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Gestaltung: StanHema

Individuum und Gemeinschaft

von Judith Froese

Paradoxien gegenwärtiger gesellschaftspolitischer Entwicklungen

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Was macht eine Frau zur Frau? Ist es die Biologie, die expérience vécue (Simone de Beauvoir), der performative Akt der Bezeichnung (Judith Butler)? Und lässt sich das Geschlecht eines Menschen überhaupt kategorial fassen, lassen sich die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Geschlechts also unter allgemeinere Oberbegriffe wie „weiblich“ oder „männlich“ subsumieren? Reichen diese Kategorien aus, um das Spektrum der vorhandenen Varianten abzudecken? Oder handelt es sich beim Geschlecht gar um eine rein individuelle Gegebenheit?

Das Recht, zumal das Verfassungsrecht, sieht sich mit diesen Fragen zunehmend konfrontiert. Mit der Menschenwürde stellt das Grundgesetz den Eigenwert des Menschen an seine Spitze. Und doch abstrahiert das Recht notwendigerweise vom Einzelnen und blendet individuelle Gegebenheiten aus – etwa, wenn das Personenstandsrecht für das Geschlecht eines Menschen nur eine begrenzte Anzahl von Eintragungsmöglichkeiten in das Geburtenregister vorsieht. Bereits die menschliche Erkenntnis ist auf Komplexitätsreduktion durch das Ausblenden des Graduellen, des „schwirrenden Durcheinanders“ (Rogers Brubaker) der Wirklichkeit angewiesen. Dies gilt umso mehr für das Recht, das die „Wirklichkeit“ nicht bloß erfasst, sondern regeln und ordnen soll.

 

Dekonstruktion des Kategorialen

 

Kategoriale Erfassungen des einzelnen Menschen und die juristische Begriffsbildung selbst geraten zunehmend unter Druck. Das Bundesverfassungsgericht forderte Ende 2017 bekanntlich die Einführung eines zusätzlichen personenstandsrechtlichen Geschlechtseintrags wie beispielsweise „divers“ für Personen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung neben den bereits bestehenden binären Eintragungsmöglichkeiten „weiblich“ und „männlich“ sowie der Möglichkeit, den Eintrag offenzulassen.1 Damit dürfte die juristische Entwicklung in diesem Bereich, die in den 1980er-Jahren mit der Anerkennung der Transsexualität ihren Anfang genommen hat, jedoch keineswegs zu einem Ende gelangt sein. So wird ein erweitertes Verständnis der Kategorie „divers“, die auch Fälle einer „lediglich empfundenen Intersexualität“ erfassen soll, im öffentlichen Diskurs und in Gerichtsverfahren gefordert. Noch weitgehender sind Bestrebungen, die an die Stelle einer immer noch kategorialen Erfassung individuelle Bezeichnungen wie beispielsweise „genderfluid“ oder „nichtbinär“ setzen wollen. Die Bundesregierung strebt eine Reform der einschlägigen Regelungen an. Bislang werden staatlicherseits Anforderungen an die Änderung des Vornamens und des Geschlechtseintrags gestellt. Insbesondere sieht das Transsexuellengesetz vor, dass sich die Betroffenen einem Begutachtungsverfahren unterziehen müssen. An die Stelle dieser Vorgaben soll künftig eine Selbstauskunft treten. Das Geschlecht erscheint hier als eine rein individuelle Gegebenheit.

Eine wesentliche Ursache für Vorbehalte gegenüber kategorialen Erfassungen des Menschen ist im Verhältnis von Recht und „Wirklichkeit“ zu erblicken: So haben die rechtliche Kategorie Geschlecht und das juristische Begriffsverständnis einen erheblichen Anteil an der Selbst- und Fremdwahrnehmung des Menschen. Das Recht stellt nicht nur eine Perspektive auf den Menschen und die „Wirklichkeit“ dar, sondern prägt diese mit, ist also zugleich die Perspektive, aus der der Mensch sich und seine „Wirklichkeit“ sieht. Dies gilt umso mehr, als das Recht die „Wirklichkeit“ nicht einfach aufnimmt, sondern seine eigene Wirklichkeit schafft, die es als „die Wirklichkeit“ verstanden wissen will.2 Hierin kann man mit Pierre Bourdieu eine „symbolische Macht“ des Staates sehen.

