Eine TikTok-Userin schaut entmutigt in die Kamera. Über ihr Gesicht hat sie „Hello Algorithmus … Please send People like me to me!“ geschrieben. Dieser Satz wirkt wie ein Gebet an den algorithmischen Gott – diese seltsam imaginäre Instanz, die entscheidet, ob ein Beitrag vielen angezeigt oder eine Schattenexistenz führen wird. Solche Bittgebete sind längst zum Ritual geworden. Diese Versuche der Kontaktaufnahme sind bezeichnend für das Verhältnis von Usern und Creatoren zu Plattformen wie TikTok. Der Algorithmus wird nicht als neutrale Instanz wahrgenommen, sondern als Akteur, mit dem man kommuniziert, gegen den man antritt, von dem man sich missverstanden fühlt, zu dem man aber auch ein strategisches Verhältnis aufbaut. Nutzer versuchen permanent, ihn zu begreifen, zu erklären und mit Bedeutung aufzuladen. Sie schieben Misserfolge auf die Benachteiligung und führen Erfolge auf die Bevorzugung durch den Algorithmus zurück. Doch er bleibt ein Phantom, dessen Funktionsweise nur teilweise durchschaubar ist. Ist der Algorithmus womöglich eine neue Sozialfigur, die das Verhältnis zu dieser unberechenbaren, allgegenwärtigen Macht reflektiert?
Algorithmen übernehmen zunehmend die Steuerung gesellschaftlicher und sozialer Prozesse: Sie strukturieren, klassifizieren, bewerten und treffen Entscheidungen. Während YouTube längst von Algorithmen dominiert sei, die etablierte Creatoren bevorzugen, und Instagram zur Influencer-Oligarchie verkomme, inszenieren TikToker ihre Plattform als Ort, an dem nicht mehr die Followerzahlen oder etablierte Netzwerke, sondern allein die Qualität und Originalität der Inhalte darüber entscheiden, was Reichweite erhält. „Jeder kann viral gehen“ – diese Verheißung prägt die Selbstdarstellung von TikTok. Ein 15-jähriger Teenager aus der Provinz kann mit einem einzigen Video mehr Menschen erreichen als followerstarke und erfahrene Content-Creatoren – so zumindest die Erzählung, die in Werbung, diversen Artikeln und natürlich in den Videos und Kommentaren der User kursiert. Wenn von TikTok, dem Erfolg und der Einzigartigkeit der Plattform die Rede ist, dann ist vor allem von seinem Algorithmus die Rede.
Algorithmus und Bürokratie
In seinem Essay Rule by Nobody hat der Autor Adam Clair die Implementierung von Algorithmen mit Bürokratie verglichen und treffende Parallelen zur Bürokratiekritik von Max Weber gezogen.[1] Ebenso wie Algorithmen basieren bürokratische Prozesse auf der Annahme, dass das individuelle menschliche Urteilsvermögen begrenzt, subjektiv und unzuverlässig ist – Mängel, die zu Vetternwirtschaft, Vorurteilen und Ineffizienz führen. Um dem entgegenzuwirken, verfügt eine ideale Bürokratie laut Weber über ein klares Ziel, explizite schriftliche Verhaltensregeln und eine leistungsorientierte Hierarchie. Diese Struktur konzentriert die Macht im Apparat und ermöglicht es Bürokratien, unabhängig von den Personen, die verschiedene Rollen bekleiden, zu funktionieren.[2]
Clair demonstriert, wie Algorithmen in ihrer Implementierung bürokratische Logiken reproduzieren. Der TikTok-Algorithmus dient etwa der effizienten Bindung von Aufmerksamkeit und der Maximierung von Engagement. Während sich das Unternehmen verändert und Mitarbeiter wechseln, bleibt der Algorithmus und formt mit seiner Logik die Kommunikation: Inhalte werden so gestaltet, dass sie ihm entsprechen – sichtbar etwa in standardisierten Videoformaten, Hook-Strategien[3] und algorithmisch optimierten Posting-Zeiten.
Sowohl Bürokratien als auch Algorithmen bekennen sich vordergründig zu Transparenz, werden jedoch im Namen der Wahrung ihrer Funktionalität immer undurchsichtiger: „Einmal vollständig etabliert, gehört die Bürokratie zu den sozialen Strukturen, die am schwersten zu zerstören sind“, heißt es bei Max Weber.[4] Aufgrund der Intransparenz lassen sich kaum konkrete Einwände formulieren. So erscheinen Bürokratien – und heute Algorithmen – gegenüber Kritik und Veränderungen von außen unempfindlich. Doch während klassische Bürokratien – zumindest dem Anspruch nach – demokratischer Kontrolle unterliegen, entziehen sich algorithmische Systeme weitgehend der politischen Gestaltung. Sie sind flexibler und schaffen neue Formen der Macht, die weder durch Wahlen legitimiert noch durch Parlamente kontrolliert werden.
Nutzer haben mittlerweile – teils bewusst, teils unbewusst – gelernt, ihre Beiträge so zu gestalten, dass sie den vermuteten Präferenzen der Algorithmen entsprechen: Das Gesicht wird nicht mehr gezeigt, weil man es zeigen will, sondern weil man weiß oder vermutet, dass Algorithmen Gesichter bevorzugen. Bestimmte Wörter werden vermieden, weil sie als problematisch gelten könnten.
