Asset-Herausgeber

von Timo Wollmershäuser

Handlungsspielräume der Europäischen Zentralbank

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Seit der Weltfinanz- und Eurokrise war das Handeln der Europäischen Zentralbank (EZB) durch die Sorge bestimmt, dass sie ihr Zwei-Prozent-Inflationsziel dauerhaft verfehlen und damit ihre Glaubwürdigkeit verlieren könnte. Mit einer Reihe unkonventioneller Maßnahmen stemmte sie sich gegen notorisch niedrige Inflationsraten und sinkende Inflationserwartungen. Im vergangenen Jahr endete diese Phase schlagartig, und die Inflationsraten sprangen von knapp unter null Prozent im Dezember 2020 auf fast fünf Prozent ein Jahr später.

Die Hauptverantwortlichen für diesen kräftigen Anstieg der Verbraucherpreise waren schnell ausgemacht. Vor allem die außergewöhnlich niedrigen Preise im Vorjahr – als Folge der Absenkung der Mehrwertsteuer in Deutschland in der zweiten Jahreshälfte 2020 und des Einbruchs der Energiepreise während der Coronakrise – trieben die Vorjahresveränderungsraten nach oben. Nach der Normalisierung der Energiepreise und der Mehrwertsteuer sollten diese sogenannten Basiseffekte allerdings schnell auslaufen und die Post-Corona-Inflationsepisode nur ein temporäres Phänomen sein. Vor allem deshalb sah die Europäische Zentralbank keinen Handlungsbedarf.

Diese Einschätzung erwies sich als falsch. Vielmehr beschleunigte sich der Preisanstieg bis zum Frühjahr 2022 weiter, und mit knapp acht Prozent wurden Rekordraten erreicht. Zudem waren vom Preisanstieg mittlerweile nahezu alle Waren und Dienstleistungen des Warenkorbs, der der Messung der Inflationsrate zugrunde liegt, betroffen. Die Gründe für diese Fehleinschätzung waren vor allem die zu optimistischen Annahmen, die von den Prognostikern im Hinblick auf den weiteren Verlauf der Energiepreise und der Lieferengpässe von wichtigen Rohstoffen und Vorprodukten getroffen wurden.

Zum einen setzten die Energiepreise nach ihrer Normalisierung vom Corona-Einbruch den Aufwärtstrend fort und erreichten mit Beginn des Krieges gegen die Ukraine den höchsten Stand seit Jahrzehnten. Dies schlug sich unmittelbar in der Inflationsrate nieder, weil sich die Preise für Kraftstoffe, Heizöl, Erdgas und Strom, die mit etwa zehn Prozent der monatlichen Ausgaben eines Haushalts ein sehr hohes Gewicht im Verbraucherpreisindex haben, sehr eng an den Weltmarktpreisen der Energierohstoffe orientieren. Zum anderen überwälzten auch die Unternehmen die gestiegenen Energiekosten auf die Preise ihrer Endprodukte. Zusätzlich wurde die Produktion in vielen Wirtschaftsbereichen durch Lieferengpässe bei Agrar-, Industrie- und Baurohstoffen sowie bei Vorprodukten erheblich verteuert.

 

Homöopathische Zinsschritte

 

Anders als zunächst angenommen verschärften sich die Lieferengpässe im weiteren Verlauf des vergangenen Jahres und erreichten im Frühjahr 2022 mit dem Krieg in der Ukraine und den damit verbundenen Wirtschaftssanktionen gegen Russland sowie den Lockdowns in China neue Höchststände. Allerdings führten die Lieferengpässe nicht nur zu einem spürbaren Anstieg der Produktionskosten, sondern schränkten gleichzeitig die Produktion und damit das Angebot an Waren und Dienstleistungen ein.

Vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden inflationären Lage kündigte die EZB zu Jahresbeginn an, ihre geldpolitischen Zügel allmählich anzuziehen. Sie reduzierte die monatlichen Wertpapierankäufe und bereitete die Märkte auf ein baldiges Ende der Politik der quantitativen Lockerung sowie auf erste Leitzinsanhebungen vor. Die Kapitalmärkte setzten diese Zinswende sofort um, und zehnjährige deutsche Staatsanleihen rentierten im Februar erstmals seit Mitte 2019 wieder positiv. In Anbetracht der außergewöhnlich hohen Inflationsraten erschienen diese Schritte aber eher homöopathisch. So sanken die realen Kreditkosten, die sich nach Abzug der über die Laufzeit des Kredites erwarteten Inflationsraten vom Nominalzins ergaben, zum Teil deutlich. Nach gängiger Interpretation wurde die Geldpolitik der EZB dadurch spürbar expansiver und beschleunigte den Preisauftrieb und die Konjunktur, anstatt sie zu bremsen.

 

Angebotsgetriebene Inflationsepisode

 

Ob und in welchem Ausmaß eine Notenbank auf einen Anstieg der Inflationsrate reagieren sollte, hängt vor allem von dessen Ursachen ab. Es ist weitgehend unumstritten, dass eine Notenbank auf einen nachfrageseitig bedingten Preisanstieg während eines konjunkturellen Booms mit einem restriktiveren Kurs reagieren sollte. Solche Situationen werden typischerweise von einer kräftigen Ausweitung der Produktion und einem Rückgang der Arbeitslosigkeit begleitet. Steigende Löhne erhöhen die Kaufkraft der Konsumenten und treiben die Nachfrage nach allen Waren und Dienstleistungen, die sich im Warenkorb der Konsumenten befinden, an. In der Folge steigen die Verbraucherpreise. Durch die restriktivere Geldpolitik erhöhen sich die Kreditkosten und die Anlagezinsen, die Attraktivität der Verschuldung nimmt ab und die des Sparens zu, und am Ende werden sowohl der Nachfrage- als auch der Preisanstieg gedämpft. Allerdings war die Post-Corona-Inflationsepisode in Deutschland und im Euroraum zunächst nicht nachfrageseitig getrieben. Im Gegenteil: Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage war infolge der Coronawellen bis Jahresbeginn 2022 noch spürbar niedriger als vor Ausbruch der Coronakrise im Jahr 2019.

Vielmehr ist diese Inflationsepisode vor allem angebotsbeziehungsweise kostenseitig getrieben. Die geldpolitische Empfehlung fällt dabei schwerer, da die steigende Inflation mit sinkenden Produktionszuwächsen und einem Anstieg der Arbeitslosigkeit beziehungsweise Kurzarbeit einhergeht. Grundsätzlich sind Notenbanken in solchen Situationen einem Zielkonflikt ausgesetzt. Wollen sie primär den Inflationsanstieg bekämpfen, müsste die Geldpolitik restriktiver werden. Durch die steigenden Kreditkosten und höhere Anlagezinsen würde die gesamtwirtschaftliche Nachfrage gebremst werden. Damit würde die Notenbank eine weitere Abschwächung der gesamtwirtschaftlichen Produktion und eine weitere Verschlechterung der Arbeitsmarktsituation in Kauf nehmen. Je mehr eine Notenbank allerdings auch die gesamtwirtschaftliche Produktion und die Situation am Arbeitsmarkt in den Blick nimmt, desto weniger würde sie ihre Politik straffen und desto mehr würde sie die gestiegene Inflation tolerieren. Bei einer sehr geringen Präferenz für Preisstabilität könnte die Notenbank ihre Politik sogar lockern.

