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Wie die Beschwörungen der Gemeinschaft die Sprache verändern

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Wer wissen will, was die Herzen der Menschen bewegt, ist gut beraten, sich in den Ratgeberabteilungen der Buchläden umzusehen. Auffallend stark sind derzeit sozialpsychologische Titel nachgefragt, die das Problem aufwerfen, wie man mit ungeliebten Menschen klarkommt. Konkret lautet die Frage, wie man es anstellt, diese Leute auf Abstand zu halten und sie, ohne sich die Finger schmutzig zu machen, aus der eigenen Umgebung zu verbannen.

Die Spitzentitel dieses Themenkreises sprechen eine deutliche Sprache. Auf den Bestsellerrängen halten sich Schriften, die geradewegs die „Psychopathen des Alltags“ aufs Korn nehmen und auch wissen, wie man sich ihrer erwehrt. Sie kennen die Mittel und Wege, wie – so wörtlich – „Heilung aus toxischen Beziehungen“ möglich ist, und erklären im genretypischen Ton der Vertraulichkeit, „wie du Menschen loswirst, die dir nicht guttun“. Ein weiterer Titel, der seit Monaten oben auf der Rangliste steht, bringt die Stoßrichtung all dieser Weisungen und Tipps auf den Punkt: „Gesunder Umgang mit toxischen Menschen“.

Mit „toxischen Menschen“? Mit den „Psychopathen des Alltags“? Wörter wie diese fällen soziale, de facto also vernichtende Urteile. Die Frage, ob denjenigen, die so reden und durch die Art ihres Redens handeln, die Bedeutung der Wörter bewusst ist, erübrigt sich. Das Aufkommen und – mehr noch – die Akzeptanz dieser Sprache, die direkt auf die Herzen zielt, ist von einem Mentalitätswechsel getragen, von einem tiefen Verlangen nach klaren Vorgaben, das die Gesellschaft als Ganze erfasst zu haben scheint.

Plötzlich geht es nicht mehr darum, die irgendwie Schwierigen und zuweilen auch schwer Erträglichen trotz allem zu „verstehen“, sich um sie zu „kümmern“ und sie, wie das bürokratische Äquivalent lautete, zu „inkludieren“. Die Sprache der Ratgeber weist in eine andere Richtung. Die Sorge, die eben noch den problematischen Naturen galt, wird zurückgelenkt und nun unmittelbar dem erschöpften Selbst zugeleitet – dem Selbst, das des Altruismus müde ist und jene Anderen, die passend dazu als „Psychopathen“ und „toxische Menschen“ abgetan sind, nur noch „loswerden“ will.

Der Entlastungseffekt, den sprachliche Entscheidungen wie diese auslösen, ist beachtlich. Auf die stets ein wenig betuliche „Achtsamkeit“, die gerade noch als zeitgemäße Kardinaltugend galt, antwortet die neue Unbedenklichkeit mit einer neuen Härte. Soziale Dissense, so lautet nunmehr die Devise, müssen nicht länger ertragen und schon gar nicht ausgetragen werden; sie dürfen beiseitegeschoben und – ein Standardmotiv der Ratgeberprosa – „mutig“ aus der Welt geschafft werden. Ende des Streits und Ende der Diskussion.

Die Texte dieses Genres sind in vieler Hinsicht interessante, mentalitäts- und ideengeschichtlich aufschlussreiche, jedoch viel zu wenig beachtete Quellen. Unbekümmert um Theoriedebatten oder historische Vertiefungen, vollziehen diese Texte sprachliche Veränderungen nach, die sich normalerweise im Verborgenen abspielen, in der Welt des Tuschelns und Tratschens – und machen sie gesellschaftsfähig. Ratgeber sprechen im Präsenz, im Gewissheitston des endlich geradeheraus gesprochenen ‚Genau so ist es‘.

 

Proklamation des „Wir“

Ihre Lektüre ist denn auch die Gelegenheit, sich, wie die Jargonwendung lautet, ‚ehrlich zu machen‘. Dem Vorbild der Werbung und der Populärkultur folgend, wenden sie sich an das Gefühl und laden dazu ein, einfach mitzumachen und sich einzureihen. Das Ich, das sie ansprechen, soll sich als eines von vielen erkennen, als Teil einer Gemeinschaft der Betroffenen und, dank der Ratgeber, nun endlich auch Entschlossenen. Nicht, ob etwas wahr oder richtig ist, gibt hier den Ausschlag, sondern die Zwiesprache mit dem Zeitgeist. Das Kriterium der Bewahrheitung ist ein soziales: die Gestimmtheit all derer, die mitfühlen und bereit sind, die Sache genauso zu sehen.

