierung auch ein Trend zu mehr privatem Handel ausmachen, Stichwort: Sharing Economy (Prinzip des Teilens oder auch Leihens von Gütern beziehungsweise Gebrauchsgegenständen). Dieses Prinzip wird in der Statistik, mit Ausnahme von der Vermietung von Wohnraum von Privathaushalten, nicht erfasst.1

Eine wesentliche Veränderung beim Konsum, die für die Statistiker viel Arbeitsaufwand bedeutet, betrifft die Qualität. Denn das Ziel der Preisindizes ist es, Kontinuität zu gewährleisten, damit Gleiches mit Gleichem verglichen werden kann. Wenn es bei Verpackungen oder Dienstleistungen zu Mengenveränderungen kommt, können diese noch vergleichsweise einfach umgerechnet werden, doch wie lassen sich Qualitätsverbesserungen beurteilen? Die Antwort der Statistiker darauf ist die Hedonik.2 Diese gewinnt insbesondere in digitalen Zeiten an Bedeutung. Die Digitalisierung durchsetzt Handel und Dienstleistungen. Sogar im Lebensmitteleinzelhandel haben Einkaufs-Apps Einzug erhalten, im Fachhandel fusionierten Onlineangebot und stationärer Handel längst zu einer gemeinsamen Plattform, und die Produkte kommen mit digitalen Dienstleistungen rund um Betrieb und Kundendienst daher.

 

Das Produktivitätsparadox

 

Der technische Fortschritt verändert auch die Produkte selbst immer rasanter. Das neue Smartphone lässt sich schwerlich mit dem Produkt der gleichen Baureihe vor fünf Jahren vergleichen. Die Warenkorbrevisionen finden in der Regel jedoch nur alle fünf Jahre statt. Und das Smartphone als regelmäßiger Eintrittspunkt in die digitalen Dienstleistungen ist auch bei einer weiteren Ausprägung digitalen Wirtschaftens relevant: dem Produktivitätsgewinn.

Die Digitalisierung beschleunigt Prozesse, verändert Güter und Dienstleistungen und bringt Anbieter, Lieferanten, Kunden und Regulatoren näher zueinander. Zudem verbessert die Flexibilität und Transparenz digitalen Wirtschaftens die Dienstleistungsqualität, ergänzt oder ersetzt Gebrauchsgüter und realisiert damit Produktivitätsgewinne auf der Unternehmensseite und erhöht den Lebensstandard der Kunden.3 Unter dem Stichwort „Produktivitätsparadox“ wird in der Ökonomie gleichwohl diskutiert, warum diese Produktivitätsgewinne in den volkswirtschaftlichen Kennzahlen kaum nachweisbar sind. Wir messen die Arbeitsproduktivität, indem wir den Umsatz in realen Preisen und die erbrachten Arbeitsstunden ins Verhältnis setzen. Wenn die vielen neuen technischen Helfer die Arbeit erleichtern, müssten die Unternehmen in der Lage sein, viel effizienter zu produzieren. So weit, so gut. Die Zeitersparnis spiegelt sich jedoch kaum in der amtlichen Statistik zu Produktivität der letzten Jahre wider. Es ist denkbar, dass sich Qualitätsverbesserungen aufgrund der ständig steigenden Effizienz überhaupt nicht abbilden lassen, weil die Produkte und Dienste zwar einen viel höheren Gebrauchswert haben, aber der Wettbewerbsdruck durch die Digitalisierung in gleichem Maße die Preise und Margen drückt.4

Als Kunden erhalten wir Qualitätsgewinne mithin ohne zusätzliche Kosten. Diese wirtschaftliche Rendite, die Unternehmen und Verbraucher erzielen, wird jedoch nicht ausgewiesen. Möglicherweise amortisieren sich die Investitionen in digitale Infrastruktur erst mit einer Zeitverzögerung. Viele der Umstellungen sind kostenintensiv, weil nicht nur die Hardware, sondern auch die Unternehmensorganisation, gegebenenfalls sogar das gesamte Geschäftsmodell, umgestellt werden muss. Möglicherweise befinden wir uns in einer Anpassungsphase, bei der die hohen Investitionskosten die Effizienzsteigerungen überdecken.5

Viele der digitalen Dienste werden unentgeltlich zur Verfügung gestellt, sind aber keinesfalls kostenlos. Wir bezahlen mit der Bereitstellung unserer Daten statt mit Geld. Der Kunde (consumer) wird immer mehr zum Produzenten (producer). Dieser so kombinierte „prosumer“ generiert mit seinem Nutzerverhalten einen Mehrwert für die Dienstleistung selbst. Wer sein Navi also demnächst wieder einsetzt, um die aktuellen Staumeldungen automatisch eingespielt zu bekommen, und damit gleichzeitig die dafür relevanten Daten selbst an das Portal liefert, kann sich getrost als „Prosumer“ identifizieren. Dieser „Daten-Preis“, den wir als Autofahrer dann „bezahlen“, wird nicht erfasst. Diese Prosumtion kann daher nicht in unsere volkswirtschaftliche Gesamtrechnung und schon gar nicht in die Preisstatistik einfließen.