Hinter solchen Angebotsschocks stehen meist Änderungen des Preises einzelner Konsumgüter im Verhältnis zu den Preisen der übrigen Güter des Warenkorbes. Diese Relativpreise steigen beispielsweise, weil das Angebot des betroffenen Gutes knapper geworden ist. So wurde mit dem Krieg gegen die Ukraine deutlich, dass Russland künftig als Lieferant für Energie auf den Weltmärkten nicht mehr im gewohnten Umfang in Betracht kommt. Der Anstieg der Energiepreise ist daher als Signal dieser Knappheit zu interpretieren. Mit den weltweiten Lieferengpässen oder den Weltmarktpreisen für Getreide verhält es sich ähnlich. Es liegt auf der Hand, dass eine Notenbank mit ihren Instrumenten nichts gegen die Knappheit an sich tun kann. Vielmehr würde eine restriktivere Geldpolitik dazu beitragen, dass die Preise der übrigen (nicht knapper gewordenen) Güter sinken, um somit den vom Relativpreisanstieg ausgehenden Kaufkraftverlust auszugleichen. Der Preis dieser Politik wäre ein Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, eine Verschlechterung der Arbeitsmarktlage und eine Verringerung der Einkommen der Haushalte. Das knappe Gut bliebe im Vergleich zu den anderen Gütern teuer, nur könnte aufgrund des Einkommensrückgangs weniger davon (und von den anderen Gütern) gekauft werden.

 

Entwicklung der Inflationserwartungen

 

Notenbanker argumentieren vor dem Hintergrund dieser Ursachen des Inflationsanstiegs und des damit verbundenen Zielkonflikts, dass man durch solche Inflationsepisoden hindurchsehen müsse. Da selbst dauerhafte Relativpreisanstiege die Inflationsrate nur solange anheben würden, bis die Anpassung an den neuen Relativpreis abgeschlossen ist, sollte der Anstieg der Inflationsrate auch nur vorübergehend sein. Allerdings besteht die Gefahr, dass sich solche Relativpreisanstiege auf die Preise der anderen Güter übertragen und sich die Inflation ausbreitet. Ein zentraler Frühindikator hierfür sind die Inflationserwartungen, die sich an den Finanzmärkten sowie durch Unternehmen und Haushalte insbesondere für die Zeit nach dem erwarteten Abschluss der Relativpreisanpassung bilden. Denn diese Erwartungen spielen heute eine zentrale Rolle bei all jenen Verträgen, in denen künftige nominale Euro-Zahlungen vereinbart werden. Dazu zählen Tarifverträge, Kreditverträge und länger laufende Verträge über die Lieferung von Waren und Dienstleistungen. Nehmen diese längerfristigen Inflationserwartungen zu, steigen bereits heute die Produktionskosten, die von den Produzenten auf die Preise überwälzt werden.

Mit den steigenden Inflationsraten wurden seit Ende vergangenen Jahres die Annahmen über die weitere Entwicklung der Energiepreise und die Dauer der Lieferengpässe nach oben korrigiert und entsprechend die Prognosen für den weiteren Verlauf der Inflationsraten angehoben. Zu Jahresbeginn 2022 wurde erstmals von der Mehrheit der Prognostiker eine höhere Inflationsrate für das Jahr 2022 prognostiziert als im Vorjahr. Im Einklang mit den Prognosekorrekturen stiegen die Inflationserwartungen. Zum Handeln bewegt hat die EZB vermutlich, dass auch die längerfristigen Inflationserwartungen, die als Indikator für die Verankerung des Inflationsziels gelten, spürbar zulegten und im Frühjahr 2022 erstmals seit Einführung der gemeinsamen Währung Werte über zwei Prozent erreichten.

 

Verändertes Inflationsziel

 

Über die Ursachen und die Interpretation des Anstiegs der längerfristigen Inflationserwartungen kann man unterschiedlicher Meinung sein. Zum einen könnte dieser Anstieg eine Reaktion auf die Anpassung des Inflationsziels der EZB sein. Während sie bislang mittelfristig eine Inflationsrate von unter, aber nahe zwei Prozent anstrebte, formulierte die EZB ihr Ziel im vergangenen Jahr in ein symmetrisches Zwei-Prozent-Ziel um. Die damit verbundene Tolerierung von überschießenden Inflationsraten wurde vielfach als implizite Anhebung des Zielwertes verstanden. Vor dem Hintergrund der Sorgen der EZB in den Jahren vor der Coronakrise, dass sich die Inflationserwartungen nach unten vom Inflationsziel entkoppeln könnten, wäre der Anstieg der Inflationserwartungen somit zu begrüßen und sollte keine geldpolitischen Maßnahmen erfordern.

