Asset-Herausgeber

von C. Katharina Spieß

Antworten auf Bildungsungleichheit

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Immer wieder werden das Thema ungleicher Bildungschancen und die zunehmende Polarisierung im deutschen Bildungswesen diskutiert. Dabei wird vielfach auf die Ergebnisse von PISA-Studien verwiesen, die seit vielen Jahren belegen, dass die Leistungen der getesteten fünfzehnjährigen Schülerinnen und Schüler in Deutschland mehr als in anderen westlichen Industrienationen vom Bildungsniveau ihrer Eltern abhängen. Darauf aufbauend wird diskutiert, wie Schulen diese Ungleichheiten abbauen können.

Vielfach wird dabei jedoch vergessen, dass Ungleichheiten im Bildungswesen in einer Vielzahl von Bildungsbereichen auftreten. So sind sie bei der Nutzung von Ganztagsangeboten im Grundschulbereich, bei der Inanspruchnahme bildungsorientierter Freizeitangebote, bei der Nutzung von Nachhilfeangeboten oder dem Besuch von Privatschulen festzustellen. Auch der Bereich der frühen Bildung weist große Ungleichheiten auf, und ebenso sind sie im Übergang auf ein Gymnasium oder eine Hochschule zu finden. Hinzu kommt, dass sich in vielen Bereichen die Unterschiede zwischen den Gruppen über die Zeit vergrößert haben.

Betrachtet man den Privatschulbereich, so zeigt sich, dass die Privatschulnutzung von Schülerinnen und Schülern aus bildungsnahen Haushalten stärker zugenommen hat als die anderer Gruppen. Damit wird die soziale Selektion zwischen privaten und öffentlichen Schulen immer größer – ein in den Medien vielfach diskutierter Befund. Und dies, obwohl im Mittel aller Schülerinnen und Schüler „nur“ etwa jedes elfte Kind eine Privatschule besucht, auch wenn die Tendenz steigend ist.

Andere Bereiche des Bildungswesens, von denen viel mehr Kinder betroffen sind, stehen dabei weniger im Fokus der Debatten um die zunehmenden Bildungsungleichheiten. Dies gilt insbesondere für den Bereich bildungsorientierter Freizeitaktivitäten (wie etwa Musikunterricht, sportliche Aktivitäten im Verein), welche – so empirische Befunde – die Entwicklung von Kindern nachweislich fördern können. Es lässt sich nachweisen, dass bildungsorientierte Freizeitbeschäftigungen für über sechzig Prozent aller Sechzehnjährigen eine Bedeutung haben. Deren Nutzung hängt stark vom sozioökonomischen Status der Eltern ab. Obwohl die Inanspruchnahme dieser Freizeitbeschäftigungen über alle sozioökonomischen Gruppen hinweg anstieg, haben sozioökonomische Unterschiede nicht abgenommen. Im Hinblick auf die Bildung der Mutter zeigt sich sogar, dass Unterschiede zwischen besser und schlechter gestellten Familien weiter auseinanderdrifteten. Kinder aus sozioökonomisch schlechter gestellten Haushalten sind somit doppelt benachteiligt, da sich im Durchschnitt weniger günstige Bedingungen zu Hause, in der Schule und in der Freizeit gegenseitig verstärken können.

 

Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern

 

Allerdings sind auch Bereiche im Bildungswesen festzumachen, in denen mit dem Ausbau von Bildungsangeboten zwar keine Zunahme sozioökonomischer Unterschiede einhergingen, diese Unterschiede allerdings gleichwohl existieren, so zum Beispiel im Bereich der ganztägigen Betreuung von Grundschulkindern. Insgesamt ist der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die ganztägig zur Schule gehen, in den letzten Jahren stark gestiegen. Maßgeblich dazu beigetragen hat das Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ des Bundes. Vor allem Kinder vollzeiterwerbstätiger Mütter und von Alleinerziehenden gehen verstärkt in Ganztagsschulen. In Westdeutschland gehen Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder aus Transferempfängerhaushalten häufiger in eine Ganztagsschule als die entsprechenden Vergleichsgruppen. Mit dem Ausbau der Ganztagsschulen besuchen zudem auch Kinder aus einkommensschwachen Haushalten verstärkt diese Schulen. Somit ist in diesem Bereich eher eine Abnahme sozioökonomischer Unterschiede festzumachen. Es ist eine empirische Frage, wie sich diese weiter entwickeln werden, wenn der geplante Rechtsanspruch auf eine ganztägige Betreuung von Grundschulkindern eingeführt ist. Inwiefern die ganztägigen Schulangebote dann tatsächlich Leistungsunterschiede zwischen den sozioökonomischen Gruppen reduzieren können, ist primär eine Frage der pädagogischen Qualität dieser Angebote – die unbestritten entsprechend hoch sein muss, um dieses Ziel zu erreichen.