Subversive Kreativität
Diese Praktiken haben eine neue Form der Selbstdisziplinierung hervorgebracht. Michel Foucaults panoptisches Prinzip – die Internalisierung der Überwachung, Selbstregierung statt Zwang – findet in der algorithmischen Gesellschaft seine perfekte Umsetzung. Es wird nicht mehr spontan gepostet, sondern strategisch. Menschen zeigen sich nicht mehr, wie sie sind, sondern wie sie glauben, dass das System sie sehen will. Sie analysieren ihre Insights, vergleichen ihre Reichweiten, experimentieren mit verschiedenen Posting-Strategien, kaufen Apps, die ihren „Shadowban-Status“[5] überprüfen sollen. Die Ironie ist offensichtlich: In dem Versuch, präsent und relevant zu sein, werden Nutzer zu Marktforschern ihrer selbst. Sie optimieren sich für Maschinen, die sie oft gar nicht verstehen, nach Kriterien, die sie nicht kennen, für ein Publikum, das sie nicht sehen können. Was als Befreiung von den Zwängen traditioneller Medien begann, mündet in eine subtilere, aber umfassendere Form der Selbstkontrolle.
Doch diese Anpassung hat auch neue Formen der Subversion hervorgebracht. Nutzer entwickeln kreative Strategien, um algorithmische Beschränkungen zu umgehen – sie verwenden Umschreibungen für problematische Begriffe („unalive“ statt „kill“ oder „suicide“, „SA“ statt „sexual assault“), Emojis als Platzhalter, schreiben Wörter bewusst falsch, um Erkennungssysteme zu täuschen, spielen mit Ironie und Mehrdeutigkeit oder nutzen ihre Möglichkeit, mit Likes und Kommentaren – also durch einen Beitrag an der Erhöhung von „Engagement“ – an der Sichtbarkeit von Inhalten und Themen mitzuwirken.
Das Spiel mit dem Algorithmus kann also auch kreativ und widerständig sein. „Hallo Algorithmus“ ist oft nicht nur eine Anbiederung, sondern auch eine überspitzte Parodie auf genau diese Anbiederung.
Man weiß, dass man sich dem System beugen muss – und macht sich genau darüber lustig. Besonders deutlich wird dies in POV-Memes[6] wie „POV: Wie der TikTok Algorythmus bestimmt, ob du viral gehst“ [sic!] von @miria.hny. Für ihre fast 120.000 Follower hat die Creatorin aus Berlin den Algorithmus als launischen Gesprächspartner inszeniert: Euphorisch berichtet sie ihm in dem Video von ihrem gestrigen Erfolg eines ihrer TikToks („das fanden die Leute total lustig!“), der Algorithmus (ebenfalls von der Creatorin verkörpert) nickt gnädig ab („war voll witzig“). Als sie jedoch ein ähnliches Video vorstellt, herrscht eisiges Schweigen. Auf ihre verwirrte Nachfrage folgt die algorithmische Brutalität in Reinform: „Du, heute hab ich beschlossen dass du einfach 200 Views bekommen wirst. Einfach gar kein Bock, das den Leuten zu zeigen. Ist leider heute echt nicht mehr drin.“
In solchen Sketchen erinnert die Darstellung des Algorithmus von TikTokern an die Darstellung kafkaesker Bürokratie – eine omnipräsente, aber unverständliche, willkürliche Macht, die über das Schicksal der Einzelnen entscheidet. Wie Josef K. vor dem unzugänglichen Gericht steht, so stehen Creatoren vor der Blackbox des Algorithmus: Sie wissen, dass sie bewertet werden, verstehen aber die Kriterien nicht. Sie vermuten Zusammenhänge, entwickeln abergläubische Rituale und bitten um Reichweitengnade.
Die Sozialfigur der unsichtbaren Macht
Die Medienwissenschaftlerin Taina Bucher nennt diese spekulative Vorstellung vom Algorithmus „algorithmic imaginary“.[7] Sie beschreibt damit das gefühlte Wissen, das User über algorithmische Funktionsweisen haben – ein Gemisch aus Intuition, Gerüchten, Erfahrung und Beobachtung. Auch wenn TikTok seine Algorithmen weitgehend geheim hält, existieren in der Community nahezu mythische Erklärungen. Die algorithmische Erfahrung ist von Affekten geprägt: Sie erzeugt Frustration, Misstrauen, Sorge – aber auch Hoffnung. Wenn ein Beitrag „nicht gut performt“, fühlen sich Nutzer übergangen – obwohl sie rational wissen, dass der Algorithmus nicht willentlich handelt. Oder sie fühlen sich zu stark überwacht: „Not to be a conspiracy theorist but can someone explain how the TikTok algorithm is able to read my mind?“, fragt eine Userin und artikuliert damit das weit verbreitete Gefühl einer unheimlichen Präsenz, die mehr über einen weiß, als man selbst preisgegeben hat.
Fast immer wird der Algorithmus personifiziert, ja so beschrieben, als habe er eine Persönlichkeit:[8] Er „entscheidet“, „bestraft“, „belohnt“, „liebt Authentizität“, „versteht einen nicht mehr“. TikTok-User sprechen vom Algorithmus, als sei er ein exzentrisches Gegenüber.