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Identität gegen Demokratie

von Uwe Backes
von Patrick Moreau

Europas „radikale populistische Rechte“ als Herausforderung für eine Politik der Mitte

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„Identität und Demokratie“ (ID) heißt die nach den Europawahlen vom Mai 2019 gegründete Fraktion im Europäischen Parlament, die das Gravitationszentrum einer parteipolitisch organisierten „radikalen populistischen Rechten“ (wie Komparatisten sie meist bezeichnen) bildet.1 Die Alternative für Deutschland (AfD) stellt in ihr das drittstärkste Kontingent – nach der italienischen Lega Matteo Salvinis und dem Rassemblement National (RN) Marine Le Pens. Die Parteien dieses Typs sind in den meisten europäischen Ländern Bestandteil der Parteiensysteme geworden und in den Parlamenten vertreten, meist mit einer stattlichen Anzahl von Mandaten. Teilweise sind oder waren sie auch als Juniorpartner an Regierungen beteiligt. Offensichtlich ist es einigen Parteien und Bewegungen (Pegida, Manif pour tous) auf den Straßen gelungen, „Repräsentationslücken“ (Werner J. Patzelt) zu schließen – die eine Politik der Mitte und Mäßigung zurzeit offenbar kaum zu schließen vermag.

Die Auseinandersetzung mit ihnen wird durch ihre Heterogenität und ihr ambivalentes Erscheinungsbild erschwert. Mit dem Jerusalemer Ideenhistoriker Jacob L. Talmon ließe sich sagen: Sie kombinieren Elemente der liberalen und der totalitären Demokratie.2 Aus dem Arsenal der liberalen Demokratie stammt die Anprangerung des Machtmissbrauchs und der behaupteten Gewaltenkonzentration, aus dem der totalitären Demokratie die Vorstellung eines homogenen Volkswillens, der das „Gemeinwohl“ unverfälscht artikuliere. Dessen Inhalt zu erkennen und authentisch zum Ausdruck zu bringen, sei die Aufgabe der Volkstribune, die zugleich mit Entschiedenheit gegen die absichtlichen Verfälscher des „Gemeinwohls“, die „Volksverräter“ oder die „Lügenpresse“ zu Felde ziehen. Die elitären Gegner des Volkes erscheinen in dieser Lesart ebenso als Block wie die Masse der angeblich Betrogenen.

So entsteht eine manichäische Weltsicht, die zwei hermetische Lager gegeneinander aufmarschieren lässt. Den Kern des Populismus bildet eine rigide Freund-Feind-Dichotomie, bei der das Volk und dessen „wahre“ Repräsentanten einer durch und durch verdorbenen Elite („Blockparteien“, „Parteienkartell“, „EU-Bürokraten“) gegenüberstehen. Das Denken in strengen Freund-Freund-Kategorien erklärt die Schärfe und Unerbittlichkeit der Auseinandersetzung. Wer wie Alexander Gauland politische Gegner „jagen“3 und eine Integrationsbeauftragte mit türkischen Wurzeln „in Anatolien entsorgen“4 will, erfüllt eines der Kriterien, welche die US-amerikanischen Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Daniel Ziblatt zur Identifizierung autoritärer Handlungsdispositionen (am Beispiel Donald Trumps) benannt haben: Die Legitimität politischer Gegner wird grundsätzlich in Zweifel gezogen, wenn sie als Schädlinge, ausländische Agenten oder Kriminelle erscheinen, die aus dem Verkehr zu ziehen sind, statt sich auf Verhandlungen mit ihnen einzulassen.5 Da Angela Merkel das Volk abschaffen wolle, müsse man sie in der „Zwangsjacke aus dem Kanzleramt“6 abführen, meinte Björn Höcke auf einer AfD-Kundgebung in Erfurt im Januar 2016.

