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Über die Schwierigkeiten des Bildungsföderalismus

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Bildungsföderalismus – das klingt inzwischen wie ein Schimpfwort! Wenn man es hört oder liest und die Reaktionen darauf in der Öffentlichkeit beobachtet, überwiegen die negativen Konnotationen. Der sogenannte „Bildungsföderalismus“ ist in den letzten Jahren, zumindest seit PISA, belastet worden – mit unendlichen Diskussionen, bildungspolitischem Hin und Her in den Schulen, mit Einigungen auf kleinem Nenner einerseits, andererseits verknüpft mit hohen Erwartungen an Qualität, an Chancengerechtigkeit, an internationale Wettbewerbsfähigkeit und der damit verbundenen Hoffnung von Eltern und Kindern auf eine hohe und immer höhere Lebensqualität, auf beruflichen Erfolg, ja, auf Lebensglück. Diese Kluft erscheint und ist tatsächlich unüberbrückbar. Die politische Realität unseres Bildungssystems ist nun allerdings nur so kompliziert wie das System selbst. Alle Erwartungen und Hoffnungen einzulösen, ist prinzipiell unmöglich.

Es ist also an der Zeit, dafür Sorge zu tragen, dass die föderale Struktur Deutschlands – die Grundlage unserer Bildungspolitik und einer damit verbundenen Machtverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen – als allgemeiner Vorteil anerkannt wird und die negativen Konnotationen allmählich verschwinden. Dazu gehört dann auch, dass die individuellen Erwartungen, die auf unserem Bildungssystem liegen, von den Bürgern in Bezug auf ihre eigene Person und die eigenen Kinder realistisch eingeschätzt werden und die Bildungspolitik ihrerseits endlich aufhört, Hoffnungen zu machen, die sie nicht wirklich einlösen kann. Der Staat selbst leistet der Vorstellung Vorschub, seine Schulen hätten die individuellen Probleme zu verantworten und Abhilfe zu schaffen. Das jüngste Beispiel ist das Thema „Inklusion“. Die daraus resultierenden Enttäuschungen als Folge unrealistischer Hoffnungen sind nicht gerade eine hilfreiche Beigabe für den Beginn des beruflichen Lebensweges nach Schule und Studium.

 

Das Dilemma

Ist es möglich, das Dilemma aufzulösen – zwischen komplexer Struktur von Bildung in Länderverantwortung und dem offenkundigen Scheitern aller Versuche, das Bildungssystem insgesamt in ein klareres und allgemein akzeptiertes Fahrwasser zu bringen? Unter den jetzigen Rahmenbedingungen wohl nicht.

- Es ist keine Lösung, dem Zentralstaat die Verantwortung für Schulen und Hochschulen zu übertragen, auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung das wünscht. Er würde es mit Sicherheit nicht besser machen. Die Proteste jeweils einiger der betroffenen Regionen sind absehbar. Man stelle sich einmal vor, die Lehrpläne für bayerische Schulen würden in Berlin gemacht!

- Die Verfassung hat die „Kulturhoheit“ der Länder mit Blick auf Gleichschaltung im Nationalsozialismus aus gutem Grund stark gemacht; die föderale Struktur steht nicht zur Debatte. Mit ihr verbunden ist auch die Konsequenz, dass es nur Einstimmigkeit und keine Mehrheitsentscheidungen im Bildungsbereich mit Relevanz für die Länderhaushalte geben kann. Das ist eine der Grenzen der Kultusministerkonferenz.

- Schulthemen dienen nach wie vor der Profilierung der Parteien, wenn es um Landtagswahlen geht; vor allem der Opposition. Die Elternschaft reagiert außerordentlich empfindlich, wenn sie den Eindruck hat, dass die Chancen ihrer Kinder beeinträchtigt werden könnten. Mit Schulthemen kann man nur verlieren, Wahlen aber nicht gewinnen. Die Landespolitik wird den Schulbereich jedenfalls nicht aus ihrer Verantwortung entlassen dürfen und wollen. Und Wissenschaft und Forschung genießen eh’ nicht die politische Aufmerksamkeit, die sie verdienten.

- Die jetzigen Gremien, die die Länder geschaffen haben, um ein Mindestmaß an Einheitlichkeit im Bildungswesen zu gewährleisten, also die Kultusministerkonferenz und die Gemeinsame Wissenschaftsministerkonferenz, können sich nicht reformieren, weil die Länder sie gar nicht stark haben wollen. Die Einstimmigkeit bei den zentralen haushaltsrelevanten Entscheidungen ist eine Grenze. Aber auch alle Versuche, die Kultusministerkonferenz zu stärken, zum Beispiel durch eine verlängerte Amtszeit des Vorsitzenden wie in der Schweiz, oder eine Aufwertung des Amts des Generalsekretärs, sind gescheitert. Der jährliche, auf Ewigkeit festgelegte Wechsel im Vorsitz verhindert, dass ein Minister von 16 bis 25 (ohne den Kulturbereich) sich auch nur als Sprecher der Länder in der Öffentlichkeit profilieren kann. Die Kultusministerkonferenz bleibt also „gesichtslos“ und bietet sich auch aus diesem Grunde als abstrakter Prügelknabe für jedes schulische Misslingen an. Wobei Länder auch selbst gern die Kultusministerkonferenz zum Prügelknaben machen, um von ihrer eigenen Verantwortung abzulenken.

