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Ein Blick zurück nach vorn

von Heinz-Peter Meidinger

Schulpolitik in Deutschland

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Schulpolitik in Deutschland: Das ist ein komplexes Geflecht mit einer unüberschaubaren Vielzahl von Playern, wie man heute wohl sagen würde – Parteien, Bund und Länder, Kommunen, Bildungsstiftungen, Interessenvertretungen von Schülern, Eltern und Lehrkräften, Bildungsforschungseinrichtungen, Hochschulen und so weiter. Nicht zu vergessen internationale Institutionen wie die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Co-operation and Development, OECD), deren Vergleichsstudien und Expertisen auch in Deutschland eine wichtige Rolle spielen.

Wenn man wie ich rund vierzig Jahre Schulpolitik als Funktionär von Lehrerverbänden miterlebt und manchmal mitgestaltet hat, drängt sich der Eindruck auf, dass es in der Schulpolitik letztlich immer um die gleichen Themen geht, was daran liegen könnte, dass die grundlegenden Missstände und Probleme tatsächlich die gleichen bleiben, und zwar einfach deshalb, weil die Schulpolitik bei der Problemlösung ständig versagt. Das ist nicht ganz falsch, doch versperrt diese etwas fatalistische Wahrnehmung den Blick darauf, dass es in den letzten Jahren und Jahrzehnten durchaus prägende Ereignisse und interessante Entwicklungen gegeben hat, die der Schulpolitik ihrer Zeit einen bestimmten Stempel aufgedrückt haben.

In den 1980er-Jahren, als ich als Junglehrer im Philologenverband aktiv wurde, war die Hoch-Zeit der ideologischen Auseinandersetzungen um die Abschaffung des gegliederten Schulwesens und die Einführung von Gesamtschulen vorüber. Auch wenn sich niemand heute diese Zeiten zurückwünscht, in denen sich A- und B-Länder – in A-Ländern stellt die SPD die Regierung, in B-Ländern die Union – erbittert bekriegten: Es gab wohl keine Zeit, in der Schulpolitik nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch im Machtgefüge der Regierungen, Koalitionen und Kabinette eine größere Rolle gespielt hat als damals. Seinerzeit strebte der besonders ambitionierte Parteinachwuchs in die Schulpolitik; heute sind die Schulministerien nicht selten die Ressorts, um die sich bei Koalitionsverhandlungen keine Partei besonders bemüht, eingedenk des Grundsatzes, mit Schulpolitik könne man Wahlen nicht gewinnen, sehr wohl aber verlieren.

Meine Erfahrungen mit Moden und Wenden in der Bildungspolitik haben mich vor allem eines gelehrt: dass es der Bildung und den Schulen vor allem dann besonders schlecht erging, wenn diese in das Schlepptau anderer, schulfremder Konzeptionen, Reformvorstellungen und Denkmuster gerieten.

 

Mit missionarischen Eifer für Strukturveränderungen

 

Lange Jahre und leider teilweise bis heute war und ist für viele eher links angehauchte Bildungspolitiker Schulpolitik nichts anderes als ein Vehikel, um über eine veränderte Schulstruktur und andere Pädagogik eine Gesellschaft zu formen, die keine Ungleichheiten und keine Ungerechtigkeiten mehr kennt – Schulpolitik sozusagen als verlängerter Arm der Sozial- und Gesellschaftspolitik. Einen großen Schub für diese Systemveränderung erhoffte man sich von der Einführung der Gesamtschule. Auf einer Tagung vor rund fünfzehn Jahren räumte der bedeutende Bildungsforscher und Pädagoge Helmut Fend, einst vehementer Befürworter und Förderer von Gesamtschulen, aufgrund der von ihm geleiteten Langzeitstudie LifE (Lebensverläufe von der späten Kindheit ins fortgeschrittene Erwachsenenalter) allerdings ernüchtert ein, dass die Gesamtschule die von ihm in sie gesetzten Hoffnungen weder erfüllt noch zu größerer sozialer Gerechtigkeit geführt habe.