Mit dieser Pointe kommt eine Größe ins Spiel, die als stiller Gast die Sätze der Ratwissenden begleitet, ohne direkt in Erscheinung treten zu müssen. Die Autorität, die diese Texte beanspruchen (und die ihnen, sofern die Verkaufszahlen nicht trügen, anstandslos zugestanden wird), verdankt sich dem erfolgreich geweckten Eindruck, in vollem Einvernehmen mit der verbreiteten Stimmungslage zu sprechen – im Einvernehmen mit dem großen ‚Wir‘.

Dieses große, über die Macht der Bewahrheitung gebietende Wir ist eine Instanz, die über das kleine Wir der Nahbereiche, über den Kreis der Verwandtschaften, Freundschaften oder Nachbarschaften weit hinausgreift. Derart emporgehoben und prominent gesetzt, verbindet sich mit dieser Instanz das Versprechen, der ewig anstrengenden, komplizierten und von Krisen und Konflikten gezeichneten Realität der Moderne die Einfachheit einer intakten und von authentischen Gefühlen getragenen Gemeinschaft gegenüberzustellen.

Das Wir demonstriert seine Macht, indem es auf die Sprache zugreift und sie in seinem Sinn verändert. Dazu zählt neben regulativen Vorgaben, wie dies oder jenes fortan zu formulieren sei, auch der weniger auffällige, aber ebenso effiziente Abbau von Tabus. Die Hemmungslosigkeit, mit der neuerdings Stigmatisierungsformeln wie „pathologisch“ oder „toxisch“, wie „narzisstisch“ oder einfach nur „rechts“ dahingesagt und unter die Leute gebracht werden, illustriert genau diesen Trend.

 

Gegen die Stimme des Ausgleichs

Die ideologische Ladung dieser Redeweisen, dieser Suggestion eines einmütigen, von Nähe und Wärme getragenen Zusammenlebens, ist wiederholt beschrieben worden. Unter dem Titel Was heißt hier „wir“? hat Heinrich Detering einige dieser Bedenklichkeiten zusammengetragen. Der Literaturwissenschaftler erschließt das Wir der Gemeinschaft als rhetorische Figur, als eine imaginäre und doch reale, in vielerlei Hinsicht wirksame Instanz, die entschlossen um die Meinungsführerschaft kämpft: um das, was hier und jetzt zu sagen ist und gilt. Dieses Wir, zeigt Detering, hat eine ausgeprägte Neigung zur Schwarz-Weiß-Malerei (Opfer/Täter, Freund/Feind, wir/ihr) und weiß in jeder Lage zu unterscheiden, wer die Guten – also „wir“ – und wer die anderen sind. Obwohl selbst diffus und, so Detering, „ambivalent“, sind diesem Akteur Diffusitäten und Ambivalenzen ein Gräuel. Das Wir der Gemeinschaft emotionalisiert, stereotypisiert und skandalisiert, um sich den Leuten schon im nächsten Augenblick als Inbegriff der Geborgenheit anzubieten: als das neue Être suprême, das höchste Wesen, das sich der Sorgen der Menschen annimmt und dafür nicht mehr verlangt, als dass sie ihm folgen und seine Sichtweisen teilen.

Alamy / The Picture Art Collection
Ebenso isoliert wie in der Mitte. Die Außenseiter nehmen auf der Treppe Platz, vorn links: Heraklit mit den Gesichtszügen Michelangelos, rechts: Diogenes. „Die Schule von Athen“, Fresko, gemalt von Raffaelo Sanzio zwischen 1509 und 1511, hier Bildausschnitt, Apostolischer Palast / Vatikanische Museen.

Der Parcours des Literaturwissenschaftlers durch die Tagespresse der letzten Jahre bietet wertvolle Aufschlüsse, hat jedoch den Mangel, sich auf die Rhetorik der parlamentarischen Rechten zu kaprizieren. Die Emphasen des Wir, denen die politische Linke seit den Tagen des Jakobinismus zuneigt – seit also die Linke überhaupt zur „Linken“ geworden ist und als solche firmiert –, sind kein Thema.

Weit umsichtiger hat Helmuth Plessner das Thema aufgegriffen, als er – lange vor Detering – sein Werk Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus verfasste. Demnach ist weder allein die ‚rechte‘ noch die spezifisch ‚linke‘ Anrufung des großen Wir problematisch, sondern unmittelbar die Platzierung dieser Instanz selbst. Die Emphase der Gemeinschaft, so die zentrale These Plessners, unterbietet die Anforderungen der Modernität. Plessner definiert die Gemeinschaft – die Gemeinschaft gleich welcher Couleur – als informellen Verbund von Menschen, deren Meinen auch über den Kreis der ohnehin Überzeugten hinaus aus ihrer Sicht unbestreitbar ist. Auf die Bestätigung durch zählbare Mehrheiten kann die Wir-Gemeinschaft verzichten, weil ihre Einstellung ihrem Selbstverständnis zufolge evident ist und sie sich fraglos im Recht wähnt.

