„I think of life as organised chemicals, selforganised chemicals“ – John Glass vom J. Craig Venter Institute, USA, ist einer der führenden Vertreter der Synthetischen Biologie. Im Gespräch bringt er das seiner Forschung zugrunde liegende Konzept des Lebens schnell auf den Punkt. Aus der Sicht der Synthetischen Biologie bestehen Lebewesen ausschließlich aus chemischen Bausteinen und Bausteingruppen und können durch sie und ihre Organisation vollständig erklärt werden. Auf dieser Grundlage hat sich die Synthetische Biologie zum Ziel gesetzt, Lebewesen nach rationalen Prinzipien zu entwickeln und neu zu schaffen, um sie beispielsweise für medizinische oder industrielle Anwendungen zu nutzen. Die Synthetische Biologie ist ein neuer Zweig der modernen Lebenswissenschaften, der sich in den wenigen Jahren seit seiner Entstehung rasant entwickelt hat und mit eigenen Tagungen, wissenschaftlichen Zeitschriften und Lehrstühlen bereits Merkmale einer eigenen Disziplin aufweist. Wichtigste Gemeinsamkeit von Synthetischer Biologie und Gentechnik sind die ähnlichen Ziele, wie zum Beispiel die Herstellung von rekombinanten Biopharmazeutika oder die Suche nach alternativen Energieformen.
Als Forschungsfeld geht die Synthetische Biologie aber in vielen Punkten über die klassische Gentechnik hinaus. Es werden nicht nur – wie in der Gentechnik – einzelne Gene oder Gencluster verändert, entfernt oder zu natürlichen Organismen hinzugefügt. Vielmehr hat die Synthetische Biologie einen systemischen Ansatz, bei dem Organismen teilweise in Ablösung von Vorbildern in der Natur von Grund auf neu entwickelt und hergestellt werden sollen. Dabei geht die Synthetische Biologie nach ingenieurwissenschaftlichen Prinzipien vor: Zellen werden ähnlich wie Autos in der Fahrzeugindustrie als „Chassis“ oder Plattform gesehen, die dann mit standardisierten und optimierten Bausteinen ausgestattet werden, um eine zugeschnittene Funktion zu erfüllen. Eine Strategie, diese Plattform zu entwickeln und zu optimieren, ist die In-vitro-Synthese von Lebewesen. Noch ist es nicht gelungen, Lebewesen im Reagenzglas vollständig aus unbelebter Materie zu synthetisieren. Wie konkret die Forschung aber in diesem Bereich ist, zeigen die Arbeiten von Craig Venter, John Glass und ihren Koautoren. Ihnen ist es bereits gelungen, das komplette Erbgut eines Bakteriums im Reagenzglas zu synthetisieren und in eine leere Bakterienhülle zu transplantieren. Da das künstliche Erbgut die Kontrolle über das Bakterium übernommen hat, sprechen die Autoren bereits hier von der Schaffung einer synthetischen Zelle.
Was bleibt von der Mystik des Lebens?
Je weiter das Projekt der Synthetischen Biologie, künstliches Leben zu schaffen, voranschreitet, umso größer wird auch der Einfluss auf unser Konzept des Lebens werden. Vor allem führt es zu einer Stärkung eines mechanistischen Verständnisses vom Leben. In einem Konzept, in dem Lebewesen als organisierte Chemikalien verstanden werden, bleibt kein Platz für eine besondere Lebenskraft oder gar Seele. Gelänge es, neben dem Genom auch noch die Bakterienhülle im Reagenzglas zu synthetisieren und zu teilungsfähigen Bakterien zusammenzuführen, würde das einer endgültigen Widerlegung aller nicht-naturalistischen Lebensbilder gleichkommen. Ob dieser endgültige Schritt jemals gegangen werden kann, bleibt in der Gegenwart noch unklar. Synthetisches Leben zu schaffen, ist Forschungsziel seit Jahrhunderten, und es wurde immer wieder deklariert, dass der Schritt, Leben zu schaffen, bereits erfolgreich vollzogen wurde oder kurz bevorsteht. Unabhängig davon gilt: Je weiter wir Schritt für Schritt in die chemischen Mechanismen der Zellen vordringen, umso weniger Platz bleibt für die Mystik, die das Leben so viele Jahrhunderte umgab. Wenn wir Lebewesen ganz oder teilweise herstellen können, wird auch die Achtung vor einer über Milliarden von Jahren gewachsenen Ordnung in einer immensen Komplexität an Einfluss verlieren.
Ebenen des Lebensbegriffes
Trotz der spontanen Vertrautheit und Zugänglichkeit des Lebensbegriffes aus der eigenen Lebenserfahrung heraus ist der Begriff sowohl auf der deskriptiven als auch auf der normativen Ebene unklar. Der Lebensbegriff war schon immer sehr vielschichtig und wird mit seiner positiven Konnotation in ganz unterschiedlichen Kontexten eingesetzt. Er spielt einerseits eine wichtige Rolle in der Wissenschaft zur Abgrenzung ihrer Gegenstandsbereiche und andererseits in der alltäglichen Lebenswelt als zentrale ordnende Vorstellung. Nicht nur in der allgemeinsprachlichen Verwendung, sondern auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch nimmt der Lebensbegriff vielfältige Rollen ein. So wird sein Konzept sowohl von den Humanwissenschaften als auch von den Naturwissenschaften beansprucht. Während einerseits der Schwerpunkt in der humanwissenschaftlichen Tradition in dem zeitlichen Verlauf und der Einheit eines Lebewesens, in erster Linie eines Menschen, liegt, wird andererseits in der naturwissenschaftlichen Sichtweise Leben vor allem auf die bestimmte Seinsweise von Organismen im Unterschied zu toten Körpern bezogen. Das Spezifische des Lebendigen besteht in einem geordneten System von Funktionen und Vermögen eines Individuums.