Selbst wenn der missionarische Eifer der Befürworter von Schulstrukturveränderungen heute nicht mehr so offenkundig ist – ich bin immer wieder auf Schulministerinnen gestoßen, die dazu eine klare Agenda verfolgten; Christa Goetsch in Hamburg zählte dazu, aber auch Sylvia Löhrmann in Nordrhein-Westfalen. Es waren vor allem grüne Schulpolitikerinnen, die in den Jahren nach der Jahrtausendwende für eine Reideologisierung der Schulpolitik verantwortlich waren. In Hamburg konnte die Einführung der sechsjährigen Primarschule 2010 nur durch ein Volksbegehren gestoppt werden, in Nordrhein-Westfalen war die realitätsfremde Inklusionspolitik in erster Linie für das Wahldebakel der Grünen bei der Landtagswahl verantwortlich. Der erfolgreiche Volksentscheid stoppte die bis heute zu hohen Ambitionen linker Bildungspolitik, was das sogenannte „längere gemeinsame Lernen“ anbetrifft. Es hat seither keine Landtagswahl mehr gegeben, bei der sich die SPD oder die Grünen mit einer klaren Forderung nach Schulstrukturänderungen in den Wahlkampf zu ziehen trauten.

Allerdings sahen einige rot-grüne Landesregierungen nach Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen mit ihrer Forderung nach einem inklusiven Schulsystem 2009 die Chance, über eine Abschaffung der Förderschulen doch noch der „einen Schule für alle“ einen großen Schritt näher zu kommen. Dabei zielt Artikel 24 der besagten Konvention an keiner Stelle auf eine Einheitsschule ab, sondern hat in erster Linie das Ziel, allen Kindern, mit welchen Handicaps und Behinderungen auch immer, den Weg zu guter Bildung zu öffnen; ein Ziel, von dem viele Länder der Welt heute noch meilenweit entfernt sind. Und natürlich gibt es auch bei uns nach wie vor Reformbedarf. Als Schulleiter habe ich daran mitgewirkt, dass an meiner Schule besondere Förderschwerpunkte für hörgeschädigte und autistisch veranlagte Jugendliche eingerichtet wurden. Anstatt einen sorgfältig vorbereiteten, mit der Bereitstellung entsprechender personeller und ausstattungsbezogener Ressourcen verbundenen Inklusionsprozess in Gang zu setzen, preschten einige Länder nach 2010 vor und ließen Förder- und Sonderschulen mit bestimmten Förderschwerpunkten schließen, ohne dass die Regelschulen diese Lücke füllen konnten.

Ich erinnere mich noch gut an den Evangelischen Kirchentag in Hamburg 2013, zu dem ich neben Ute Erdsiek-Rave, ehemalige Schulministerin und Vorsitzende des Expertenkreises „Inklusive Bildung“ der Deutschen UNESCO-Kommission, eingeladen war. Mit meinen Positionen – Elternwahlrecht, Erhalt der Förderschulen und der spezifischen Förderschul-Lehrerbildung, schulartbezogene zielgleiche Inklusion – glaubte ich, viel Widerspruch und Gegenwind zu erhalten. Weit gefehlt. Mehrere Hundert wütender und enttäuschter Förderschullehrkräfte im Auditorium machten deutlich, wer unter der zwangsweisen Abschaffung von Förderschulen in Bremen, Schleswig-Holstein oder auch Mecklenburg-Vorpommern am meisten leidet: die betroffenen Kinder selbst.

 

Ständige Unruhe und Verunsicherung

 

Der vorerst letzte große Strukturreformaufschlag war in Baden-Württemberg ab dem Jahre 2011 die Einführung der Gemeinschaftsschule, die die damalige grün-rote Landesregierung mit großem Aufwand betrieben hatte. Inzwischen wird selbst von vielen ehemaligen Befürwortern nicht bestritten, dass es sich dabei um einen Flop, eine verfehlte Reform handelt. Es gibt kein zweites Bundesland, das bei den vergangenen Vergleichsstudien des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), etwa den IQB-Bildungstrends 2016 und 2021, einen vergleichbar dramatischen Leistungsabsturz hingelegt hat wie Baden-Württemberg. Das langjährige Mitglied des bundesdeutschen Spitzenquartetts – zusammen mit Sachsen, Bayern und Thüringen – befindet sich im freien Fall von der Spitzengruppe ins untere Mittelfeld. Es gibt sicher verschiedene Erklärungen dafür, eines ist indes gewiss: Große Strukturreformen binden enorme Kräfte und Ressourcen, die an anderer Stelle fehlen. Sie bringen Unruhe und Verunsicherung in ein System, das von Verlässlichkeit, Kontinuität und Berechenbarkeit lebt.

