Man mag den erneuten Einzug von Donald Trump ins Weiße Haus begrüßen oder an ihm verzweifeln – in einem wichtigen Sinne hat er jedoch Klarheit geschaffen: Die Rückkehr zum wohlvertrauten transatlantischen Status quo, die sich viele Europäer offen oder insgeheim von einem Sieg der Demokraten erhofft hatten, ist endgültig vom Tisch. Die transatlantischen Sicherheitsbeziehungen lassen sich nicht mehr mit den Errungenschaften der Vergangenheit begründen, sondern müssen sich in einer gänzlich neuen Lage bewähren, die mit dem Kalten Krieg ebenso wenig zu tun hat wie mit der anschließenden rund dreißigjährigen „post-Cold War era“.
Die Panik, die manche Beobachter angesichts einer zweiten Trump-Administration beschleicht, ist zwar nachvollziehbar, denn bereits einige seiner Nominierungen für hohe Regierungsämter haben einmal mehr gezeigt, dass für Trump Loyalität weitaus mehr zählt als Sachverstand. Dennoch sollte man sich im nervösen Europa daran erinnern, dass die Außen- und Sicherheitspolitik während Trumps erster Amtszeit trotz seiner chaotischen Amtsführung und seines ruppigen Auftretens auf dem internationalen Parkett weit weniger destruktiv war als vielerorts befürchtet. Geht man davon aus, dass Trumps zweite Amtszeit ähnlich verläuft wie die erste, dann stellt sich für Europa die Lage wie folgt dar.
Erstens: Washington betrachtet die Welt als geprägt von einer unerbittlichen strategischen Konkurrenz, zuerst und vor allem mit China. Russland spielt in diesem Weltbild nur eine untergeordnete Rolle, doch Russlands Status als große Nuklearmacht und seine zunehmende Kooperation mit China werden es den USA nicht erlauben, das Land zu ignorieren. Für Europa, das Russland nach wie vor als seine größte Bedrohung erachtet, bedeutet dies, dass Amerika – ungeachtet der wohl zu erwartenden verbalen Ausfälle seines Präsidenten – in Europa präsent bleiben muss. Allerdings könnte sich die Verlegung eines Teils insbesondere der US-Luft- und Seestreitkräfte in den Pazifik abzeichnen. Auch die Größe der in Europa stationierten Landstreitkräfte steht vermutlich zu Disposition, doch da sie für den asiatisch-pazifischen Schauplatz eine geringere Rolle spielen und zudem eng mit den Streitkräften der NATO-Verbündeten verzahnt sind, vollziehen sich Veränderungen in diesem Bereich vermutlich nur langsam.
Zweitens: Die NATO wird auch künftig Dreh- und Angelpunkt der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen sein. Die USA werden das Bündnis nicht verlassen – nicht nur, weil es dem Kongress gelungen ist, diesen Schritt durch eine entsprechende Gesetzgebung zu erschweren, sondern vor allem, weil Trumps Drohung mit dem Entzug des amerikanischen Schutzes für die Verbündeten zu einer erheblichen Steigerung der europäischen Verteidigungshaushalte geführt hat. Trump wird deshalb damit fortfahren, die Europäer in der undiplomatischen Diktion eines New Yorker Immobilienmaklers an die Erfüllung ihrer selbst festgelegten Budgetziele zu erinnern. Seine Forderungen werden allerdings höher ausfallen: Statt der aktuellen NATO-Richtlinie, mindestens zwei Prozent des Bruttosozialprodukts für die Verteidigung auszugeben, wird sich Europa auf drei Prozent oder mehr einstellen müssen. Selbst diese Mittel werden nicht ausreichen, um die Kapazitäten, die die USA für die Sicherheit Europas vorhalten, zu ersetzen. Darüber hinaus sind der US-Regierung Investitionen in unspektakuläre Bereiche wie Munitionsbevorratung oder europäische Investitionen in Logistik vermutlich schwer zu vermitteln, und die Umsetzung anspruchsvollerer Ziele, wie beispielsweise eine Konsolidierung der fragmentierten europäischen Rüstungsindustrie, benötigt Jahrzehnte.[1] Doch auch hier geht es in erster Linie darum, Washington zu signalisieren, dass man den amerikanischen Wunsch nach einer gerechteren Lastenteilung verstanden hat und die Weichen entsprechend stellt. In vier Jahren wird Europa nicht viel erreichen, aber wer auch immer Trump nachfolgt, wird die Verbündeten vermutlich mit ähnlichen Forderungen konfrontieren.
