Unter dem Motto „Mutiger, einfacher, schneller“ steht das im Februar 2025 vorgelegte Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission, das die von Ursula von der Leyen vorgestellten Politischen Leitlinien 2024–2029 präzisiert. Besondere Bedeutung misst das Arbeitsprogramm der Steigerung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit, dem Bürokratieabbau, der Sicherheit und Verteidigung, Migration, Digitalisierung und Innovation sowie der Stärkung des globalen Einflusses der Europäischen Union bei. Die Neugewichtung ihrer Prioritäten hat im politischen Brüssel zu einer Debatte geführt, die um die Frage kreist, wie viel Kontinuität und Veränderung in den nächsten Jahren zu erwarten sind.
Dies gilt beispielsweise für die Green Deal-Initiative, die als Reaktion auf die Europawahl 2019 und die öffentliche Aufmerksamkeit, die die Klimaschutzbewegung Fridays for Future erregt hatte, erarbeitet worden war. Die Europäische Union setzte sich seinerzeit ambitionierte Ziele: bis 2050 erster klimaneutraler Kontinent zu werden, bis 2030 CO₂-Emissionen um mindestens 55 Prozent – im Vergleich zu 1990 – zu reduzieren, Biodiversität zu fördern, dennoch nachhaltig zu wachsen und dabei niemanden zu benachteiligen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine im Februar 2022 rückte die Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie die Verminderung kritischer Abhängigkeiten auf die Prioritätenliste.
In Brüssel ist derzeit vom Green Deal zunehmend in der Vergangenheitsform die Rede; die Zeichen stehen auf Wettbewerbsfähigkeit. Statt „green“ steht nun der „deal“ im Vordergrund. Nach der Europawahl 2024 manifestierte sich die Erkenntnis, dass die überzogenen Erwartungen an das Green Deal-Narrativ und die Hoffnung auf „grünes Wachstum“ enttäuscht worden waren. Offensichtlich wurde, dass eine schnelle Dekarbonisierung „zum Nulltarif“ – bei gleichzeitiger Reduzierung von Abhängigkeiten insbesondere im Energiesektor – und ohne negative Konsequenzen für die europäische Industrie, Einschränkungen im täglichen Leben und tiefgreifende soziale Folgewirkungen unrealistisch war.
Bereits zu Beginn des neuen Mandats zeichnete sich der Prioritätenwechsel zu Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit ab. Erwähnenswert sind hier die Antwerpener Erklärung[1] verschiedener Unternehmensvertreter und die Berichte des ehemaligen italienischen Premierministers Enrico Letta zur Stärkung des Binnenmarktes[2] sowie des ehemaligen Präsidenten der Europäischen Zentralbank Mario Draghi zur Wettbewerbsfähigkeit. [3] Den dort enthaltenen Forderungen und Empfehlungen schloss sich der Europäische Rat mit der Ausrufung eines „europäischen Wettbewerbsdeals“ an. [4] Der politische Fokus liegt gegenwärtig auf einer nachhaltigen, wettbewerbsfähigen und resilienten europäischen Wirtschaft, die eine Grundlage für eine wehrhafte Europäische Union bildet. Während mit Blick auf die Ziele der letzten Amtsperiode der Europäischen Kommission weitgehend Kontinuität festzustellen ist, führt die Neuausrichtung dazu, den Weg zur Zielerreichung flexibler, schneller und pragmatischer zu gestalten.
Die nichtlegislative Initiative Clean Industrial Deal (CID) ist ein Versuch, die bisherige Nachhaltigkeitsagenda mit der neuen Agenda der Wettbewerbsfähigkeit in Einklang zu bringen.[5] Sie geht vor allem auf die schwierige Lage energieintensiver Industriezweige wie der Stahl-, Metall- und Chemieindustrie ein, die unter hohen Produktionskosten in Europa und den sich verschlechternden globalen Marktbedingungen leiden. Außerdem sollen Zukunftstechnologien zusätzlich gestärkt werden. Hauptelemente des CID sind die Senkung der Energiekosten, die Förderung nachhaltiger Zukunftstechnologien, eine optimierte Finanzierung, die bessere Verfügbarkeit von Rohstoffen, eine pragmatischere Handelspolitik und die Förderung von Humankapital. Während diese Elemente recht grob gefasst sind, ist in den wie folgt erläuterten fünf Handlungsfeldern eine deutliche Veränderung sichtbar.
