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Die gewaltige Aufgabe der Inklusion benötigt gemeinsame Konzepte

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Das bildungspolitische Ideal unserer Zeit kopiert eine eigentlich überkommene Praxis: Ein Schüler soll seinen Neigungen und Interessen entsprechend von einem Lehrer unterrichtet werden, der sich in ihn hineinversetzt und eigens für ihn Curricula entwickelt. Einst war das ein Privileg des Adels und seines Nachwuchses. Später wurde es von einem vermögenden Bürgertum nachgeahmt. Ein Schüler, ein Lehrer. Heute undenkbar? Ja und nein.

„Individuelle Förderung“ nennt dies die Bildungspolitik im 21. Jahrhundert. Im Unterschied zu der Praxis vor hundert oder zweihundert Jahren soll diese Förderung im Klassenverband stattfinden. Zusammen mit mehr als zwei Dutzend Mitschülern: der Klassenlehrer als Pseudo-Hauslehrer. Gewiss ein Widerspruch. Etwas anderes wäre aber unabhängig von den Kosten nicht durchsetzbar. Schließlich ist Chancengleichheit oder – wie es seit einigen Jahren heißt – Chancengerechtigkeit zum Grundprinzip demokratischer Gesellschaft geworden. Ja, Chancengerechtigkeit ist heute das dominierende Paradigma der Bildungspolitik.

Es ist konsequent, dass das Prinzip der individuellen Förderung im Kollektiv letzten Endes auf alle angewendet werden soll; also auch auf jene, die lange abseits des Regelschulbetriebs standen: Menschen mit Behinderung. Vorgabe und gleichzeitig Ziel dieser Entwicklung ist die Inklusion.

 

Jeder hat „eine Macke“

Inklusion meint, dass Kinder und Jugendliche mit Handicaps nicht mehr in Förderschulen unterrichtet werden, sondern in Regelschulen. Etwa 500.000 förderbedürftige Schüler gibt es in Deutschland. Leicht wird der Begriff mit dem der Integration verwechselt. Oft werden beide Wörter als Synonyme verwendet, doch da werden Äpfel mit Birnen vertauscht.

Inklusion ist etwas anderes, sie ist mehr als Integration. Mit einfachen Worten: Würde der behinderte Schüler nur integriert, so würde die Aufmerksamkeit weiter um sein Anderssein kreisen. Bei der echten Inklusion soll das nicht so sein. Egal ob ein Kind eine körperliche Behinderung hat, ob es nicht sieht oder hört, ob es geistig behindert ist oder nur liegen kann – Unterschiedlichkeit wird als Wert und Normalzustand begriffen. Die inklusive Schule geht davon aus, dass sowieso jeder „eine Macke“ hat. In Abwandlung eines Sprichworts könnte man sagen: Alle sind normal, aber einige sind eben „normaler“.

Dieses Verständnis von Inklusion hat in den Schulen tiefe Spuren hinterlassen und leider bis heute nicht dazu beigetragen, dass das Thema in seiner Tragweite von der Politik erkannt und angepackt wurde. Integration, das ist gesellschaftlicher Konsens, erfordert eine Menge Arbeit, Aufwand, Einsatz in materieller und personeller Hinsicht. Das gilt für alle Bereiche, ob es sich nun um die Integration von Zuwanderern oder Behinderten handelt. Wer bei der Integration vorankommen will, muss sich anstrengen. Inklusion hingegen negiert eigentlich jeden Aufwand. Die Verfechter vollständiger Inklusion wollen gerade nicht, dass Aufhebens um die Behinderung des Einzelnen gemacht wird. Das gipfelt bisweilen in dem Satz: „Jeder ist behindert.“

 

Inklusion als Sparmodell?

Der Aufwand, der gewiss nötig wäre, um behinderte Kinder adäquat zu bilden und zu unterrichten, wird häufig nicht betrieben. Inklusion wurde und wird von den tangierten Behörden zuweilen als Sparmodell begriffen. Förderschulen sind schließlich wesentlich teurer als Regelschulen. Sinkt ihre Zahl, kann man sparen, so die einfache Rechnung. Als löse sich damit der Förderbedarf auf. Leider erweckt die Inklusionstheorie aber genau diesen Anschein. Entsprechend fallen die Mittel, die in den Regelschulen für die neu hinzukommenden Schulkinder mit Behinderung aufgewendet werden, oft so aus, als gäbe es nichts Besonderes zu beachten. Die Konsequenz ist etwa, dass in Niedersachsen pro Förderschulkind in einer Regelklasse ein zusätzlicher Lehrer einmal in der Woche für drei Stunden vorbeikommt. Auf den Plakaten, die für die Inklusion werben, wird dem Betrachter stets eine einfache Welt vorgegaukelt. Da blickt ein Junge im Rollstuhl seiner Freundin, die vor ihm in der Hocke sitzt, tief in die Augen. Wer will diese Liebe verhindern? Niemand. Aber es zeugt von Ignoranz, den Schüler mit Gehbehinderung, für den es „nur“ eine Rampe ins Schulgebäude braucht, stellvertretend als Beispiel für den höchst unterschiedlichen Förderbedarf zu nehmen. Doch diese Ignoranz ist leider an der Tagesordnung.

