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Die deutsche Industrie „kauft“ zu wenig Innovation

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Innovation kann man kaufen. Große US-Unternehmen haben das verstanden und übernehmen reihenweise Start-ups. Die deutsche Industrie greift nicht zu – und verpasst reihenweise Chancen. Wie lässt sich das ändern? Die gute Nachricht ist: Deutschland ist weiter gesegnet mit sehr vielen Menschen, die Neues in die Welt bringen. An den technischen Forschungsinstituten und den naturwissenschaftlichen Fachbereichen der Universitäten und Hochschulen ist eine neue Generation von Forschenden herangewachsen, die nicht nur wissenschaftlich glänzen möchte, sondern ihre Entdeckungen als Unternehmerinnen und Unternehmer auch in den Markt tragen möchte. Zurzeit ist ein Boom an wissenschaftsnahen Ausgründungen, an sogenannten Deeptech-Start-ups, zu beobachten. Dies gilt nicht nur für digitale Innovatoren und KI-Wissenschaftler, sondern auch in den Lebenswissenschaften, in der Medizin und Pharmakologie, für das weite Feld regenerativer Energien und Greentech sowie für Cyber-physische Systeme in den Bereichen Produktion, Raumfahrt und Robotik. Die Bundesagentur für Sprunginnovationen (SPRIND) hat in den letzten Jahren deutlich mehr als 2.000 Deeptech-Innovatoren kennengelernt und evaluiert. Bei mehr als 200 kamen wir zu dem Ergebnis: Darin könnte großes wirtschaftliches Potenzial stecken. Das Team überzeugt. Hier ist es aus Sicht des deutschen Staates sinnvoll, zu investieren, da privates Kapital noch nicht oder nicht im ausreichenden Maß zur Verfügung steht. Viele dieser Start-ups haben sich gut entwickelt. Sie konnten die Reife ihrer Technologie schnell erhöhen und Hightech-Produkte entwickeln, die jetzt internationale Märkte erobern könnten. Für die Skalierung suchen sie oft große Partner mit Branchenkenntnis und Kunden, die diese Innovationen als Chance für das eigene Geschäft erachten.

 

Schwach bei „Deeptechs“

Womit wir bei der schlechten Nachricht wären: Deutsche Konzerne und große Mittelständler sind nicht gut darin, die hochinnovative Kraft der Deeptechs für sich zu nutzen. Zwar haben sie mannigfaltige Einheiten geschaffen, die Kooperationen mit Start-ups einfädeln sollen. Doch ein Blick auf die Zahlen zeigt: Inkubatoren, Akzeleratoren und Kooperationen mit geringem Umfang sind bisher oft eher Kosmetik und Innovationstheater, also das kontraproduktive Simulieren von Innovation zur inneren Beruhigung eines von technologischen Paradigmenwechseln verunsicherten Vorstands.

Die großen amerikanischen Tech-Unternehmen kaufen pro Jahr 300 bis 400 Start-ups, gern auch aus Europa. Größere Übernahmen durch deutsche Unternehmen hingegen lassen sich an wenigen Fingern abzählen. Akquisitionen von deutschen Start-ups über eine Milliarde Dollar wie von Signavio durch SAP sind die absolute Ausnahme. Der große Unterschied ist: US-Unternehmen kaufen Innovation systematisch ein. „Not invented here“ ist in der Kultur von Microsoft und Amazon, Apple und Google, Pfizer und Eli Lilly kein Problem, sondern eine Chance, trotz der eigenen Größe und damit verbundenen Schwerfälligkeit innovativ zu bleiben.

Entsprechend haben sie die Strukturen geschaffen, die dem Prinzip folgen: Wir haben es zwar nicht erfunden, werden es aber groß machen und dabei jede Menge Geld verdienen. Aus deutscher Sicht nahezu tragisch ist: Amerikanische und zunehmend auch chinesische Großunternehmen schnappen sich die innovativsten Start-ups aus Deutschland und Europa weg. Nach Daten des High-Tech Gründerfonds (HTGF) gehen rund achtzig Prozent aller Start-up-Übernahmen mit einer Bewertung von mehr als 25 Millionen Euro an außereuropäische Investoren. Damit wandert nicht nur direkt die Wertschöpfung ins Ausland. Ursprünglich deutsche Start-ups erhöhen zusätzlich noch die Wettbewerbsfähigkeit der amerikanischen und chinesischen Käufer gegenüber jenen etablierten deutschen Unternehmen, die eben nicht fähig oder willens waren, sich an dem Start-up aus der Nachbarschaft zu beteiligen.