Zum anderen könnte sich im Anstieg der längerfristigen Inflationserwartungen auch widerspiegeln, dass die EZB bis dato zu zögerlich auf den Anstieg der Inflationsraten reagiert hat und damit die Sorge hervorrief, dass sie ihrem Preisstabilitätsziel keine Priorität mehr beimesse. Vielmehr könnte die EZB bei ihren Entscheidungen zunehmend die Solvenz hochverschuldeter Mitgliedstaaten im Euroraum im Blick haben. Immerhin würde eine allzu abrupte Zinswende die Finanzierungskosten in die Höhe treiben und damit die fiskalischen Spielräume einengen. Je höher der Schuldenstand eines Landes ist, desto stärker würde die Zinslast steigen und desto größer wäre das Risiko, dass die Finanzmärkte einem Staat das Vertrauen entziehen. Der Anstieg der Risikoprämien seit Ende des Jahres 2021 ist bereits ein erstes Indiz in diese Richtung. Eine solche fiskalisch dominierte Notenbank würde langfristig die Kontrolle über das Inflationsziel verlieren, da der Anstieg des gesamtwirtschaftlichen Preisniveaus sich letztlich nur an der Zahlungsfähigkeit der hochverschuldeten Mitgliedstaaten orientieren würde.

Welche Prioritäten die Europäische Zentralbank derzeit setzt, wird insgesamt nur im Rückblick beurteilt werden können. Sehr wahrscheinlich ist allerdings, dass die Inflation zunächst hoch bleiben dürfte. Während die weitere Entwicklung des angebotsseitigen Preisdrucks von Faktoren abhängt, die schwer zu prognostizieren sind, dürfte zunehmend ein nachfrageseitiger Preisdruck in den Vordergrund rücken. Auch wenn die hohe Inflation für sich genommen die allgemeine Kaufkraft spürbar schmälert, so stützt die Fiskalpolitik derzeit die Einkommen mit breit angelegten Entlastungspaketen und wirkt dem Kaufkraftverlust entgegen. Zudem halten viele Haushalte Kaufkraft auf ihren Girokonten vor, die sie während der Coronakrise in Form von nicht verausgabten Einkommen angehäuft haben.

Immerhin hat der Staat die Einkommen der privaten Haushalte während dieser größten Konjunkturkrise der Nachkriegsgeschichte durch diverse Hilfspakete weiter steigen lassen und damit Kaufkraft geschaffen, der zunächst keine Konsummöglichkeiten gegenüberstanden. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass diese Überschussersparnis nach Jahren der Konsumzurückhaltung zumindest in Teilen verausgabt werden wird. Das sollte der EZB die Entscheidung erleichtern, ihren Kurs schneller zu straffen, als es bisher zu erkennen ist. Das würde auch als deutliches Signal von all jenen verstanden werden, die in den kommenden Monaten ihre Inflationserwartungen in länger laufende Verträge einfließen lassen. Nur wenn ihrem Anstieg entgegengewirkt wird, dürfte die Post-Corona-Inflationsepisode rückblickend tatsächlich nur vorübergehend gewesen sein.

 

Timo Wollmershäuser, geboren 1972 in Rothenburg ob der Tauber, Diplom-Volkswirt, Promotion und Habilitation an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, Bayerische Julius Maximilians-Universität Würzburg, Leiter der Konjunkturforschung und -prognosen, ifo Zentrum für Makroökonomik und Befragungen, ifo Institut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e.V.

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