Zunächst arbeitet die Europäische Kommission an einer Reihe sogenannter Omnibus-Gesetzesinitiativen.[6] Sie sollen die bestehende Gesetzgebung vereinfachen (simplification), um die Bürokratieanforderungen für Unternehmen zu verringern und die bestehende Gesetzgebung an die neue Priorität – Wettbewerbsfähigkeit – anzugleichen (implementation). Das erste Omnibuspaket reduziert die Berichterstattungspflichten im Rahmen des europäischen Lieferkettengesetzes, der Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung sowie und der Taxonomie. Weitere Vereinfachungen sind bei dem Grenzausgleichsmechanismus, für mittelständische Unternehmen, für die Rüstungs- und Chemieindustrie, bei der Gemeinsamen Agrarpolitik und der Digitalgesetzgebung vorgesehen.
Hinzu kommt eine deutlich größere Offenheit für einen Dialogs mit wichtigen Industriezweigen. Bereits im Januar 2025 wurde ein strategischer Dialog mit der Automobilindustrie gestartet,[7] aus dem im März 2025 ein Aktionsplan hervorging. Zur Abwendung drohender Strafzahlungen aufgrund der CO₂-Flottengrenzwerte für die Automobilindustrie erhalten die Hersteller mehr Flexibilität bei Erreichung der bisher unveränderten Klimaziele: Sie können Strafzahlungen vermeiden, indem sie nicht erreichte Ziele durch eine Überkompensation in den kommenden Jahren erfüllen. Eine Überprüfung der CO₂-Flottengrenzwerte selbst steht noch bevor. Ein weiterer strategischer Dialog besteht mit der Stahl- und Metallindustrie, die mit einem Überangebot von Konkurrenzprodukten aus China zu kämpfen hat. Weitere Dialoge werden mit der Chemie-, Schiffs- und Luftverkehrsindustrie und anderen energieintensiven Branchen geführt.
In der Energiepolitik werden außer der primären Dekarbonisierung zunehmend auch andere Ziele bedacht. Der Aktionsplan der Europäischen Kommission für erschwinglichere Energie[8] setzt auf Kontinuität beim Ausbau der Europäischen Energieunion, beinhaltet jedoch auch Maßnahmen, um Energiepreise zu senken – beispielsweise durch die Reduktion nationaler Steuern und Abgaben. Bezüglich der Abhängigkeit von Energieimporten aus Russland ist es nach Angaben des Wissenschaftlichen Dienstes des Europaparlaments seit 2022 gelungen, diese erheblich zu verringern. Der russische Anteil an den gesamten EU-Einfuhren betrug 2024 19 Prozent des Erdgases und drei Prozent des Erdöls.[9] Anders ist es bei Uran-Importen (14 Prozent), der Uran-Umwandlung (23 Prozent) und der Uran-Anreicherung (24 Prozent), bei denen die Europäische Union immer noch teilweise von Russland abhängig ist. Im Fahrplan der Europäischen Kommission zur Einstellung der verbleibenden Energieimporte aus Russland werden die Mitgliedstaaten unter anderem aufgerufen, einen Plan zu erarbeiten, wie dies bis 2027 erfolgen könnte.
Auch in der Handelspolitik befindet sich die Europäische Union in einer Phase der Rekalibrierung. Der Handelskonflikt mit den USA birgt für die europäische Wirtschaft große Unsicherheiten. Zugleich hat diese negative Entwicklung zu einer erhöhten Aktivität der Europäischen Union bei den Verhandlungen über Freihandelsabkommen mit Drittstaaten geführt, im Zuge derer die Absicht besteht, sich mehr auf traditionelle Handelsthemen zu beschränken und Abkommen nicht mit nichttarifären Bedingungen zu überfrachten. Die Beziehungen zu China sind ebenfalls eine Herausforderung für die europäische Wettbewerbsfähigkeit. Kritische Abhängigkeiten bestehen bei wichtigen Vorprodukten für Zukunftstechnologien. Unfairer Wettbewerb belastet strategisch wichtige Wirtschaftssektoren wie die Automobilindustrie oder den Stahlsektor. Die Positionierung zwischen den USA und China ist gerade für Deutschland eine wichtige geopolitische Frage mit potenziell großen handels-, sicherheits- und wirtschaftspolitischen Auswirkungen.
