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Konrad Adenauer und die Verkündung des Grundgesetzes

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Der Begriff „Wunder“ ist mit Blick auf die frühe bundesdeutsche Geschichte bekanntlich durchaus gebräuchlich: Vom „Wirtschaftswunder“ ist nach wie vor die Rede, obwohl dessen „Vater“, der legendäre Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, diese Charakterisierung des rasanten wirtschaftlichen Aufschwungs der jungen Bundesrepublik wiederholt und ausdrücklich als inadäquat abgelehnt hat. In ebensolcher Regelmäßigkeit wird an das „Wunder von Bern“ erinnert, also den sensationellen Sieg der deutschen Mannschaft im Finale der Fußballweltmeisterschaft 1954, in dem manche sogar die eigentliche „Geburtsstunde“ der Bundesrepublik sehen – auch das eine höchst inadäquate und historisch falsche Aussage.

Nun ist der Begriff „Wunder“ grundsätzlich wenig geeignet, um geschichtliche Ereignisse oder Prozesse zu beschreiben. Dass es aber dem Parlamentarischen Rat 1948/49 gelang, in knapp neun Monaten eine Verfassung – um den vorläufigen Charakter bis zur Wiederherstellung eines gesamtdeutschen Staates zu unterstreichen, nannte man das Ganze „Grundgesetz“ – zu erarbeiten, die durch die Verpflichtung zum Schutz der Menschenwürde eine „kopernikanische Wende“ (Christian Bommarius) im Verhältnis des Staates zu den Bürgern bedeutete und sich bis heute als tragfähige Grundlage erwiesen hat, trug angesichts der schwierigen Rahmenbedingungen durchaus wundersame Züge. Es handelte sich nämlich um eine „Verfassungsschöpfung unter Besatzungsherrschaft“ (Rudolf Morsey), die sich im Schatten des eskalierenden Kalten Krieges – parallel zu den Bonner Beratungen verlief das Drama der sowjetischen Blockade West-Berlins, die erst am 4. Mai 1949 aufgehoben wurde – unter enormen Belastungen vollzog: Hunger, Wohnungsnot, Flüchtlingselend und die moralische Last der furchtbaren Verbrechen, die in deutschem Namen und von Deutschen begangen worden waren.

(K)ein geschichtsträchtiges Datum?

Der Tag, an dem mit der Unterzeichnung und Verkündung des Grundgesetzes der Prozess der Verfassungsschöpfung in die Gründung der Bundesrepublik Deutschland mündete, war im Unterschied zu anderen Eckdaten seines Verlaufs kein auf den ersten Blick geschichtsträchtiges Datum: Konstituiert hatte sich der Parlamentarische Rat am 1. September 1948 – exakt neun Jahre nach dem Tag, an dem 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg begonnen hatte. Die Schlussabstimmung über das Grundgesetz und dessen Annahme wiederum hatten am 8. Mai 1949 stattgefunden – auf den Tag genau vier Jahre, nachdem der Krieg mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht zu Ende gegangen war. Der 23. Mai 1949 hingegen, an dem das Grundgesetz unterzeichnet und verkündet wurde und mit dessen Ablauf es in Kraft trat, bezeichnete kein bedeutsames historisches Datum der jüngeren deutschen Vergangenheit. Dass sich am 23. Mai 1618 der Prager Fenstersturz ereignet hatte, der den Auftakt zum Dreißigjährigen Krieg darstellte, dürfte wohl den wenigsten der Beteiligten bewusst gewesen sein.

Bis heute spielt der 23. Mai 1949 im allgemeinen Bewusstsein der Deutschen allenfalls eine untergeordnete Rolle, stellt er keinen nationalen „Erinnerungsort“ im Sinne eines „Kristallisationspunkte[s] kollektiver Erinnerung und Identität“ (Étienne François) dar. Auch die Tatsache, dass zwischen 1979 und 2009 die in der Regel alle fünf Jahre fällige Wahl des Bundespräsidenten bewusst an diesem Tag stattfand, hat hieran nichts zu ändern vermocht.