Feinderklärungen können sich nicht nur an politische Konkurrenten, sondern auch an innerparteiliche Kontrahenten richten. Die deutschen Verfassungsschutzbehörden sahen in der Verunglimpfung innerparteilicher Gegner als „Feindzeugen“ mit Recht ein starkes Indiz für die extremistische Orientierung des AfD-„Flügels“.7 Zudem richten sich Feinderklärungen an gesellschaftliche Minderheiten. An Joseph Goebbels’ Sportpalastrede erinnerte niederländische Kommentatoren die Rhetorik von Geert Wilders, als dieser im Europawahlkampf 2014 in Den Haag seine Anhänger fragte: „Wollt ihr mehr oder weniger Marokkaner?“8 Ein Gericht in Amsterdam sah mit dieser Äußerung den Tatbestand der Anstachelung zur Diskriminierung einer Gruppe von Menschen erfüllt.

Tritt die Identifizierung innerer Feinde ins Zentrum des Politikverständnisses, geraten wesentliche Tugenden und Fähigkeiten aus dem Blick, die eine Politik der Mitte prägen (sollten): die Anerkennung einer naturgemäßen Vielfalt an Interessen, Meinungen und Anschauungen, der Respekt vor dem Andersdenkenden, die Fähigkeit zum Dialog, die Suche nach einem fairen Interessenausgleich und das geduldige Aushandeln von Kompromissen. Die Geringschätzung dieser Regeln findet sich in unterschiedlichen politischen Strömungen, auch bei Linksextremen und religiösen Fundamentalisten. Rechtsaußen ist sie typischerweise mit ethnonationalistischen Konzepten verbunden. Das homogenisierende Leitbild der ethnischen/nationalen Gemeinschaft setzt Minderheiten unter Assimilationsdruck, die dessen Konstruktionsprinzipien nicht entsprechen. Dies gilt auch dann, wenn die Gemeinschaft stärker kulturell als biologisch definiert wird. Kollektivistische Identitätsanforderungen, die über die Verpflichtung auf die Grundprinzipien der Verfassungen hinausgehen, sind pluralistischen Demokratien wesensfremd. Die von Ethnonationalisten geschätzten Prinzipien des Ethnopluralismus (mit dem Leitbild eines Nebeneinanders gleichrangiger, aber homogener Ethnien/Völker) unterscheiden sich zwar vom klassischen Rassismus in der Ablehnung einer biologisch determinierten Rassenhierarchie, formulieren jedoch ein kulturelles und/oder biologisches „Reinheitsgebot“, das es dem Einzelnen verwehrt, so zu leben, wie es „seiner façon entspricht“, solange er damit nicht das Recht des anderen berührt, dies ebenso zu tun. Die Wiederbelebung des Tribalismus verletzt die Fundamentalprinzipien jener Parteien, die als Christliche Demokraten in nicht wenigen europäischen Ländern nach 1945 maßgeblichen Anteil am Wiederaufbau demokratischer Verfassungsstaaten sowie am Zusammenwachsen Europas hatten.

Die rechtsradikalen „Modernisierer“ (im Verhältnis zur „Alten Rechten“) kombinieren den Ethnopluralismus zwar mit größerer Offenheit für die Rechte von Frauen und sexuellen Minderheiten. Sie propagieren sogar Anti-Antisemitismus. Aber sie führen zugleich einen Kreuzzug gegen „den Islam“, der Muslimfeindlichkeit begünstigt. Das Schreckbild der „Islamisierung des Abendlandes“ wird nicht selten mit der Verschwörungstheorie des „großen Austausches“ verknüpft, den die „volksfeindlichen“ Eliten angeblich planen und gezielt herbeiführen. Diese Konstruktion birgt Sprengstoff, wie Terroranschläge zeigen, deren Motive sich aus ihr speisten.9 Von der Hassrede zur Gewalttat ist der Weg nicht weit.

Analysiert man die Entwicklung der gemäßigteren unter den rechten Flügelparteien, so lässt sich der Versuch feststellen, sich von gewaltorientierten Gruppierungen und Mitgliedern zu befreien. Die Verkoppelung von „Wahl“- und „Straßenpolitik“, wie sie für die Faschismen der Zwischenkriegszeit typisch war, findet sich bei keiner der Mitgliedsparteien der ID-Fraktion im Europäischen Parlament. Der Hang zum Autoritären zeigt sich aber gerade bei den programmatischen „Modernisierern“ (RN, Lega, AfD) in der Affinität zum Putin-Regime, das als Bollwerk gegen „westliche Dekadenz“, als Beispiel national-imperialer Selbstbehauptung oder als Stütze und Hort traditioneller Werte bewundert wird.