Eine intensive Debatte wird zur Finanzierung einer wettbewerbsfähigeren und wehrhaften Europäischen Union geführt. Kurzfristig werden die Mittel unter dem bestehenden Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) der Europäischen Union oftmals zur Steigerung der regionalen Kohäsion herangezogen. Auch nationale Ausgaben können kurzfristig bei Zukunftsinvestitionen helfen. Für Juli 2025 wird erwartet, dass die Kommission einen Entwurf für den MFR 2028–2034 vorlegt. Dazu muss unter anderem geklärt werden, wie dieser strukturiert werden soll, welche sogenannten neuen Eigenmittel zur Finanzierung herangezogen werden sollen und wie die Mittel des im Zuge der COVID-19-Pandemie gegründeten Wiederaufbaufonds Next Generation EU zurückgezahlt werden sollen.[10] Fortschritte bei der Kapitalmarktunion können langfristig dazu beitragen, die Finanzierungsmöglichkeiten durch privates Kapital zu verbessern. Auch die weniger ambitionierte Spar- und Investitionsunion soll die Fragmentierung der 27 Kapitalmärkte verringern und Sparguthaben für Investitionen mobilisieren.
Insgesamt priorisiert der Clean Industrial Deal das Ziel einer „nachhaltigen, wettbewerbsfähigen und resilienten“ Europäischen Union. Überbordende Regelungen sollen abgebaut und die Wirtschaft mit mehr Flexibilität und Pragmatismus wieder in Schwung gebracht werden. Denn die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, die in einem engen Zusammenhang mit den anderen Prioritäten der Kommission steht, ist die „Grundlage für mehr Souveränität Europas“.[11]
Deutschland spielt bei der Ausgestaltung und Umsetzung der Wettbewerbsagenda der Europäischen Union eine wichtige Rolle. Die Ziele hat Bundeskanzler Friedrich Merz in seiner ersten Regierungserklärung benannt: „Wir werden Wettbewerbsfähigkeit zum Maßstab unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik machen […]. Und vor allem wollen wir den Strukturwandel, den wir Transformation nennen – hin zu modernen Technologien mit ressourcenschonender Energieversorgung, mit durchgreifender Digitalisierung, mit künstlicher Intelligenz und vielen weiteren Chancen –, ermöglichen und fördern.“[12]
Beatrice Gorawantschy, promovierte Politikwissenschaftlerin, seit 2024 Leiterin des Europabüros Brüssel der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Domien te Riele, Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, Referent im Europabüro Brüssel der Konrad-Adenauer-Stiftung.
[1] Die Antwerpener Erklärung für einen europäischen Industriepakt (Antwerp Declaration for a European Industrial Deal) ist eine Initiative von Unternehmen und Branchenverbänden, die einen Pakt fordern, um die Wettbewerbsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit der europäischen Industrie zu stärken. Die Erklärung wurde am 20.02.2024 von 73 führenden Unternehmen aus verschiedenen Branchen vorgestellt.
[2] Enrico Letta: Much more than a market – Speed, Security, Solidarity. Empowering the Single Market to deliver a sustainable future and prosperity for all EU Citizens, Brüssel, April 2024.
[3] European Commission: The Draghi report on EU competitiveness, September 2024.
[4] Europäischer Rat: Erklärung von Budapest zum Neuen Deal für die europäische Wettbewerbsfähigkeit, 08.11.2024.
[5] Europäische Kommission: Deal für eine saubere Industrie, 26.02.2025.
[6] Europäische Kommission: Simplification and Implementation, 2025.
[7] Europäische Kommission: Präsidentin Ursula von der Leyen startet strategischen Dialog mit der Automobilindustrie, 30.01.2025.
[8] Europäische Kommission: Aktionsplan für erschwingliche Energie, 26.02.2025.
[9] Europäisches Parlament: Beschleunigung des allmählichen Ausstiegs der EU aus Gas und anderen Energierohstoffen aus Russland, März 2025.
[10] KAS-Europabüro: Ratsbericht März 2025, 20.03.2025.
[11] Europäisches Parlament: Dr. Christian Ehler in der Debatte zum Clean Industrial Deal, 11.03.2025.
[12] Bundesregierung: Regierungserklärung von Bundeskanzler Friedrich Merz zur neuen Bundesregierung vor dem Deutschen Bundestag, Berlin, 14.05.2025.