Konrad Adenauer hingegen, der als Präsident des Parlamentarischen Rates die Zeremonie zu leiten hatte, betonte bereits in seinen Eröffnungsworten die historische Bedeutung des Tages: „Heute, am 23. Mai 1949, beginnt ein neuer Abschnitt in der wechselvollen Geschichte unseres Volkes: Heute wird nach der Unterzeichnung und Verkündung des Grundgesetzes die Bundesrepublik Deutschland in die Geschichte eintreten. Wir sind uns alle klar darüber, was das bedeutet. Wer die Jahre seit 1933 bewusst erlebt hat, wer den völligen Zusammenbruch im Jahre 1945 mitgemacht hat, wer bewusst erlebt hat, wie die ganze staatliche Gewalt seit 1945 von den Alliierten übernommen worden ist, der denkt bewegten Herzens daran, dass heute, mit dem Ablauf dieses Tages, das neue Deutschland entsteht.“

Zwiespalt der Gefühle

Schon der Auftakt der Arbeit des Parlamentarischen Rates, die Eröffnung am 1. September 1948 im Lichthof des naturkundlichen Museums Koenig, hatte unterschiedliche Emotionen ausgelöst: Während der als Beobachter anwesende Wirtschaftsjournalist Antonius John rückblickend meinte, es sei tatsächlich „so etwas wie Staatsgefühl“ aufgekommen, glaubte sich die für die SPD dem Rat angehörende Notarin Elisabeth Selbert aus Kassel in einer „Krematoriumsfeier“.

Dieser Zwiespalt prägte auch die Gefühle bei der Unterzeichnung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949, das der Parlamentarische Rat in den neun Monaten seit der Eröffnung erarbeitet hatte. Der Journalist und spätere CSU-Bundestagsabgeordnete Max Schulze-Vorberg, der den Gang der Beratungen des Parlamentarischen Rates intensiv beobachtet und kommentiert hatte, erinnerte sich später, „viel Hoffnung“ gehabt zu haben. Der Sozialdemokrat Hannsheinz Bauer hingegen, einer der wenigen unter den Verfassungseltern, die das 40. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, berichtete, sich bei seiner Unterschrift unter das Grundgesetz „nicht ganz wohl gefühlt“ zu haben, weil es aus seiner Sicht ein „Sprung ins Dunkle“, in eine ungewisse Zukunft, gewesen sei.

Ort der Unterzeichnung war der große Saal der direkt am Rhein gelegenen, im Stil des Dessauer Bauhauses errichteten Bonner Pädagogischen Akademie, des späteren Bundeshauses und Kerns des sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten entwickelnden Parlaments- und Regierungsviertels. Zahlreiche nationale und internationale Pressevertreter beobachteten das Eintreffen der geladenen Gäste, die Fahnen der deutschen Länder wehten vor dem Gebäude, ebenso eine schwarzrot-goldene Fahne auf dem Dach der Akademie. Das Interesse der Bevölkerung hingegen hielt sich, wie während der gesamten Arbeit des Parlamentarischen Rates, in Grenzen – die meisten Deutschen waren damit beschäftigt, die Widrigkeiten des Nachkriegsalltags zu bewältigen, viele befanden sich nach dem Untergang der Demokratie von Weimar und dem totalen, nicht zuletzt moralischen Bankrott des Nationalsozialismus in politischer Apathie. Außerdem machte es der angesichts der deutschen Teilung angestrebte Provisoriumscharakter des zu schaffenden Staatswesens schwer, die Bonner Beratungen zu einem nationalen historischen Ereignis aufzuwerten. Das Gefühl der meisten Westdeutschen gegenüber dem Parlamentarischen Rat war weder Begeisterung noch Ablehnung, sondern schlichte Teilnahmslosigkeit.

Wie die gesamte Tätigkeit des Parlamentarischen Rates war auch die Unterzeichnung des Grundgesetzes, immerhin nichts weniger als eine Staatsgründung, von Nüchternheit und Sachlichkeit gekennzeichnet. Auf dem Tisch, auf dem das Original des Grundgesetzes zur Unterzeichnung bereitlag, stand als Schmuck ein goldenes, von zwei kleinen Engeln flankiertes Tintenfass. Es war 1899 vom Goldschmied Alois Kreiten geschaffen worden, stammte aus dem Kölner Ratssilber und dürfte dem ehemaligen Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer also vertraut gewesen sein.

Nach seinen einleitenden Worten setzte der spätere Bundeskanzler als Erster seine Unterschrift unter das Grundgesetz; es folgten die Vizepräsidenten des Parlamentarischen Rates, Adolph Schönfelder und Hermann Schäfer, dann die übrigen Abgeordneten, darunter auch die sechs (von acht) Abgeordneten der CSU, die in der Schlussabstimmung dem Verfassungswerk wegen des ihrer Meinung nach nicht stark genug ausgeprägten Föderalismus die Zustimmung verweigert hatten. Auch der Bayerische Landtag hatte am 20. Mai 1949 das Grundgesetz nach fünfzehnstündiger, teilweise tumultartiger Debatte abgelehnt, in einer weiteren Abstimmung allerdings beschlossen, dass es trotzdem für Bayern gelten solle, sofern ihm zwei Drittel der deutschen Länder zustimmen würden. Nur die beiden Abgeordneten der Kommunistischen Partei im Parlamentarischen Rat, Max Reimann und Heinz Renner, verweigerten ihre Unterschrift – mit der von Renner nach seinem Namensaufruf lautstark vorgetragenen Begründung, man lehne es ab, „die Spaltung Deutschlands“ zu unterschreiben. Schon in der konstituierenden Sitzung des Parlamentarischen Rates hatten Reimann und Renner den Antrag gestellt, man möge die Beratungen über eine separate westdeutsche Verfassung sofort einstellen beziehungsweise gar nicht erst aufnehmen.