Besonders auffällig ist diese Entwicklung in den Bereichen Robotik und Maschinenbau. Die Übernahme von KUKA, einem Hersteller von Industrierobotern und Fabrikautomationssystemen mit Hauptsitz in Augsburg, durch den chinesischen Mischkonzern und Hausgerätehersteller Midea Group im Jahr 2016 ist nur ein prominentes Beispiel unter vielen. Stand heute ist offensichtlich: Wenn die deutsche Industrie nicht systematischer und intelligenter Innovation von externen Innovatoren einkauft, wird sie technologisch weiter zurückfallen und mit mäßig innovativen Produkten international immer stärker unter Preisdruck geraten. Zudem wissen wir seit Joseph Schumpeter: Nichtinnovative Unternehmen verschwinden langfristig vom Markt. Was muss geschehen, damit dieses düstere Szenario nicht eintritt? Etwas flapsig formuliert: Die deutschen Industrie-Goliaths müssen besser erkennen, welche Davids wirklich gute Steinschleudern entwickelt haben. Sie müssen tiefer in die Tasche greifen, um diese Steinschleudern zu kaufen. Und sie müssen dann lernen, gemeinsam mit David neue Märkte zu erobern. Schauen wir etwas genauer hin.

 

Übernahmekandidaten erkennen

Aus der Arbeit bei SPRIND wissen wir allzu gut: Es ist nicht leicht, die Trüffel zu finden. Die übernahmefreudigen US-Unternehmen investieren zunächst in Menschen, die einschätzen können, welche Akquisition im Einklang mit dem eigenen Geschäftsmodell und der eigenen Strategie mit welcher Wahrscheinlichkeit sinnvoll ist – und welche nicht. In der Start-up-Welt wurde die Spezies der Scharlatane und Schlangenölverkäufer schon öfter gesichtet. Nur tiefe Technikexpertise hilft, die wirklich guten Technologien und Teams zu identifizieren. Die große Herausforderung besteht für die kaufenden Unternehmen darin, dass sie oft Technologien einschätzen müssen, die gerade nicht zur Kernkompetenz der eigenen Forschungs- und Entwicklungsabteilung gehören – sonst bräuchte man ja den externen Impuls durch ein Start-up nicht. Microsoft & Co. beschäftigen Armeen von Tech-Analysten, die bei Übernahmekandidaten tief „unter die Haube schauen“ und verstehen, was die Maschine im Motorraum tatsächlich kann und welches Entwicklungspotenzial sie hat.

Deutsche M&A-Abteilungen [M&A steht für Mergers & Acquisitions, Anm. d. Redaktion] hätten wiederum ihren CEO wohl für verrückt erklärt, wenn er eine kleine „Bude“ wie WhatsApp für zwanzig Milliarden Dollar hätte kaufen wollen, die gerade mal zehn Millionen Dollar Umsatz macht. Wahrscheinlich hätte ihnen auch gar nicht das Kapital dafür zur Verfügung gestanden. Die Verbindung aus Technikkompetenz in dem Feld des Start-ups mit dem tiefen Verständnis der eigenen Stärken und Schwächen wandelt die Akquise von Innovation vom Glücksspiel zum halbwegs kalkulierbaren Risiko. Vor den Investitionen ist Investition notwendig: in Menschen, die wissen, wo man investieren sollte. Das mag banal klingen. Deutsche Großunternehmen können jedoch auf diesem Gebiet viel von US-Unternehmen lernen.