 

Bezahlte Nachhilfeangebote

 

Ein weiterer Bereich, bei dem nicht über alle Merkmale hinweg eine Zunahme sozioökonomischer Unterschiede festzustellen ist, ist der Bereich der bezahlten Nachhilfe. Immerhin nutzten 2013 insgesamt achtzehn Prozent aller Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe I bezahlte Nachhilfeangebote.

Auch diese Inanspruchnahme hat stark zugenommen. Haushalte mit überdurchschnittlichem Einkommen nutzten diese Nachhilfeangebote am häufigsten, allerdings haben sich die Unterschiede über die Zeit verringert: Auch Schülerinnen und Schüler aus Familien mit unterdurchschnittlichem Einkommen nehmen inzwischen verstärkt Nachhilfe in Anspruch – wenngleich ihr Anteil immer noch geringer ist als bei den anderen Gruppen. Inwiefern Nachhilfeleistungen tatsächlich zu einer Verbesserung von Bildungsergebnissen führen, ist auch hier primär eine Frage der Qualität der Leistung.

 

Kita-Nutzung

 

Ein zentraler Bildungsbereich, von dem nahezu alle Kinder betroffen sind, ist der Bereich der frühen Bildung in Kindertageseinrichtungen (Kita). Lediglich etwa drei Prozent aller Kinder besuchen niemals eine Kita – und trotzdem wird bei der Diskussion von Bildungsungleichheiten oftmals vergessen, den Blick auf diesen Bereich zu richten. Dies ist insofern überraschend, als zahlreiche bildungsökonomische internationale und nationale Studien belegen, dass eine qualitativ gute Kita insbesondere die Bildungschancen und die Entwicklung von Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Familien positiv beeinflussen kann.

Allerdings zeigt sich, dass im Bereich der Nutzung von Kitas bei Kindern unter drei Jahren die sozioökonomischen Unterschiede mit dem „U3-Ausbau“ eher zu- als abgenommen haben. Haben Mütter eine geringere Bildung oder beide Eltern einen Migrationshintergrund, dann besuchen ihre Kinder in den ersten drei Lebensjahren seltener eine Kita. Betrachtet man die Kita-Nutzungsquoten im Bereich der unter Dreijährigen, so zeigt sich, dass Kinder von Akademikerinnen hier am häufigsten vertreten sind. Außerdem ist der Anteil der Kita-Kinder in dieser Gruppe von gut 25 auf knapp fünfzig Prozent gestiegen (2003 auf 2016). Der Anstieg bei anderen Gruppen war geringer. Auch der ab Mitte 2013 gültige Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz ab dem zweiten Lebensjahr hat diese Unterschiede nicht abgeschwächt.

Für den Bereich der älteren Kinder sind geringere Unterschiede in der Nutzung festzumachen, da nahezu alle Kinder dann eine Kita besuchen. Allerdings haben hier die Nutzungsunterschiede im Bereich des ganztägigen Kita-Besuchs zugenommen. Auch hier erfolgte ein starker Ausbau, von dem aber insbesondere einkommensstärkere Haushalte profitierten, indem sie bei den Nutzungsquoten ganztägiger Angebote aufgeholt haben. Hinzu kommt der empirische Nachweis, dass es im Hinblick auf die Kita-Qualität auch sozioökonomische Unterschiede gibt: Kinder, deren Mütter ein geringeres Bildungsniveau haben, und Kinder mit Migrationshintergrund sind im Durchschnitt in Kitas einer geringeren Qualität als andere Kinder. Auch dies kann massiv zu weiteren Bildungsungleichheiten beitragen.

 

Spät „reparieren“ wird teuer

 

Unbestritten ist, dass in zahlreichen Bereichen Bildungsungleichheiten existieren, die sich gegenseitig bedingen und kumulieren. Festzuhalten ist auch, dass die Bildungswissenschaften seit vielen Jahren Evidenz dafür vorlegen, dass es sehr effektiv und auch effizient ist, wenn diese Bildungsungleichheiten bereits im frühen Alter so weit wie möglich behoben werden – denn es kommt eine Gesellschaft und Familien teurer, später das zu „reparieren“, was frühkindlich verpasst wurde. Dabei ist es wichtig, zielgruppenspezifisch anzusetzen und nicht im Gießkannenprinzip öffentliche Ressourcen auszugeben.

