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Das freundschaftliche Desinteresse zwischen Franzosen und Deutschen

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Ein bestimmtes Foto der offiziellen Wiedereröffnung der Kathedrale „Notre-Dame de Paris“ am 7. Dezember 2024 ist ein besonders guter Aufhänger, um einige Gedanken zum deutsch-französischen Verhältnis im Laufe der Zeiten anzustoßen. In der ersten Reihe sitzen außer Präsident Emmanuel Macron und seiner Frau Brigitte der kongolesische Diktator Denis Sassou-Nguesso, ehemals Soldat der französischen Kolonialarmee, mit seiner Gattin Antoinette sowie Jill Biden, Ehefrau des damaligen amerikanischen Präsidenten, mit ihrer gemeinsamen Tochter Ashley; und direkt neben Macron der President-elect Donald Trump. Ganz außen in der zweiten Reihe ein wenig verloren und abgekoppelt das deutsche Staatsoberhaupt, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

picture alliance / abaca | Pool/ABACA
Wiedereröffnungszeremonie in der Kathedrale Notre-Dame in Paris am 7. Dezember 2024.

Nicht anwesend war Olaf Scholz, der Bundeskanzler, entweder weil er nicht eingeladen war oder weil er anderes vorhatte in seiner bezeichnenden Unkenntnis darüber, wann es angemessen und zugleich nützlich ist, an symbolischen Akten teilzunehmen. Natürlich ist es auch vorstellbar – die anschließenden politischen Gespräche in Paris deuteten vielleicht darauf hin –, dass Pragmatiker, wenn sie über pragmatische Lösungen sprechen wollen, die Teilnahme eines deutschen Regierungschefs nicht mehr für unabdingbar halten.

Wäre den Deutschen das diplomatische Besteck aus vielsagenden Gesten und sprechender Symbolik nicht so suspekt als Absage an ihre nationale Tugend rücksichtsloser Ehrlichkeit, dann hätten Steinmeier und seine Entourage pikiert feststellen müssen, dass ein Sassou-Nguesso statt eines deutschen Bundespräsidenten in der ersten Reihe einer diplomatischen Ohrfeige gleichkommt.

Und wer jetzt meint, das seien protokollarische Banalitäten und Zufälligkeiten, der beweist damit nur das Unverständnis, das die Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich seit jeher charakterisiert und das eben recht gut im Foto von Notre-Dame festzuhalten ist, weil es zu großen Teilen auf dem diametral entgegengesetzten Verhältnis beruht, das die beiden Völker und Staaten zu Symbolik und Realpolitik unterhalten.

Verkürzt gesagt, kann man feststellen, dass die Franzosen Meister der großen Symbolik sind, die aber immer die Magd der Realpolitik, des Pragmatismus und der Suche nach dem eigenen Vorteil bleibt; Macrons Instrumentalisierung des sakralen Gebäudes für eine Feier der Größe des streng laizistischen Staates ist ein typisches Beispiel.

Dagegen herrscht bei den Deutschen das Primat des Prinzips – man kann auch sagen: des Gedankens, der Philosophie oder Ideologie, und dieses Prinzip hat immer schon geglaubt, ohne das Marketing symbolischer Gesten auszukommen. Und es wird dann selbst in Fällen radikalen Gegensatzes zur praktischen Vernunft durchgesetzt.

Dies scheinen beinahe anthropologische Konstanten zu sein, denn die entsprechenden Unterschiede manifestieren sich schon über Jahrhunderte, bevor wir realistischerweise von einem deutsch-französischen Verhältnis sprechen können, nämlich bereits im Hochmittelalter, kurz nachdem die beiden Länder aus gemeinsamer Wurzel hervorgegangen waren.

Der westfränkische Raum entwickelte rasch die Tendenz, zu einem Reich mit einem klar definierten Territorium, einer Machtpolitik zu dessen Erhaltung und Vergrößerung, einer Sprache und einem Volk zu werden, woraus später der Nationalstaat logisch hervorging. Bei den Nachbarn hingegen obsiegte die Theorie, das Prinzip vom multinationalen, mit höheren religiösen Weihen versehenen Nachfolgeorganismus des Römischen Reiches mit all den Konsequenzen, die wir kennen: Machtzersplitterung, Abgründe zwischen Theorie und Praxis, Religionskriege, späte Herausbildung einer Nationalsprache, völliges Fehlen einer Kongruenz von Territorium und Volk.

Von einem Verhältnis zwischen den beiden Völkern, wenn auch noch nicht den Nationen, können wir eigentlich erst ab dem 18. Jahrhundert sprechen. Es gab noch keine Erbfeindschaft und keine Hassliebe, jedoch durchaus schon einige der Grundlinien, die seither die deutsch-französischen Beziehungen charakterisieren: auf deutscher Seite Versuche der Nachahmung französischer Überlegenheit in Sitten, Kultur, Literatur, Architektur, auf französischer die kühle Ausübung von Machtpolitik mit dem Ziel, die deutschen Staaten kleinzuhalten oder gegeneinander auszuspielen.