 

Risikoaversion überwinden

In Zeiten technologischer Paradigmenwechsel ist das größte Risiko, keine Risiken einzugehen. Das heißt im Umkehrschluss: Ziel kann es bei der Akquise externer Innovation nicht sein, das Risiko bei jeder einzelnen Investition zu minimieren. Risikoaversion ist für große Unternehmen eine Anleitung, die eigene Zukunft zu verspielen. Der Trick ist, das Risiko intelligent in einem Portfolio von vielen Akquisitionen zu streuen. Das ist der Grund, warum die hochinnovativen US-Goliaths so viele Davids schlucken; darunter nicht wenige, die bei Börsenanalysten Stirnrunzeln auslösen. Doch auch die Big-Tech, die größten und einflussreichsten Technologieunternehmen der Welt, wissen natürlich nicht genau im Vorhinein, welche Innovation das eigene Geschäft wie belebt. Die Unberechenbarkeit gehört zum Wesen der Innovation, und das wird auch im Zeitalter der datenreichsten Vorhersagemaschinen (auch KI genannt) so bleiben. Die Vielzahl aussichtsreicher Übernahmen erhöht die Chance, ein paar Volltreffer und eine solide Anzahl anständiger Innovationsbeschleuniger im eigenen Unternehmensportfolio zu haben. Scheitern ist Teil des Erfolgs, wenn das manchmal klappt.

Deutschen Unternehmen fällt es oft schwer, diese klassische Venture-Logik auf die eigene Strategie zu übertragen. Das hat zunächst kulturelle Gründe. Die großen deutschen Unternehmen, in der Regel vor der digitalen Revolution gegründet, sind mit Innovationen aus der eigenen Forschung und Entwicklung groß und erfolgreich geworden. Da fällt es nicht leicht, anzuerkennen, dass heute der mit Abstand größte Teil der Innovation von risikokapital-genährten Start-ups kommt. Ein Blick auf die Daten der Innovationsforschung könnte helfen. Genauso schwer bei der Zurückhaltung um Start-ups dürfte wiegen: Innovation einzukaufen ist teuer. In Unternehmen, in denen CFOs (Chief Financial Officers, Finanzvorstände) mit Fetisch für kurzfristige Erfolgskennziffern das Sagen haben, leidet die Innovation doppelt. Die eigene Forschung und Entwicklung wird zusammengestrichen. Für Übernahmen innovativer Start-ups gibt es kein Budget.

Doch selbst wenn Wille und Geld für Übernahmen vorhanden sind, fehlt es in deutschen Großunternehmen oft an Kohärenz. Damit Übernahmen zu einem Erfolg werden, müssen Lizenzabteilungen, Business Development, M&A und Corporate Venture Capital gut zusammenarbeiten. Die Realität heute ist leider: Einige Abteilungen erkennen den möglichen künftigen Erfolg der Innovation an und sind bereit, dies in Bewertungen einzupreisen. Andere Abteilungen sind stark von kurzfristigem Denken geprägt. In einigen Unternehmen legen unterschiedliche Abteilungen ihren Bewertungen sogar unterschiedliche Finanzkennzahlen zugrunde. Darauf lässt sich keine sinnvolle Innovationsstrategie aufbauen geschweige denn lassen sich schnelle Entscheidungen treffen, wenn sich eine Übernahmemöglichkeit ergibt.

In vielen Gesprächen merken wir, dass von Technikerinnen und Technikern geführte Unternehmen eher bereit sind, das Portemonnaie weiter zu öffnen, wenn ein interessantes Start-up auf dem Akquise-Radar auftaucht. Die Entwicklung der letzten zwei Jahrzehnte zeigt: Systematische Investitionen in externe Innovation lohnen sich, auch für CFOs, die mittelfristig steigende Börsenkurse lieben. Das zeigen unter anderem die Unternehmenswerte bei SAP und die Erfolge bei Boehringer Ingelheim, die deutlich systematischer Start-up-Akquise betreiben als die meisten europäischen Großunternehmen.