Wer den „weichen“ Extremismus der rechtsradikalen „Modernisierer“ zum Thema macht, muss der Ambivalenz des Phänomens Rechnung tragen. Denn wer die „Modernisierungsleistungen“ des Rechtspopulismus und Rechtsextremismus – etwa im Verhältnis zu den NS-affinen Parteien wie der deutschen NPD – übersieht, zeichnet kein realistisches Bild und ist kaum in der Lage, die Mobilisierungskraft der Parteien zu erklären und ihnen wirksam zu begegnen.

Eine an den Werten demokratischer Verfassungsstaaten orientierte Politik der Mitte und Mäßigung muss die Feindbildkonstruktionen der Rechtspopulisten entlarven, ohne selbst in Freund-Feind-Kategorien zu verfallen. Sie stellt sich den Herausforderungen weltweiter Migration, indem sie die Interessen vulnerabler Gruppen in der alteingesessenen Bevölkerung wahrt, ohne sich humanitären Verpflichtungen zu entziehen oder Immigranten gar unter Generalverdacht zu stellen. Sie tritt der Gefahr einer Ethnisierung sozialer Konflikte entgegen, indem sie das Recht eines jeden verteidigt, sein Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, solange er damit die Rechte anderer nicht verletzt. Dann können sich Identitäten mit der Demokratie und nicht gegen sie entfalten.

 

Uwe Backes, geboren 1960 in Greimerath (Kreis Saarburg), Politikwissenschaftler, Stellvertretender Direktor des Hannah-Arendt-Instituts und außerplanmäßiger Professor am Institut für Politikwissenschaft, Technische Universität Dresden.

Patrick Moreau, geboren 1951 in Wetzlar, Politikwissenschaftler, emeritierter Professor des „Centre national de la recherche scientifique“ (CNRS), Universität Straßburg.

 

1 Vgl. demnächst Uwe Backes / Patrick Moreau: Europas moderner Rechtsextremismus. Ideologien, Akteure, Erfolgsbedingungen und Gefährdungspotentiale, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2021, im Erscheinen.

2 Jacob L. Talmon: Die Geschichte der totalitären Demokratie, 3 Bde., hrsg. von Uwe Backes, Göttingen 2013.

3 Alexander Gauland: Wir werden Frau Merkel jagen, 24.09.2017, www.youtube.com/watch?v=_fnja9qN2vM [letzter Zugriff: 19.01.2021].

4 Zitiert nach Maria Fiedler: „Gauland will Integrationsbeauftragte Özuguz ‚in Anatolien entsorgen‘“, in: Der Tagesspiegel, 28.08.2017.

5 Vgl. Steven Levitsky / Daniel Ziblatt: Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können, München 2018.

6 Björn Höcke: „Merkel in ‚der Zwangsjacke‘ abführen“, 14.01.2016, www.focus.de/politik/videos/ ausfall-auf-afd-kundgebung-hoecke-keilt-gegen-die-kanzlerin-merkel-in-der-zwangsjackeabfuehren_id_5209662.html [letzter Zugriff: 19.01.2021].

7 Vgl. Alexander Gallus: „Dokumentation 2019“, in: Uwe Backes u. a. (Hrsg.): Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 32, Baden-Baden 2020, S. 145–156.

8 Geert Wilders: „Willen jullie meer of minder Marokkanen?“ („Wollt ihr mehr oder weniger Marokkaner?“), www.youtube.com/watch?v=4LXC8509jhE [letzter Zugriff: 19.01.2021].

9 Vgl. Uwe Backes: „Zur Dynamik der Radikalisierung. Feindbildwandel und reziproke Legitimierung in interagierenden extremistischen Gewaltszenen“, in: Kriminalistik 1/2020, S. 3–8.

 

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