Unter den Vorzeichen der Evolution wird der Lebensbegriff in der Biologie aber auch jenseits des einzelnen Organismus angewandt und zum Beispiel auf die Summe der Lebewesen auf der Erde zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in der Erdgeschichte insgesamt oder auf die Menge der für sie typischen Tätigkeiten wie zum Beispiel Ernährung und Reproduktion angewandt (vgl. Georg Toepfer, 2005). Die allgemeinsprachliche Verwendung des Wortes „Leben“ hat sich in den Jahrhunderten vielfältig gewandelt. Im Alten Testament beispielsweise wird das Leben als etwas vorgestellt, was von außen durch Gott dem Körper hinzugefügt („eingehaucht“) wird. Der Begriff wird weniger im Sinne eines biologischen Phänomens als zur Bezeichnung der Lebensspanne eines Menschen und der sich darin vollziehenden existenziellen Ereignisse genutzt. Einige Dimensionen des Begriffs und Zugangsweisen zu dem Phänomen sind in der folgenden Tabelle aufgeführt:
| Leben als eine Weise zu sein | Leben ist nicht eine zufällige Eigenschaft, die bestimmten Körpern zukommt, sondern die ontologisch irreduzible Weise ihres Seins. |
| Leben als Inbegriff besonderer Tätigkeiten | Das Leben einer Entität besteht in ihren charakteristischen und integrierten Tätigkeiten, ihrem Vermögen und ihren Funktionen (zum Beispiel Ernährung, Wachstum, Fortpflanzung, Stoffwechsel, Empfindung, Denken). |
| Leben als organisierter Körper | Das Leben ist der Zustand eines Körpers mit einer besonderen Struktur (einer Organisation). |
| Leben als Eigenschaft komplexer Materieeinheiten | Das Leben ist eine Eigenschaft, die materiellen Einheiten ab einem bestimmten Komplexitätsniveau zukommt. |
| Leben als Einheit der individuellen Lebensgeschichte | Das Leben besteht in der Summe und Gesamtheit der Ereignisse, Tätigkeiten und Widerfahrnisse eines einzelnen Lebewesens (insbesondere eines Menschen). |
| Leben als Summe von Lebewesen einer Region oder Zeit | Das Leben ist die Gesamtheit von Lebewesen, die in einem Raum oder in einer Zeitspanne existieren (zum Beispiel das Leben auf der Erde als Summe aller Lebewesen auf der Erde seit der Entstehung des ersten Lebewesens). |
| Leben als einzelne Körper übersteigende Dynamik | Das Leben umfasst mehr als ein einzelnes Individuum, weil sein Wesen in der Fortpflanzung der Lebewesen, also der „Kette“ oder dem „Fluss“ der Wesen in der Zeit besteht. |
| Leben als Mengenbegriff | Das Leben ist ein Maß für den Umfang und die Intensität besonderer Aktivitäten (zum Beispiel das Ausmaß von Lebensaktivitäten in einem kranken Lebewesen oder die Menge von Lebewesen in einer Region). |
| Leben als Synonym für die Seele | Das Leben ist der Inbegriff der Seele in einem Körper. |
| Leben als gefährdeter Zustand | Das Leben ist ein notorisch labiler und gefährdeter Zustand: Leben gibt es nur im Angesicht des Todes. |
Einige Dimensionen des Lebensbegriffs (nach Georg Toepfer: Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Stuttgart 2011)
Umgang mit dem Lebensbegriff in der synthetischen Biologie
Indem die Synthetische Biologie Lebewesen teilweise oder vielleicht irgendwann auch von Grund auf ganz neu baut, entmystifiziert sie den über Jahrhunderte gewachsenen Lebensbegriff in Richtung einer rein materialistischen Sichtweise. In einigen Fällen nimmt sie auch ganz konkret Einfluss auf das Konzept des Lebens selbst, indem sie synthetische Organismen schafft, denen Eigenschaften fehlen, die genuin zu natürlichen Lebewesen gehören. Zum Beispiel wird die Fähigkeit zu evolvieren in manchen Organismen eingeschränkt, um ihre Robustheit in der industriellen Produktion zu steigern. Der potenzielle Einfluss der Synthetischen Biologie auf unsere Konzeption des Lebens und die Vielschichtigkeit des Lebensbegriffes jenseits seiner Verwendung in der Biologie wird bei der gesellschaftlichen Diskussion über die Synthetische Biologie häufig unterschätzt. In vielen Diskussionen über die Biotechnologie spiegelt sich ein Unbehagen wider, das Wissenschaftlern manchmal als irrational oder naiv aufstößt. In nicht seltenen Fällen stehen aber hinter diesem Unbehagen ernste Argumente, wie ein zu laxer Umgang mit dem Begriff und der gewachsenen Komplexität des Lebendigen oder die Befürchtung, dass den Forschern Goethes „Hexenmeister“ fehlt, der synthetische Organismen „zur Ordnung rufen“ kann. In einem problemorientierten Diskurs über die gesellschaftlichen Folgen der Synthetischen Biologie sollte demnach der Einfluss der Synthetischen Biologie auf das Konzept des Lebens berücksichtigt und aus der Wissenschaft hinaus in einen allgemein gesellschaftlichen Diskurs hineingetragen werden.
Margret Engelhard, geboren 1969 in Bonn, Biologin, Europäische Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen Bad Neuenahr-Ahrweiler.
Literatur
Georg Toepfer: „Der Begriff des Lebens“, in: Philosophie der Biologie, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005.