 

Intelligent integrieren

Wenn das richtige Start-up identifiziert und der Deal zu für beide Seiten vertretbaren Konditionen geglückt ist, strahlen oft Gründer und Manager. Die PR-Abteilung schreibt eine Pressemeldung voller Zuversicht, warum die Übernahme zu einem Erfolg werden muss. Ein oder zwei Jahre später ist die Enttäuschung oft groß, sowohl beim Ex-Start-up als auch bei den Investoren. Die hohe Quote misslungener Integrationen liegt im System. Genauer gesagt: Die Ursache ist kein System, sondern Konfusion. Wenn Goliaths die Davids erfolgreich integrieren wollen, müssen die Strukturen in der Organisation darauf angelegt sein, eine gute Mischung aus Freiraum und Einordnung in die Innovationsagenda und Geschäftsentwicklung des Großunternehmens zu bieten. Wenn die Neuen zum Spielball alter Konzernpolitik an den Konfliktlinien unterschiedlicher Abteilungen werden, ist das Match so gut wie verloren.

Gute Voraussetzung für gelungene Integration bieten Unternehmen, die mit stark zukunftsgerichteten Erfolgskennziffern (Key-Performance-Indicators, KPIs) führen, also bei der Steuerung, Kontrolle und Vergütung nicht nur auf rückwärtsgerichtete Buchwerte aus den Jahresabschlüssen schauen. In Deutschland oftmals unterschätzt wird in diesem Zusammenhang die Bedeutung einer technik-optimistischen Vision und guter Kommunikation. Amerikanische Tech-CEOs zeichnen spannende Zukunftsbilder ihres Unternehmens und überzeugen dann mit gutem Storytelling Mitarbeiter und Investoren davon, dass diese wünschenswerte Zukunft dann möglich wird, wenn jetzt alle an einem Strang ziehen. Die daraus entstehende Energie wird damit wiederum zum wichtigen Treiber für den erhofften Erfolg.

Bei der Beschleunigung von Innovation durch Start-ups wiederum gilt im Kern dasselbe wie für den Erfolg von Start-ups selbst: Die Idee ist nur die Grundlage; für den Erfolg entscheidend ist die konsequente Umsetzung. Diese gelingt in der Regel nur, wenn an der Spitze des kaufenden Unternehmens Manager führen, die erkennen: David ist für Goliath kein Gegner. Nur mit Davids Hilfe werden wir im Kampf gegen die anderen Goliaths bestehen. Wer David intern bekämpft, wählt den Bossfight mit mir persönlich.

1997 veröffentlichte der Harvard-Ökonom Clayton Christensen sein berühmtes Buch mit dem leicht missverständlichen Titel The Innovator’s Dilemma. Das Dilemma ereilt den Innovator erst, wenn er vom David zum Goliath angewachsen ist. Dann unterliegt er plötzlich den gleichen Pfadabhängigkeiten wie die traditionellen Großunternehmen: Die eigenen Cash Cows zu schlachten, fällt schwer, nur weil eine neue Technologie aufkommt, die noch nicht bewiesen hat, dass sie richtig gut funktioniert. Das schafft dann die Lücke für die nächste Generation Davids, die das Geschäft „des alten Innovators“ mit neuen Innovationen „disruptiert“. Dann geht das Spiel von Neuem los.

Die betriebswirtschaftliche Forschung der letzten 25 Jahre hat nachgewiesen, dass Christensens Thesen vom Aufstieg und Fall der Goliaths durch neue Technologien etwas zu grob geschnitzt waren. Natürlich steigen junge Unternehmen mit neuen Technologien immer wieder rasch auf. Zugleich ist klar nachweisbar, dass wachsame Großunternehmen auch langfristig erfolgreich bleiben können, wenn sie neue technologische Trends permanent in Produkte einbauen und ihre Geschäftsmodelle entsprechend modernisieren. Den überdurchschnittlich erfolgreichen Goliaths, auch das zeigen die Daten besonders aus den USA, gelingt dies in immer stärkerem Maß durch die Auf- und Übernahme externer Innovationen aus und von Start-ups. Die deutsche Industrie muss endlich lernen: Den Kampf gegen die anderen Goliaths gewinnt sie nur mit David.

 

Rafael Laguna de la Vera, Gründungsdirektor der Bundesagentur für Sprunginnovation (SPRIND).

Dirk Honold, Professor für Innovationsfinanzierung und Venture Capital, Technische Hochschule Nürnberg, und Serial Entrepreneur.

Thomas Ramge, promovierter Techniksoziologe, Autor zahlreicher Sachbücher zu Innovation und neuen Technologien, Keynote-Speaker und Host des Podcasts „SPRIND“.

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