Das kann gelingen, weil die Gemeinschaft den Realforderungen der Gesellschaft mit Idealforderungen begegnet, deren Bewährung in einer unbestimmten Zukunft liegt. Plessner verwendet für diesen Habitus das zu seiner Zeit neue, im Vorfeld des Nationalsozialismus aufgekommene Attribut „aktivistisch“. Der Elan der aktivistischen Wir-Gemeinschaft richtet sich, so Plessner, gegen alles „Bedingte“ und „Begrenzte“, gegen die „Stimme des Ausgleichs“. Entsprechend scharf ist seine Rhetorik. Dem großen Wir der Gemeinschaft ist nicht daran gelegen, Diskussionen zu eröffnen oder sie weiterzuführen. Als eine Instanz, deren Überlegenheit für sie selbst außer Zweifel steht, will das große Wir die Diskussionen beenden und seine Idealforderungen durchsetzen. So wird das politische Wir – schlicht aus seiner inneren Verfasstheit heraus – autokratisch.

 

Zustimmungsfähigkeit und Bindung

Helmuth Plessner spricht von der reaktiven, die Anforderungen der Modernität unterlaufenden Faszination eines Zusammenlebens, das die anachronistische Vorstellung einer „übergreifenden organischen Bindung“ lebendig hält.

Damit ist ein Problem berührt, das die Gesellschaften der Moderne bis heute begleitet. Bereits die schottischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts haben den klassischen Begriff des sensus communis, des „Gemeinsinns“, neu gefasst und ihm eine gesellschaftspolitische Dimension erschlossen. Während der Common Sense hierzulande als ein dem Verstandeswesen Mensch gegebenes, geistig-sinnliches Vermögen verstanden wurde, als anthropologische Grundausstattung, wiesen der schottische Philosoph Thomas Reid und seine Mitstreiter darauf hin, dass staatliches Handeln, sobald es nicht mehr von überweltlichen Mächten legitimiert ist, unabhängig von den Aussagen der Wissenschaft oder des Rechts zustimmungsfähig sein muss. Als Organ dieser Zustimmung bestimmten die Aufklärer den Common Sense. Angesichts der Labilität, die sich derzeit in den westlichen Gesellschaften bemerkbar macht, spricht der französische Politologe Pierre Rosanvallon heute von der Vertrauenswürdigkeit einer durch sich selbst – und nicht erst durch förmliche ‚Anerkennung‘ oder den Nachweis der ‚Funktion‘ – gerechtfertigten Ordnung.

Das politische „Wir“ tut sich allerdings schwer damit, der Repräsentant einer solchen Ordnung zu sein, die sich das Vertrauen der Bürger verdienen will. In dem Maße, wie es sich Geltung verschafft, entwickelt es die fatale Neigung, sich exklusiv zu setzen, Feindbilder zu pflegen und überhaupt alles, was das menschliche Zusammenleben betrifft, in seinem Sinn zu politisieren. Allein aufgrund seiner Konstitution – und im strikten Gegensatz zu den Intentionen der Aufklärer – wird das große Wir illiberal. Statt offen zu streiten und klug zu verteidigen, was der Verteidigung wert wäre, will es verbieten und ausschließen, wozu ihm nichts einfällt.

Mag sein, dass auch und gerade liberale Gesellschaften auf so etwas wie das große Wir, als der gleichsam zeitgemäßen Version des Common Sense, angewiesen sind. Um dieser Tradition und ihrem Anspruch zu genügen, müsste es sich allerdings selbst verändern und lernen, was ihm am schwersten fällt: Zurückhaltung.
 

Ralf Konersmann, geboren 1955 in Düsseldorf, emeritierter Professor für Philosophie und bis 2021 Direktor des Philosophischen Seminars der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Publizist und Autor zahlreicher Bücher, Essays und Feuilletons. Zuletzt erschienen sind „Die Unruhe der Welt“ (2015), das „Wörterbuch der Unruhe“ (2017) sowie „Welt ohne Maß“ (2021). Der im Frühjahr erschienene Essay über den „Außenseiter“ war Buch des Monats Juli im „Philosophie Magazin“.

 

Literatur

Detering, Heinrich: Was heißt hier „wir“? Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten, Stuttgart 2019; siehe auch Reinhard Blomert et al. (Hrsg.): Transformationen des Wir-Gefühls. Studien zum nationalen Habitus, Frankfurt am Main 1993.

Plessner, Helmuth: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Erstauflage 1924, Frankfurt am Main 2002.

Rosanvallon, Pierre: Unsichtbare Institutionen, Hamburg 2025.

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