 

Unter dem Siegel des Neoliberalismus

 

Schließlich ein Blick auf eine Schulstrukturreform, die sich schleichend und unideologisiert vollzog: das Verschwinden der Hauptschulen und die Ersetzung des dreigliedrigen Schulsystems durch ein Zweisäulenmodell in der Mehrzahl der Bundesländer als Reaktion auf den schlechten Ruf der Hauptschule in vielen Regionen und die sinkenden Schülerzahlen. Aber auch die Bilanz dieser Strukturreform fällt gemischt bis negativ aus. Die neu gebildeten Schulformen, egal, wie sie benannt wurden, haben die Probleme der Hauptschulen geerbt. Und das Wichtigste: Mit der Hauptschule wurde der Hauptschüler nicht abgeschafft. Zu Recht wird beklagt, dass auf seine Bedürfnisse nach Berufsorientierung und Praxisbezug an den neuen Schulformen oft weniger Rücksicht genommen wird als zuvor.

Daneben gab es eine längere Phase in der Schulpolitik, in der sozialistische Schulutopien keine große Rolle spielten und stattdessen die Rettung für die Schulmisere anderswo gesucht wurden: und zwar in der Ökonomie. Der Markt sollte es regeln; es war die Zeit, in der sich einerseits verstärkt Wirtschaftsunternehmen, Arbeitgeber- und Bankenverbände mit sehr konkreten schulpolitischen Reformvorschlägen zu Wort meldeten und sich die Schulpolitik immer stärker an ökonomischen und immer weniger an pädagogischen Überlegungen orientierte. Die Vorstellung griff um sich, im Zeitalter der Globalisierung und des Weltmarkts gebe es auch einen Wettkampf der Bildungssysteme. In diesem Wettkampf könne man jedoch nur bestehen, wenn das Bildungssystem selbst ökonomischen Steuerungsregeln unterworfen werde. Letztendlich sei Schule ein Unternehmen, für das Kundenorientierung und Kundenzufriedenheit die wichtigsten Kenngrößen wären.

Immer weniger war die Rede von Unterrichtsqualität, ganzheitlichem Lernen, Erziehung zur Mündigkeit und Bildung als Grundlage für Selbstverwirklichung und Lebensgestaltung, und immer mehr von Deregulierung, Privatisierung, Schulmanagement, Schulautonomie, Beschleunigung und Output-Orientierung. Nicht alles, was unter dem Siegel des Neoliberalismus in die Schulen schwappte und die Bildungspolitik infiltrierte, war schädlich. Selbstverständlich muss sich auch ein Subsystem wie das Schulsystem Kosten-Nutzen-Analysen stellen. Insgesamt gesehen haben die Folgen dieser Periode viel Schaden angerichtet und wenig Nutzen gebracht. Musterbeispiel dafür ist die unselige Debatte um G8 und G9, also um die Verkürzung der Gymnasialzeit. Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, wie verbissen und mit welch absurden Argumenten diese Debatte geführt wurde. Bundespräsident Roman Herzog bezeichnete in seiner berühmten Ruck-Rede 1997 die 13. Jahrgangsstufe als „gestohlene Lebenszeit“. Die Angst ging um, dass Deutschland mit den ältesten Studenten und den jüngsten Rentnern wirtschaftlich abgehängt werde und dem Land ein enormer Wohlstandsverlust drohe. Wie lange diese Zeiten her sind, zeigt die aktuelle Debatte um ein soziales Pflichtjahr für Jugendliche, angestoßen vom heutigen Bundespräsidenten und der Union. Darin äußert sich ein ganz anderes Verständnis der Ressource Zeit.