 

Reale und „gefühlte“ Inflation

 

Die Inflationsrate misst nur, was sie messen soll: Sie soll Gleiches mit Gleichem vergleichen und eine Preisentwicklung eines möglichst allgemeinen Warenkorbs abbilden. Sie ist damit bereits eine drastische Vereinfachung und Verallgemeinerung. Es kann deshalb nicht verwundern, wenn reale Inflation und „gefühlte“ Inflation weit auseinanderdriften. Der Warenkorb der europäisch harmonisierten Verbraucherpreisstatistik berücksichtigt aktuell etwa die Wohnkosten mit 25 Prozent. Für Familien in Deutschland machen die Wohnungskosten allerdings selten weniger als ein Drittel des Haushaltsbudgets aus, in Großstädten teilweise auch deutlich darüber. Mietpreissteigerungen schlagen in der Lebenswirklichkeit vieler Menschen damit deutlich härter ins Kontor, als es die Preisstatistik glauben macht. Ein anderes Beispiel sind die Kosten für Gaststätten- und Beherbergungsdienstleistungen. Diese sind in den letzten Jahren aufgrund der Corona-Pandemie im HVPI-Wägungsschema auf einen Anteil von nur noch 3,9 Prozent gesunken. Diese Kennzahl lässt vermuten, dass solche Kosten nur marginal das Haushaltsbudget belasten. Die Preissteigerungen im Gastronomiebereich werden in einem hoffentlich weniger von COVID-19 bestimmten Sommer jedoch sicher größere Spuren in unserem Geldbeutel als im Preisindex hinterlassen.

Technischer Fortschritt ist seit jeher eine Herausforderung für die Preismessung. Das prägnanteste Beispiel sind die Endgeräte, wie PCs und Laptops. Die technische Entwicklung war in diesem Segment rasant. Und es entbehrt nicht einer gewissen Logik, dass die Statistik die Fortentwicklungen von einem Modell zum nächsten mitberücksichtigen muss. Der Qualitätssprung wirkt sich statistisch dämpfend aus, der Index deflationiert. Für die Kaufentscheidung des Kunden macht es allerdings selten einen Unterschied, er braucht schlicht einen neuen Laptop, nutzt womöglich den zusätzlichen Funktionsumfang aber noch nicht einmal.

Der Index soll die Preisveränderungen über einen möglichst langen Zeitraum dokumentieren. Er ist weder ein Wohlstandsindikator noch dazu geeignet, Veränderungen des Wirtschafts- und Gesellschaftslebens abzubilden. Im Gegenteil: Solche Veränderungen sind eine Herausforderung für die Erhebung. Die Digitalisierung hat in der Lebenswirklichkeit der Menschen bereits heute tiefere Spuren hinterlassen als in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR). Die nachlaufenden Preiseffekte, die einerseits durch die langfristigen Investitionen in die digitale Transformation und andererseits durch die völlig neue Art des Wirtschaftens in der Datenökonomie verursacht werden, sind in der aktuellen Preisentwicklung noch nicht abgebildet. Wir erwarten also eine Dekade tiefgreifender Veränderungen mit strukturell steigenden Preisen.

Die Herausforderung wird sein, die Transformation zum Gelingen zu bringen und negative Auswirkungen sozial abzufedern. Das betrifft vor allem die Mittelschicht. Die Mitte der Gesellschaft muss sich im Wandel der Arbeitswelt bewähren. Sie ist stark von den Folgen der Datenökonomie betroffen. Gleichzeitig muss sie die Preisentwicklung schultern. Denn sie kann weder auf ausgleichende Sozialtransfers setzen, noch könnte sie sich, und das betrifft insbesondere die untere Mittelschicht, über Immobilien- oder Aktienvermögen vor der Preisentwicklung schützen.

 

Thomas Köster, geboren 1982 in Paderborn, promovierter Volkswirt, war in unterschiedlichen Positionen in der ökonomischen Politikberatung tätig, seit 2020 zuständig für Kommunikation und Vertrieb für Verfassungsorgane bei der SVA System Vertrieb Alexander GmbH.

 

1 Vgl. Destatis: Qualitätsbericht – Preise – Verbraucherpreisindex für Deutschland, 10.12.2021,
ww.destatis.de/DE/Methoden/Qualitaet/Qualitaetsberichte/Preise/verbraucherpreis.pdf [letzter Zugriff: 08.05. 2022].

2 Siehe dazu etwa Destatis: Qualitätsbereinigung in der amtlichen Preisstatistik – Hedonische Techniken“, 2022, 
www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Preise/Landwirtschaftspreisindex-Forstwirtschaftspreisindex/Methoden/Erlaeuterungen/qualitaetsbereinigung.html [letzter Zugriff: 08.05. 2022].
3 Vgl. OECD: „Digitalization and productivity: A story of complementarities“, in: OECD Economic Outlook, Nr. 1/2019, https://doi.org/10.1787/5713bd7den [letzter Zugriff: 08.05. 2022].
4 Vgl. Alberto Cavallo: „More Amazon Effects: Online Competition and Pricing Behaviors“, Discus sion Paper Harvard Business School, 10.08.2018,
http://governance40.com/wp-content/uploads/2018/11/825180810cavallopaper.pdf [letzter Zugriff: 08.05. 2022].
5 Siehe Thomas Köster: „Digitalsteuer – eine Schimäre“, Analysen und Argumente, Nr. 360, Juli 2019, 
www.kas.de/documents/252038/4521287/Digitalsteuer+%E2%80%93+eine+Schim%C3%A4re.pdf/aaae1a90-a6e6-069d-1eba-4dba7b92a032 [letzter Zugriff: 08.05. 2022].

 

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