In Bayern bedurfte es im Februar lauten öffentlichen Protests, damit die Staatsregierung von ihrem Plan abrückte, die Zahl der Lehrerstellen zu verringern. Die Schülerzahlen gehen schließlich in der Summe zurück. Und die Inklusion? Wird schon gelingen. Das grün-rote Baden-Württemberg will in den nächsten Jahren Tausende Lehrerstellen streichen. Und mehr individuelle Förderung? Wird schon irgendwie gehen.

Natürlich haben sich auch diese Länder zur Inklusion verpflichtet. Wie viele andere haben sie sich entschieden, die Inklusion voranzubringen und gleichzeitig die Förderschulen zu erhalten. Sie leisten sich zwei Systeme. Die Eltern sollen Wahlfreiheit haben. Doch eine Inklusion an den Regelschulen, die nicht nur der Theorie gerecht wird, sondern den Bedürfnissen der behinderten Kinder, ist bei gleichzeitigem Erhalt des Förderschulwesens sehr teuer. Bisher geht das zulasten der Ausstattung der Regelschulen.

 

Studie zu den Kosten

Nordrhein-Westfalen hat kürzlich zwei Studien in Auftrag gegeben, die die Kosten für die Inklusion in zwei Kreisen ermitteln sollten. Weil die erste nach Dafürhalten der Politik die Kosten sehr hoch kalkulierte, wurde eine zweite in Auftrag gegeben. Sie brachte ein bequemeres Ergebnis. Laut Berechnungen des Bildungswissenschaftlers Klaus Klemm müssten bei einer ordentlich und ehrlich umgesetzten Inklusion bundesweit zusätzliche 660 Millionen Euro jährlich in Personal fließen. Doch die zuständigen Länder kleckern. Die Ansätze, Lehrer, Betreuer und Pädagogen einzusetzen, sind bislang eben dies: nur Ansätze. Da ist nicht die Rede von Hunderten, Tausenden, sondern von wenigen Dutzend pro Land.

 

Herbei definierter „Normalzustand“

Die unterschiedlichen Regierungen in Bayern, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg zeigen, dass die Frage, wie Inklusion am besten gestaltet werden kann, keine mehr ist, die sich per se durch Parteizugehörigkeit beantworten ließe. Während konservativ regierte Länder immer dagegen waren, die Förderschulen aufzulösen und das Personal in den Regelschulen einzusetzen, gab es in rot-grün geführten Ländern lange Zeit solche Pläne. Davon rücken diese nun mehr und mehr ab. Berlin, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg zögern die Umsetzung ihrer Pläne hinaus. Das Beispiel Bremens und Hamburgs ist ihnen Warnung. Zwar ging in Bremen der Anteil der separat unterrichteten Förderschüler zwischen 2009 und 2012 um 39,1 Prozent zurück, in Hamburg sank er um 14,3 Prozent. In Bayern blieb er dagegen unverändert bei 4,6 Prozent, in Hessen stieg er sogar leicht auf 4,5 Prozent an. Der nüchterne Blick auf die Zahlen lässt die Stadtstaaten gut aussehen.

Doch die Klagen der Betroffenen sind groß. Es ist eben nicht damit getan, einen neuen „Normalzustand“ herbei zu definieren. Weder Eltern noch Schüler noch Lehrer waren und sind auf die Situation eingestellt. Die Kultusministerkonferenz überlegt gar noch, wie die Lehrerausbildung mit der Inklusion umgehen soll. In den meisten Studiengängen wird sie kaum beleuchtet. Das pädagogische Defizit ist offensichtlich. Am wenigsten auf die Inklusion eingestellt sind die Kommunen und Landeshaushalte, dabei haben sie das Projekt Inklusion finanziell zu schultern.

 

Vermeintliche Wahlfreiheit

Die meisten Bundesländer haben es inzwischen den Eltern freigestellt, ihre förderbedürftigen Kinder auf die Schule zu schicken, die sie für die richtige halten. So finden sich in Gymnasien Kinder, die niemals ein Abitur machen werden. Gymnasien werden so zu einer Art Gemeinschaftsschule. Wenn es sich wenigstens um echte Wahlfreiheit handeln würde! Aber sie unterliegt trivialsten Beschränkungen: Manchmal müssen Schüler die Schule nehmen, die ihrem Wohnort am nächsten liegt, in anderen Fällen entscheiden die Schulbehörden für die Eltern und diese haben lediglich ein Einspruchsrecht. Schulen können einfach Nein sagen.