Für den zentralen Bereich der frühen Bildung in Kindertageseinrichtungen heißt dies, dass zunächst die unterschiedlichen Gründe für die Nichtnutzung von Angeboten identifiziert werden müssen. Einschlägige Analysen belegen beispielsweise, dass Mütter mit einer geringeren Bildung seltener Kita-Plätze in Anspruch nehmen wollen als besser gebildete. Wollen weniger gebildete Mütter ihr Kind allerdings in einer Kita betreuen lassen, wird ihnen dieser Wunsch seltener erfüllt als besser gebildeten Müttern – sie sind entsprechend stärker rationiert. Dementsprechend würde ein weiterer Kita-Ausbau im Bereich der unter Dreijährigen diese bildungsbezogenen Nutzungsunterschiede verringern. Bei Familien, deren beide Elternteile einen Migrationshintergrund haben, sind die Hintergründe andere. Hier gibt es keine Unterschiede im Betreuungswunsch. Allerdings werden Betreuungswünsche von Eltern mit Migrationshintergrund noch seltener erfüllt. Dies scheint nicht nur mit einer zu geringen Zahl von Kita-Plätzen zu tun zu haben: Vielmehr geben Familien mit Migrationshintergrund an, Kitas zu suchen, bei denen zum Beispiel mehrsprachige Erzieherinnen/Erzieher beschäftigt sind oder die eine – in ihrer Wahrnehmung – gute Qualität haben. Dies verdeutlicht, wie wichtig eine zielgruppenspezifische Ausrichtung von Maßnahmen ist, um die Teilhabe bei der Betreuung von unter Dreijährigen zu verbessern.

 

Informationsdefizite verringern

 

Auch für den Bereich der älteren Kita-Kinder zeigt sich, dass mit dem „Gute-Kita-Gesetz“ insbesondere auch die Qualitäten von Einrichtungen verbessert werden müssen, die überdurchschnittlich viele Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien haben. Außerdem existieren Informationsdefizite in vielen Bereichen – dies betrifft das Wissen um die Bedeutung einer guten frühen Bildung, über den Zugang zu Kindertageseinrichtungen, über entsprechende Unterstützungsangebote und vieles mehr.

Insgesamt steht fest, dass dem Bereich der frühen Bildung noch mehr Bedeutung beigemessen werden muss – denn so könnten vielfach Bemühungen zu einem späteren Zeitpunkt reduziert werden, da Bildungsungleichheiten bereits vor Schulbeginn verringert würden. Hierzu ist neben dem genannten Ausbau im Bereich der Quantität und Qualität insbesondere eine gute Ausbildung und Weiterqualifizierung der pädagogischen Fachkräfte notwendig. Auch eine höhere Entlohnung dieser Berufsgruppe ist wichtig, wenn mehr Fachkräfte für diesen zentralen Bildungsbereich gewonnen werden sollen. Denn nicht zuletzt die mit Corona verbundenen Herausforderungen zeigen, wie systemrelevant diese Berufsgruppe und dieser frühe Bildungsbereich ist.

Und „last but not least“ können diese Ansätze den Polarisierungstendenzen im Bildungsbereich entgegenwirken. Dies wiederum kann gesellschaftlichen Kulturkämpfen und Polarisierungen in anderen Bereichen, wie dem des Arbeitsmarkts, der Gesundheit, des Demokratieverständnisses und vielem mehr, entgegenwirken. Denn eines haben zahlreiche empirische Studien ebenfalls gezeigt: Bildung hat viele Erträge, nicht nur monetäre, sondern auch zahlreiche nicht monetäre – für jeden Einzelnen und die Gesellschaft als Ganzes!

 

C. Katherina Spieß, geboren 1966 in Karlsruhe, Leiterin der Abteilung Bildung und Familie, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung e.V. (DIW Berlin), Professorin für Bildungs- und Familienökonomie, Freie Universität Berlin.

 

Literatur

Görlitz, Katja / Spieß, C. Katharina / Ziege, Elena: Fast jedes zehnte Kind geht auf eine Privatschule: Nutzung hängt insbesondere in Ostdeutschland zunehmend vom Einkommen der Eltern ab, DIW Wochenbericht, Nr. 51/52/2018, S. 1103–1111.

Hille, Adrian / Arnold, Annegret / Schupp, Jürgen: Freizeitverhalten Jugendlicher: bildungsorientierte Aktivitäten spielen eine immer größere Rolle. DIW Wochenbericht, Nr. 40/2013, S. 15–25.

Hille, Adrian / Spieß, C. Katharina / Staneva, Mila: Immer mehr Schülerinnen und Schüler nehmen Nachhilfe, besonders in Haushalten mit mittleren Einkommen, DIW Wochenbericht, Nr. 6/2016, S. 111–112.

Jessen, Jonas / Spieß, C. Katharina / Waights, Sevrin / Judy, Andrew: Gründe für unterschiedliche KitaNutzung von Kindern unter drei Jahren sind vielfältig, DIW Wochenbericht, Nr. 14/2020, S. 267–275.

Marcus, Jan / Nemitz, Janina / Spieß, C. Katharina: Ausbau der Ganztagsschule: Kinder aus einkommensschwachen Haushalten im Westen nutzen Angebote verstärkt, DIW Wochenbericht, Nr. 27/2013, S. 11–23.

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