Unabhängig von der Frage, ob ein anspruchsvolles Abitur auch in acht Jahren möglich ist – was sicher der Fall ist, wenn man die entsprechenden Bedingungen schafft (etwa mehr Ganztagsunterricht) –, hat die überhastet und ohne Konzept vorgenommene Schulzeitverkürzung in den alten Bundesländern zwei Dinge deutlich gemacht: Erstens führt in einem komplexen System unterschiedlicher Schularten und Bildungswege selbst ein vermeintlich kleiner Eingriff zu großen unerwarteten Kollateralschäden. Zweitens ist jede Reform zum Scheitern verurteilt, die ohne Einbeziehung der Betroffenen, und damit meine ich in diesem Falle alle Mitglieder der Schulfamilie – Eltern, Lehrkräfte und Schüler – umgesetzt wird. Das G9 in den meisten alten Bundesländern kehrte deshalb zurück, weil die Zustimmungswerte in der Bevölkerung zum G8 durchgängig miserabel blieben.

Auch die Schulinspektion, einst lautstark und mit dem hehren Ziel der Qualitätssteigerung eingeführt, wurde meist still und leise wieder abgeschafft oder kräftig eingedampft. Als Schulleiter habe ich zweimal eine solche Schulevaluation durchführen müssen. Mein Eindruck war, dass der riesige Aufwand den erwarteten Nutzen nicht annähernd rechtfertigen konnte. Weder gewinnt man als Schulleitung fundamental neue Erkenntnisse, noch besteht die Möglichkeit, bei festgestellten Defiziten anschließend die notwendigen Zusatzressourcen zu erhalten.

 

Lehren aus der Schulmisere

 

Aus diesem Rückblick ergeben sich folgerichtig klare Handlungsanweisungen für eine bessere Bildungspolitik in der Zukunft.

Erstens: Der PISA-Schock 2001 hat die sogenannte empirische Wende ausgelöst, also eine stärkere Orientierung der Schulpolitik an der empirischen Bildungsforschung. PISA hat zu mehr Investitionen in und mehr öffentliche Aufmerksamkeit für Bildung gesorgt. Die miserablen Ergebnisse des jüngsten IQB-Bildungstrends für Viertklässler, nach dem bis zu einem Drittel von ihnen die Mindeststandards verfehlt, müssten Anlass für eine umfassende Bildungsinitiative sein. Im Gegensatz zu 2001 haben wir allerdings heute kein Erkenntnis-, sondern vorrangig ein Umsetzungsproblem. Wir wissen eigentlich, was zu tun ist: verpflichtende vorschulische Frühförderung, Stärkung der Kernfächer Deutsch und Mathematik.

Doch in den Bundesländern passiert mit wenigen Ausnahmen viel zu wenig. Dieses fehlende Handlungskonzept verhindert eine erfolgreiche Integration und verstärkt Bildungsungerechtigkeit.

Zweitens: Wir haben heute den massivsten Lehrkräftemangel seit über fünfzig Jahren zu beklagen. Die Bewältigung aller großen Herausforderungen – Integration, Inklusion, Digitalisierung und Corona-Aufholprogramm – steht und fällt mit der Lehrerversorgung. In Zeiten eines allgemeinen Arbeitskräftemangels muss der Lehrerberuf an Attraktivität gewinnen. Das ist nicht allein eine Frage des Geldes. Für viele junge Menschen gilt das Lehramt heute als wenig interessant, als Einbahnstraße und als Beruf, bei dem man oftmals am ersten Berufstag das gleiche wie am letzten tut und der intellektuell zu wenig herausfordernd ist. Wir benötigen eine Debatte über ein neues, moderneres Berufsbild.

Drittens: Corona hat wie ein Brennglas den Fokus auf einige Schwachstellen der Schulpolitik gerichtet. Wir benötigen eine Reform des viel zu trägen Bildungsföderalismus, namentlich der Kultusministerkonferenz – eine Reform, die diesen Namen auch verdient. Ein Staatsvertrag, der, abgesegnet durch alle Landesparlamente, den Grundkonsens der Länder hinsichtlich Schularten, Bildungsstandards, Lehramtsausbildung und Abschlussprüfungen festlegt, ist dringend notwendig.

 

Heinz-Peter Meidinger, geboren 1954 in Regensburg, Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, Oberstudiendirektor und Gymnasiallehrer, 2004 bis 2017 Bundesvorsitzender des Deutschen Philologenverbandes, seit 2017 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes.

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