Nach der Unterzeichnung durch die Abgeordneten verkündete Adenauer die Genehmigung des Grundgesetzes durch die Militärgouverneure und seine Annahme durch die Landtage der westdeutschen Länder, deren Minister- und Landtagspräsidenten nun ebenfalls unterschrieben, ebenso der Berliner Oberbürgermeister Ernst Reuter und der Präsident der Berliner Stadtverordnetenversammlung, Otto Suhr.

„Ich hab mich ergeben“

Begleitet wurde der Unterzeichnungsvorgang mit gedämpfter Orgelmusik. Dabei wäre es fast zu einem kleinen Eklat gekommen: Der Organist spielte einige Paraphrasen aus Joseph Haydns Kaiserquartett, zu dessen Melodie Hoffmann von Fallersleben sein „Lied der Deutschen“ komponiert hatte. Dieses aber war seitens der Siegermächte nach wie vor verboten. Der SPD-Politiker Carlo Schmid soll zum Organisten geeilt sein und diesem stattdessen Händel verordnet haben. Nach Abschluss des Unterzeichnungsvorgangs verkündete Konrad Adenauer offiziell „im Namen und im Auftrage des Parlamentarischen Rates“ das Grundgesetz und dessen Inkrafttreten „mit Ablauf des heutigen Tages“. Da das soeben entstandene „Provisorium“ noch keine Hymne hatte, stimmten die Anwesenden ein 1820 vom aus der Turnerbewegung stammenden Germanisten Hans Ferdinand Maßmann, Teilnehmer am Wartburgfest von 1817, unter der Überschrift „Gelübde“ verfasstes Lied an: „Ich hab mich ergeben, mit Herz und mit Hand, Dir Land voll Lieb und Leben, mein deutsches Vaterland.“

Konrad Adenauers prominente Rolle bei der Verkündung des Grundgesetzes „Heute, am 23. Mai 1949 …“, war sinnbildlich für den Führungsanspruch, den er mit der Präsidentschaft im Parlamentarischen Rat erworben und untermauert hatte. Sie war gewissermaßen das Sprungbrett des mittlerweile 73-Jährigen ins Kanzleramt. Dies lag zum einen an der effektiven Art und Weise, mit der er die Beratungen über das Grundgesetz geleitet und dafür gesorgt hatte, scheinbar festgefahrene Situationen zu überwinden und den Prozess der Verfassungsschöpfung zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. Theodor Heuss meinte später, Adenauer habe sein „großartiges Talent“ eingesetzt, um „das zu vereinfachen und aufzuknoten, was sich in den Kontroversen der […] Spezialisten verwirrt und verwickelt hatte“.

„Erster Mann des zu schaffenden Staates“

Zum anderen hatte der Alte von Rhöndorf, wie Carlo Schmid, eine weitere zentrale Gestalt des Parlamentarischen Rates, rückblickend feststellte, die dem Amt des Präsidenten innewohnenden Möglichkeiten besser erkannt als die meisten anderen, viele CDU-Politiker eingeschlossen. Schmid betrachtete daher in der Rückschau die Zustimmung der SPD zur Wahl Adenauers als „entscheidenden Fehler“: Dieser habe nämlich das Amt genutzt, um für die Öffentlichkeit und die Besatzungsmächte zum „ersten Mann des zu schaffenden Staates“ zu werden, „noch ehe es diesen Staat gab“.

Die Verkündung des Grundgesetzes beendete Konrad Adenauer, indem er „der festen Überzeugung“ Ausdruck verlieh, dass man mit der Erarbeitung des Grundgesetzes „einen wesentlichen Beitrag zur Wiedervereinigung des ganzen deutschen Volkes“ geleistet habe. Er zitierte aus dessen Präambel, wonach das deutsche Volk sich dieses Grundgesetz gegeben habe, „von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Seit dem 3. Oktober 1990 ist der erste Teil dieser Selbstverpflichtung erfüllt. Der zweite bleibt eine dauerhafte Aufgabe.

Christopher Beckmann, geboren 1966 in Essen, Historiker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste / Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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