 

Nationale Interessen und universelle Verheißung

Dann kam das entscheidende Ereignis in der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen, aber natürlich nicht nur in ihrer: die Französische Revolution mit der Verheißung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für alle, festgehalten in der Erklärung der Menschenrechte von 1789.

Es gibt in der Neuzeit nur drei Länder, von denen eine solche universelle Verheißung ausgeht oder ausgegangen ist: die Vereinigten Staaten von Amerika, die Sowjetunion (zum Glück nur kurzfristig) und eben Frankreich. Aber was es heißt und welche Konsequenzen es hat, wenn ein Nationalstaat mit seinen Interessen und eine sich an die ganze Menschheit richtende Verheißung am selben Ort aufeinanderprallen, das ist, glaube ich, noch nicht umfassend und in allen Konsequenzen historisch erforscht worden.

De facto war das immer mehr Rhetorik als gelebte Praxis. Allerdings war es eben nicht nur Rhetorik. Faktisch sind die Franzosen tendenziell immer ein fremdenfeindliches und misstrauisches Bauernvolk geblieben, was aber nicht hinderte, dass in den und um die rassistischen und ausgrenzenden Praktiken herum zugleich auch immer das hohe Ideal lebte, sich Bahn brach und seine großen Herolde hervorbrachte. Beides hat seit mehr als 200 Jahren Frankreichs Charakter bestimmt: die produktive Legende vom Land der Menschenrechte und die fremdenverachtende Praxis. Es ist eine permanente Dialektik, kein Entweder-oder.

Die Folgen der Französischen Revolution auf Deutschland waren zutiefst dialektisch: Einer ersten Erkenntnis von der Modernität des Freiheitsgedankens folgte durch die Koalitionskriege und die napoleonische Zeit mit ihrer Mischung aus Modernität und Totalitarismus, europäischem Einigungswerk und Unterdrückung beziehungsweise Erniedrigung der von ihren Duodezfürsten Befreiten ein merkwürdiger Backlash: Aus den Freiheitsbestrebungen der Deutschen wurden nationale Einheitsbestrebungen, die ihr Ferment aus dem aufkeimenden und intellektuell angeheizten Franzosenhass zogen. Insofern war Frankreich ein unfreiwilliger Geburtshelfer des spät geeinten Deutschlands, das sich aber eben nicht positiv für etwas konstituierte, sondern negativ gegen Frankreich in feindlicher Abgrenzung zum verhassten Vorbild.

Die Verheißung, als Nation für ein übergeordnetes Ideal zu stehen, ganz gleich, wie sehr sie in der französischen politischen Praxis mit Füßen getreten wurde, fehlt in der deutschen Geschichte völlig oder aber führte zu ihren fürchterlichsten Aberrationen. Auch hier tut sich wieder die Frage nach dem Umgang mit und der Handhabung von Symbolen und deren Nutzen oder Schaden in der politischen Praxis auf.

Die nationale Einigung Deutschlands gegen Frankreich resultierte, um mit dem großen französischen Kulturanthropologen René Girard zu sprechen, aus „mimetischem Begehren“. Eine Frage von Neid und Nachahmung und gekränktem nationalen Narzissmus auf der deutschen Seite, dem auf der französischen seit jeher eine Furcht oder Bangigkeit vor der Irrationalität der Deutschen und ihrer Unberechenbarkeit gegenübersteht, dem, was Friedrich Nietzsche meinte, als er die Deutschen das „Täuschevolk“ nannte.

Aus diesem Ungleichgewicht der Gefühle füreinander und Meinungen übereinander resultierten die knapp 200 Jahre der „Erbfeindschaft“, die erstaunlicherweise nicht nur im Negativen von Krieg, Besetzung, Erniedrigung und Hass, sondern auch im Positiven von gesteigertem Interesse, gegenseitiger Befruchtung und bedeutenden persönlichen Freundschaften (wie der in François Truffauts Film Jules und Jim unsterblich gemachten zwischen Franz Hessel und Henri-Pierre Roché) gekennzeichnet waren.