Wenn sie zum Beispiel baulich nicht in der Lage sind, Rollstuhlfahrer, Kinder mit spastischen Lähmungen aufzunehmen, oder glauben, dies nicht zu können, dürfen Schulen die Aufnahme behinderter Kinder ablehnen. Umbauten sind teuer. Das Geld ist nicht da. Die Länder und Kommunen rufen nach dem Bund. Doch solange das Grundgesetz dem verbietet, sich in die Schulpolitik einzumischen, kann kein zusätzliches Geld fließen; nicht für Personal, nicht für Baumaßnahmen. Die Schuldenbremse, die 2020 in Kraft tritt, wird das Problem noch verschärfen.

Woran es vollkommen fehlt, ist ein gemeinsames Konzept. Das beginnt schon bei der Frage nach der Definition dessen, was eine Behinderung ist. Die Bertelsmann Stiftung hat Zahlen zu ihrer Verbreitung vorgelegt. Die Situation erweist sich als grotesk: In Mecklenburg-Vorpommern beträgt die Quote der als förderbedürftig eingestuften Schüler 10,9 Prozent, in Rheinland-Pfalz und Niedersachsen dagegen nur 4,9 Prozent. Bayern weist eine Quote von sechs Prozent auf, Hessen von 5,4 Prozent. Insgesamt werden Schüler im Osten eher als förderbedürftig eingestuft als im Westen. Nur in Thüringen liegt die Quote unter acht Prozent (7,2). Gilt für Behinderung etwa nicht das Gesetz der Normalverteilung?

 

Fehlende Bedarfsanalyse

Die Unterschiede ergeben sich aus den unterschiedlichen Kriterien, die die Länder anwenden. Akzeptanz für die Inklusion fördert das nicht. Die Länder müssen sich dringend auf eine eindeutige und vor allem einheitliche Definition einigen. Auch braucht es eine Bedarfsanalyse bei den Eltern. So sagt etwa der SPD-Kultusminister von Baden-Württemberg, Andreas Stoch, dass die Eltern größtenteils gar nicht an einem Besuch ihrer Kinder in den Regelschulen interessiert seien. Er erwartet aber, dass dieses Interesse im Laufe der Zeit steige. Woher kommt diese Zuversicht? Viele Eltern sehen die Probleme bei der Umsetzung der Inklusion. Sie wissen ihre Kinder in den Förderschulen gut aufgehoben. Natürlich sollen diejenigen eine Regelschule besuchen können, die dies wirklich wollen. Aber ist es Aufgabe des Staates, aus ideologischen Gründen diesen Schulbesuch zu protegieren? Dem Ideal der Wahlfreiheit widerspräche dies jedenfalls.

 

Explodierende Diagnosen

Die Interessen der Eltern – sowohl behinderter als auch nichtbehinderter Kinder – sind nicht ausreichend erforscht. Es herrscht das Trial-and-Error-Prinzip. Diese Erfahrung hat Hamburg gemacht. Dort wurde, wie erwähnt, die Inklusionsquote enorm gesteigert. Eltern können ihre Kinder an den Grund- und Stadtteilschulen statt an einer Förderschule anmelden. Das tun sie. Doch die Zahl der Kinder mit Lernschwächen, mit Defiziten in Sprache und bei der emotionalen und sozialen Entwicklung in den Regelschulen ist inzwischen dreimal so hoch wie die derjenigen, die in den Sonderschulen wegschmelzen. Der Anstieg der Inklusionsquote führt offenbar dazu, dass mehr Kinder als förderbedürftig diagnostiziert werden – mit Billigung der Eltern. Die glauben wohl, vermuten Bildungsexperten, dass ihre Kinder einen Vorteil haben, wenn sie als „förderbedürftig“ eingestuft werden. Nur so ist es erklärbar, dass zwar mittlerweile bundesweit jeder vierte Schüler (25 Prozent) mit Behinderung eine Regelschule besucht (2009 waren es noch 18,4 Prozent), gleichzeitig aber die Zahl derjenigen, die Förderschulen besuchen, nahezu konstant blieb.

Die Inklusion, so wie sie in Deutschland praktiziert wird – als eine der sechzehn Geschwindigkeiten, der sechzehn Diagnosekataloge, der sechzehn Finanzierungsmodelle –, kann nicht zu einem Erfolg werden. Das Projekt ist in gesellschaftspolitischer Hinsicht so gewaltig wie die Energiewende in wirtschaftspolitischer. Die Kinderwende braucht die Mittel, die ihr angemessen sind. Der bloße Wille, die schöne Theorie nützen niemandem, weder den behinderten Kindern noch allen anderen. Der Weg muss endlich besser geplant werden. Wer für Inklusion kämpft, muss ehrlich sagen, dass sie teuer ist. Inklusion, die demjenigen als Menschenrecht zusteht, der sie will, braucht die Aufmerksamkeit, die sie verdient.

 

Thomas Vitzthum, geboren 1977 in Altötting (Bayern), Redakteur für Innenpolitik, „Die Welt“, Berlin.

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