Wenn also Verfassung[1] und politische Praxis Veränderungen verhindern, bleibt nur, ein qualitativ neues Format zu entwickeln, das geeignet ist, erstens auf identischer verfassungsrechtlicher Grundlage die Probleme des Bildungsbereichs, die einer allgemein geltenden Rahmung bedürfen und sich für eine Rahmung eignen, aufzunehmen, zweitens Empfehlungen für deren Lösung zu formulieren und drittens so zu behandeln und zu vertreten, dass sie von einer breiten Öffentlichkeit auch akzeptiert werden.

 

Der Nationale Bildungsrat – eine Lösung?

Der Nationale Bildungsrat, den viele wünschen und den bestimmt ebenso viele für unrealisierbar halten, ist ein solch neues Format für Empfehlungen und Entscheidungen im Schulbereich. Der Bundesparteitag der CDU hatte sich für diese Legislaturperiode für einen Nationalen Bildungsrat entschieden. Im Wahlprogramm und bei den Koalitionsverhandlungen tauchte er dann nicht mehr auf. Er war wohl den Akteuren auf der CDU-Bildungsseite zu konfliktträchtig – schon deshalb, weil die Mehrzahl der Länder einen Bildungsrat selbstverständlich nicht will, denn er würde die Bundesseite bei Entscheidungen substanziell einbeziehen. Und von der will man zwar möglichst viel Geld, aber unkonditioniert, mit der Freiheit also, darüber so zu verfügen, wie man es selbst für richtig hält. Ein neues Format wie ein Bildungsrat könnte ja unbequeme vereinheitlichende Empfehlungen abgeben, die politischen Druck ausüben und ihre Umsetzung erzwingen. Von den Ländern hat sich einzig und allein die Ministerpräsidentin des Saarlandes, Annegret Kramp-Karrenbauer – die, nebenbei bemerkt, auch für einen Nationalen Bildungsrat eintritt –, für die Zweckbindung der Bundesmittel ausgesprochen.

Für Wissenschaft und Forschung gibt es seit 1957 den Wissenschaftsrat. Er arbeitet höchst erfolgreich und ist ein geeignetes Vorbild für den Nationalen Bildungsrat.[2] Der Bildungsrat wäre kein zusätzlicher „Arbeitskreis“, sondern eine neue Qualität im Zusammenwirken von Bund, Ländern und Kommunen, also von den Verantwortlichen für den Schulbereich, von Wissenschaftlern sowie in Wirtschaft und Schule erfahrenen Personen mit hohem öffentlichem Ansehen.

Im „Plädoyer für einen Nationalen Bildungsrat“ der Bosch Stiftung sind hinreichende Gründe für seine Notwendigkeit benannt: ein nach wie vor vorhandenes Leistungsdefizit, festgestellt in nationalen und internationalen Vergleichen, ein Gerechtigkeitsdefizit, das man am engen Zusammenhang von Bildung und sozialer Herkunft ablesen kann, und ein Steuerungsdefizit, das sichtbar wird, wenn man beobachtet, welche Schwierigkeiten bestehen, auf Probleme im Bildungsbereich angemessen und nachhaltig zu reagieren. Wenn man diese Defizite weiter beheben will, bedarf es eines Mehr an vereinheitlichenden Strukturrahmungen für das Bildungssystem Deutschlands, ohne dass dabei die Verantwortung der Länder angetastet würde. Solche Strukturrahmen sind möglich und notwendig:

- Hinsichtlich des Zusammenwirkens der verantwortlichen staatlichen Instanzen sowohl vertikal als horizontal. Also in Bezug auf Bund, Länder und Kommunen als auch der verschiedenen Ressorts auf Bundes- und Landesebene (Bildung und Soziales, Jugend und Familie, Wirtschaft und Wissenschaft, Arbeit und Finanzen) könnte dieses Mehr an Kooperation nutzbar gemacht werden.

- Hinsichtlich des Bildungssystems selbst bei den Bezeichnungen und der Ordnung der Schulformen, Abschlüsse und Qualitätskriterien. Man muss davon ausgehen, dass gerade einmal das Sekretariat der Kultusministerkonferenz die Vielzahl von Bezeichnungen und Formen übersieht. Eltern, die den Wohnsitz über die Landesgrenze hinaus verlegen wollen, stehen dem hilflos gegenüber.

- Hinsichtlich der Finanzierungsverantwortung von Bund, Ländern und Kommunen. Ein Nationaler Bildungsrat könnte Empfehlungen abgeben, die eine gemeinsame Finanzierung von Projekten im Bildungsbereich ermöglichen. Wenn die Verteilung von Geld von einer Empfehlung des Nationalen Bildungsrats abhängig gemacht wird, gewinnt er zusätzlich an Bedeutung.