 

Echo eines Minderwertigkeitskomplexes

In nationalpsychologischer Hinsicht waren sowohl 1914 als auch 1940 Versuche der Deutschen, den Franzosen endlich ein Eingeständnis deutscher Überlegenheit abzuringen, wenn auch nur, was die Leistungsfähigkeit von Militär, Technik und Wissenschaft anging. Dass die Franzosen, obwohl beide Kriege auf ihrem Territorium geführt wurden und zumindest der eine klar verloren ging, dennoch beide Male hinterher am Siegertisch saßen, war und ist ein uneingestandener Stachel in der deutschen Psyche, ebenso sehr wie andersherum die Franzosen den Deutschen lange Zeit nicht vergeben konnten, im Schatten des deutschen Holocaust ihren eigenen historischen Antisemitismus mit genussvoller Widerwärtigkeit ausgelebt zu haben. Ebenso nach dem Ersten wie nach dem  Zweiten Weltkrieg tat Frankreich im Grunde das Gleiche, was schon Ludwig XIV. getan hatte: Es versuchte, Deutschland zu schwächen und kleinzuhalten. Späte Echos dieser Politik der Eindämmung finden sich noch 1989, als François Mitterrand die zerfallende DDR stützte, als er den Deutschen als Preis für die Wiedervereinigung den Euro aufzwang, um die Macht der D-Mark zu brechen, oder in den neueren Bemühungen, gegen die Stärke der deutschen Wirtschaft eine europäische Schuldenunion zu begründen.

Während die Deutschen sich nach 1945 den Mächten, von denen sie sich legitim besiegt sahen, den USA und der Sowjetunion, bereitwillig unterordneten und sich von ihnen dirigieren und beeinflussen ließen, gab es ein solches Gefühl gegenüber Frankreich nie, weder 1918 noch 1945. Im Gegenteil: Mit einem klammheimlichen Grinsen der Genugtuung nahm man den Abstieg Frankreichs von einer Welt- und Kolonialmacht zu einer krisengeschüttelten Mittelmacht zur Kenntnis – mit einem innerlichen „Siehst du wohl, wusste doch immer schon, dass es mit euch nicht so weit her ist, wie ihr in eurem Dünkel glaubt“. Ein Echo des Minderwertigkeits- und Konkurrenzkomplexes, das in den noch immer verbreiteten Stammtischparolen über die angeblich schlechte französische medizinische und handwerkliche Versorgung und die permanent rostenden französischen Autos fortlebt. Das zeigt sich noch heute im Verhältnis dieser wichtigsten europäischen Partnerländer, wenn Deutschland alle größeren Initiativen Frankreichs, seien sie visionär oder unausgegoren – das Weimarer Dreieck, die Mittelmeerunion –, mit vollkommenem Desinteresse ins Leere laufen lässt.

Ja, es wird viel verschenkt, was möglich sein könnte an Dynamiken zwischen beiden Staaten. Und für die Zukunft sieht es nicht rosiger aus, denn ironischerweise ist mit der Abneigung auch das Interesse aneinander geschwunden. Die hohe Zeit der Städtepartnerschaften und des vielfältigen Austauschs in den Nachkriegsjahren ist zu Ende. Die beiden Sprachen verschwinden aus den Lehrplänen des jeweiligen Nachbarn. Die leidenschaftliche Hassliebe hat sich zu freundlichem Desinteresse abgekühlt.

Lange ist es her, dass man sich intellektuell aneinander abgearbeitet und sich als archetypischen Widerpart empfunden hat wie zu Zeiten von Madame de Staëls De l’Allemagne im bewundernden Befremden, mit dem die Autorin die deutsche Kombination von profundestem Grübeln bei völlig fehlender Lebenskultur beobachtet; ein Spieß, den dann hundert Jahre später Thomas Mann in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen umdrehte, in denen er die tiefe deutsche „Kultur“ gegen die welsche „Zivilisation“ des „Rhetor-Bourgeois“ ins Feld führte.

Zum Abschluss zwei weitere sprechende Beispiele aus dem Feld der Literatur: Heideggers Existentialphilosophie führte ihren Erfinder zu einem Bekenntnis zu den Nazis. Sartres Existentialismus mündete in das Chanson „Rue des Blancs-Manteaux“, das er für Juliette Gréco schrieb und von Joseph Kosma vertonen ließ.

Der erste deutsche Schriftsteller, dem die Ehre zuteilwurde, in die Klassikerkollektion La Pléiade aufgenommen zu werden, war Ernst Jünger, für die Franzosen die Inkarnation des „kultivierten Barbaren“, der sogar von Vercors’ Das Schweigen des Meeres bis zu Jonathan Littells Die Wohlgesinnten zu einem eigenen Topos der französischen Deutschlandbetrachtung wurde. Die größte Frankreich-Hommage eines deutschen Autors, Heinrich Manns Henri-Quatre-Romane, in denen der kämpferischen Humanität des „guten Königs“ gehuldigt wird, blieben in Frankreich wie in Deutschland völlig ohne Echo.

 

Michael Kleeberg, geboren 1959 in Stuttgart, Schriftsteller, Essayist und literarischer Übersetzer, ausgezeichnet unter anderem mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2016.