Drittens: Der amerikanische „Nuklearschirm“ für Europa wird bleiben. In seiner ersten Amtszeit hatte Trump die europäischen Verbündeten zwar ob ihrer niedrigen Verteidigungshaushalte heftig kritisiert, den nuklearen Schutz durch die USA jedoch nicht infrage gestellt. Die unter ihm initiierten Grundsatzdokumente enthielten ein klares Bekenntnis zum Prinzip der „erweiterten Abschreckung“ für die Verbündeten einschließlich der Forderung nach neuen nuklearen Waffensystemen, um die Abschreckung gegenüber Russland zu stärken. Es steht zu erwarten, dass diese Politik fortgeführt wird, denn es bleibt im amerikanischen Interesse, nichts zu unternehmen, was die amerikanischen nuklearen Verpflichtungen in Zweifel ziehen und damit die Suche der Verbündeten nach nationalen Lösungen provozieren könnte.[2] Für die Europäer heißt dies, das Geraune über europäische oder gar nationale nukleare Optionen zu beenden und in die gemeinsame nukleare Abschreckung im Rahmen der NATO zu investieren. Dies schließt eine engere Abstimmung zwischen den Europäern in nuklearen Fragen keineswegs aus, doch der Versuch, das französische oder britische Kernwaffenarsenal zur Keimzelle einer gemeinsamen europäischen nuklearen Abschreckung zu bestimmen, setzt ein Maß an politischer und militärischer Konvergenz unter den Europäern voraus, das es nicht gibt und das sich auch durch die Furcht vor Trump nicht herbeiführen lässt. Der Schwerpunkt Europas muss folglich auf der Verbesserung seiner konventionellen Fähigkeiten liegen. Sie sind der Lackmustest für die transatlantischen Sicherheitsbeziehungen.
Viertens: Die Europäer müssen einen Großteil der Lasten eines möglichen Friedensabkommens für die Ukraine übernehmen. Zwar wird Trump den Krieg zwischen Russland und der Ukraine nicht, wie er im Wahlkampf prahlte, innerhalb von 24 Stunden beenden können; allerdings hat er keinen Zweifel daran gelassen, dass er die Ukraine in erster Linie als ein Problem für die Europäer und weniger für die USA betrachtet. Er wird vermutlich versuchen, mit Putin einen „Deal“ auszuhandeln, in dessen Zuge die Ukraine die von Russland besetzten Gebiete aufgibt und die Europäer die Folgekosten in Form der militärischen Absicherung einer Friedenslösung übernehmen. Trump hat jedenfalls seine Bereitschaft bekundet, Moskau militärisch noch stärker unter Druck zu setzen, sollte man sich dort nicht um ernsthafte Verhandlungen bemühen. Die von der Ukraine sehnlichst gewünschte Aufnahme in die NATO, um wenigstens in Zukunft vor Russland sicher zu sein, bleibt vorerst ungewiss. Moskau wird jedenfalls Trump zu überzeugen suchen, dass eine „Neutralität“ der Ukraine für ihn der bessere Deal sei, und auch viele konservative Stimmen in den USA halten eine Vertagung des NATO-Beitrittsprozesses der Ukraine für ein probates Mittel, um Russland zu einem Abkommen zu bewegen.[3] Für die Europäer hieße dies, Sicherheitsgarantien für die Ukraine abzugeben oder sich unter Umständen sogar an der militärischen Absicherung einer rund 1.000 Kilometer langen Demarkationslinie zu beteiligen. Die Kosten eines solchen Vorhabens wären enorm – insbesondere dann, wenn sich die USA nicht umfassend engagieren würden.
Fünftens: Der Aufstieg Chinas als größter Rivale der USA wird nicht ohne Folgen für Europa bleiben. So, wie die erste Trump-Administration Deutschland wegen seiner Energieabhängigkeit von Russland kritisierte, wird die zweite Amtszeit Trumps von Kritik an manchen europäischen Staaten wegen ihrer Abhängigkeit von China geprägt sein. Für ein exportabhängiges Land wie Deutschland ist eine drastische Einschränkung seines Handels mit China keine realistische Option. Dennoch wird in dieser Frage zumindest so viel Bewegung notwendig sein, um Washington glaubwürdig zu signalisieren, dass man auch in Europa die strategische Herausforderung durch China erkannt hat. Anderenfalls bestünde die Gefahr, dass die Frustration der USA über ihre uneinsichtigen europäischen Verbündeten auch auf die Sicherheitspolitik durchschlägt und ein sprunghafter Präsident Entscheidungen trifft, die auf eine Schwächung des amerikanischen Abschreckungsdispositivs hinausliefen. Ein weiteres Mittel, um ein solches Szenario zu verhindern, wäre eine regelmäßige militärische Präsenz europäischer Staaten im asiatisch-pazifischen Raum, aber auch ein größeres Engagement in der Sicherung anderer Handelswege, wie etwa am Golf von Aden. Die USA sind in diesen Regionen auf eine Entlastung durch Europa zwar nicht zwingend angewiesen, doch angesichts einer amerikanischen Administration, die oftmals eher mit Emotionen als mit Fakten operiert, ist die symbolische Wirkung einer europäischen Präsenz nicht zu unterschätzen.