- Hinsichtlich von Maßstäben für Kompetenz und Professionalität des pädagogischen Personals auf allen Ebenen, also für Lehrer, Erzieher in Kindertagesstätten und Sozialarbeiter.

- Hinsichtlich einer kontinuierlichen Beobachtung der bereits heute wirksamen Maßnahmen der Länder zur Standard- und Qualitätssicherung. Eine reflektierte Beobachtung samt Berichterstattung könnte helfen, auf unerwünschte Folgen bildungspolitischer Programme aufmerksam zu machen. Hierzu zählt auch die Notwendigkeit eines Gedächtnisses der historischen Entwicklung des deutschen Bildungssystems. Im Augenblick existiert es politisch nur im Sekretariat der Kultusministerkonferenz, einer reinen Dienstleistungseinrichtung der Länder und neuerdings nachgeordneten Behörde des Landes Berlin ohne eigenen bildungspolitischen Auftrag. Der rasche Wechsel der politisch und staatlich verantwortlichen Personen macht vieles vergessen, was besser im Bewusstsein der Bildungspolitik bliebe. Nur mit Gedächtnis lässt sich aus Fehlern lernen.

 

Vorbild Wissenschaftsrat

Wenn man den Wissenschaftsrat als Vorbild nimmt, muss deutlich sein, warum und in welchen Grenzen. Das Geheimnis der Wirksamkeit des Wissenschaftsrats liegt in seiner Eigenschaft als Konsensorgan. Der Bildungsrat ist analog zu konzipieren. Die Wissenschaftliche Kommission besteht aus Wissenschaftlern und Experten aus der Bildungspraxis sowie Personen mit hoher Reputation, die aus ganz verschiedenen Bereichen (zum Beispiel der Wirtschaft, Presse) kommen. Grundsätzlich gehören ihr keine Funktionäre oder Interessenvertreter von Bildungseinrichtungen, Lehrerverbänden und Gewerkschaften qua Amt an. Die Verwaltungskommission besteht aus den zuständigen Ministern von Bund und Ländern und Vertretern der Kommunen.[3] Die staatlich Verantwortlichen sind also in die Entscheidung eingebunden und können sich ihr nicht entziehen, ohne politischen Schaden zu nehmen. Dafür sorgt die öffentliche Aufmerksamkeit, die bei Schulthemen noch einmal entschieden stärker und folgenreicher ist als bei Themen aus Wissenschaft und Forschung. Hierin besteht der wesentliche Unterschied zum Deutschen Bildungsrat von 1969, in den sich die Staatsseite nicht hat einbeziehen und damit auch nicht einbinden lassen.

Bildungsrat und Wissenschaftsrat würden die gesamte Bildungskette vor Augen haben können. Als Konsensorgane brächten sie Expertise aus Wissenschaft, Praxis der Schulen und anderen gesellschaftlich wichtigen Bereichen in ihren Empfehlungen an einem mit klaren Regeln versehenen und politisch sichtbaren Ort zusammen.

Die Bundesrepublik Deutschland braucht als rohstoffarmer Staat ein qualitativ hochwertiges, international wettbewerbsfähiges und chancengerechtes Bildungssystem. Wissenschaft und Forschung sind ihrer Natur nach auf Internationalität angewiesen und haben Maßstäbe entwickelt, um sich an höchster Qualität orientieren zu können. Das ist in Deutschland den Universitäten und Forschungseinrichtungen weitgehend gelungen. Defizite sind kenntlich, zum Beispiel beim „Kooperationsverbot“, bei der Finanzausstattung und sicher auch bei den Entscheidungsstrukturen von Universitäten. Der Bildungsbereich ist auf dem Weg zur Besserung. Er hat inzwischen Maßstäbe, aber noch keine für Deutschland geltenden, durchgreifenden und allgemein akzeptierten Konzepte. Er würde seinen Weg leichter gehen können, wenn er auf Empfehlungen eines Nationalen Bildungsrats zurückgreifen könnte.


Erich Thies, geboren 1943 in Rotenburg (Wümme), Staatssekretär a. D., von 1998 bis 2011 Generalsekretär der Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland.

 

[1] Das Bundeskabinett hat inzwischen einen Gesetzentwurf zur Änderung des Artikels 91b GG beschlossen. Dadurch kann der Bund zukünftig Hochschulen langfristig fördern.
[2] Vgl. „Plädoyer für einen Nationalen Bildungsrat“, Robert Bosch Stiftung, Stuttgart 2012. Thies, Erich, „Festhalten oder Verändern? Gedanken über die Notwendigkeit, nach neuen Wegen in der Bildungspolitik zu suchen“. RdJB 3/13, S. 246–255. Brautmeier, Mirjam, „Die Zukunft des Bildungsföderalismus in Deutschland“. Phil. Diss. Berlin 2013.
[3] Einzelheiten zu Benennungsverfahren und Zuordnung siehe „Plädoyer für einen Nationalen Bildungsrat“, Robert Bosch Stiftung, Stuttgart 2012.

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