Sechstens: Die Politik der USA im Nahen Osten zwingt Europa zu einer Kursänderung. Selbst viele von Trumps Gegnern erkennen inzwischen an, dass die Nahostpolitik der ersten Trump-Administration erfolgreicher war als zunächst angenommen. Die Abraham Accords, die Verlegung der amerikanischen Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem, aber auch der Ausstieg aus dem Nuklearabkommen mit dem Iran haben die Region nicht unsicherer gemacht, sondern neue politische Spielräume geschaffen. Die Schwächung der vom Iran unterstützten Terrorgruppen durch Israel sowie der Umsturz in Syrien, der Russland seiner wenigen militärischen Stützpunkte im Mittelmeer berauben könnte, werden es der zweiten Trump-Administration ermöglichen, noch größeren Druck auf den Iran auszuüben. Für die Europäer dürfte es folglich noch schwieriger werden, an ihrer im Kern längst gescheiterten Iranpolitik festzuhalten. Anstatt vergeblich zu versuchen, die USA für ein neues Nuklearabkommen mit dem Iran zu gewinnen, sollte Europa in enger Absprache mit den USA die Chance für ein weiteres Zurückdrängen des iranischen Einflusses in der Region nutzen.
Die transatlantischen Sicherheitsbeziehungen werden in der zweiten Amtszeit Donald Trumps vermutlich noch schwieriger, als sie es in seiner ersten Amtszeit gewesen sind. Trumps Sicht der Welt als ein Nullsummenspiel macht konstruktive Kompromisse in Politik und Wirtschaft nahezu unmöglich. Doch so, wie die transatlantische Sicherheitsgemeinschaft eine Präsidentschaft Trumps schon einmal überstanden hat, kann sie auch ein zweites Mal darauf hoffen, die zu erwartende teils erratische Politik aus dem Weißen Haus zu überstehen. Voraussetzung hierfür ist allerdings zum einen, dass die amerikanische Politik – vor allem der nun republikanisch dominierte Kongress – weiterhin nach demokratischen Regeln spielt und so Exzesse des Präsidenten zu verhindern vermag. Zum anderen bedarf es eines klaren Bekenntnisses der Europäer zu höheren Verteidigungsleistungen – und dies nicht, weil man widerwillig einer amerikanischen Erpressung nachgibt, sondern weil man erkannt hat, dass eine neue Sicherheitslage größere Investitionen in die eigene Verteidigung zwingend erfordert. Würde sich Europa dieser Verpflichtung entziehen, liefe es Gefahr, zwischen einem aggressiven Russland und einem zynischen Amerika marginalisiert zu werden. Für Europa ist es also allemal besser, so eine britische Tageszeitung, auf den Trump-Zug aufzuspringen, als vor ihm auf den Gleisen zu liegen.
Michael Rühle, geboren 1959 in Stuttgart, war über dreißig Jahre im Internationalen Stab der NATO tätig, unter anderem in den Bereichen Politische Planung und Reden, Energie- und Klimasicherheit sowie hybride Bedrohungen.
[1] Vgl.: „How NATO might cope with less US help“, in: Financial Times, 25.11.2024, S. 21.
[2] Vgl. Michael Rühle / Keith Payne: „Die Kultur des Trittbrettfahrens ist vorbei“, in: Welt am Sonntag, 21.07.2024, S. 9.
[3] Vgl. Lt. General (Ret.) Keith Kellogg / Fred Fleitz: „America First, Russia, & Ukraine“, Research Report, Center for American Security, 09.04.2024, https://americafirstpolicy.com/assets/uploads/files/Research_Report_-Ukraine_Research_GKK..pdf [letzter Zugriff: 12.12.2024]