 

Rekonstruktion durch Gruppenbildung

 

Die Infragestellung und Dekonstruktion herkömmlicher Kategorien wie derjenigen des Geschlechts lassen sich allerdings schwerlich dahingehend deuten, dass der Mensch sich weg vom Zoon politikon hin zu einem „isolierten und selbstherrlichen Individuum[s]“3 entwickeln würde. Die skizzierte Entwicklung verläuft nämlich keineswegs widerspruchsfrei in eine Richtung. Neben die Kritik an rechtlichen Kategorien tritt ein anderes, gegenläufig anmutendes Phänomen: die Rückkehr von Gruppen, mittels derer das dekonstruierte Gemeinsame eine Rekonstruktion erfährt. Besonders deutlich tritt dies in den Kontexten der Diversität, Repräsentation und Teilhabe zutage, aber auch, wenn nach Rechten der Mehrheit (Liav Orgad) gefragt wird. Freilich sind alle Menschen einmalig und damit unterschiedlich, allerdings erhellt sich der Begriff der Vielfalt beziehungsweise Diversität erst durch den Gruppenbezug: Es geht um die Verschiedenheit der Angehörigen einer Gruppe gegenüber den Angehörigen anderer Gruppen beziehungsweise um die als solche wahrgenommene Verschiedenheit. Diese soll berücksichtigt, anerkannt, respektiert und geschützt werden.4

Die beiden skizzierten Entwicklungen lassen sich am Beispiel des Geschlechts veranschaulichen: Die Dekonstruktion der herkömmlich binären Geschlechterordnung steht Pate für in jüngerer Zeit zu beobachtende Individualisierungs- und Auflösungstendenzen. Als Suche nach dem Gemeinsamen lässt sich demgegenüber die Bezugnahme auf das – konkret: weibliche – Geschlecht im Kontext von wahlrechtlichen Paritätsbestimmungen deuten. Die Selbstverständlichkeit“ der kategorialen Einteilung der Menschen in Männer und Frauen wird einerseits verfassungsrechtlich dekonstruiert. Das Graduelle der Wirklichkeit wird im Recht sichtbar durch die personenstandsrechtliche Anerkennung von Personen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung. Andererseits nehmen Paritätsvorgaben im Wahlrecht explizit Bezug auf das weibliche Geschlecht. Sie sollen eine angemessene Partizipation und Repräsentation von Frauen in den Parlamenten durch verpflichtende Vorgaben für die Kandidatenaufstellung der politischen Parteien erreichen. Das Geschlecht einer Person wird hier zu einem Faktor von konstitutiver Bedeutung. Denn das Argumentationsmuster, Frauen seien derzeit nicht angemessen repräsentiert, verlangt logisch eine Definition dessen, was eine Frau ausmacht. Die Frage nach der Definition des Frauseins wird in diesem Rahmen jedoch bemerkenswerterweise nur vereinzelt aufgeworfen. Es scheint vielmehr selbstverständlich zu sein, was eine Frau zur Frau macht, wenngleich herkömmliche Anknüpfungen an das biologische Geschlecht in anderen Kontexten zunehmend abgelehnt wurden und werden. Soweit sich hiermit näher auseinandergesetzt wird, soll es denn auch nicht auf das biologische Geschlecht, sondern auf gemeinsame Interessen ankommen.5

Die Koinzidenz der gegenläufigen Entwicklungen ist so evident, dass sie keine bloß akzidentielle sein wird: Vielmehr dürfte sie als Ausdruck des menschlichen Bedürfnisses nach Versicherung, Orientierung und Gemeinschaft zu verstehen sein. Insofern kann die Suche nach dem Gemeinsamen gerade als Konsequenz der zunehmenden Dekonstruktion althergebrachter, lange Zeit als „Selbstverständlichkeit“ (Isolde Charim) verstandener Kategorien angesehen werden. Auf die Dekonstruktion des kategorial Gemeinsamen erfolgt seine gruppenbezogene Rekonstruktion. Das offensichtliche Paradoxon der gegenwärtigen Entwicklung spiegelt damit das grundlegende Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft wider, wie es auch im ambivalenten Menschenbild des Grundgesetzes angelegt ist: nämlich den individuellen Eigenwert des Menschen, aber auch seine gleichzeitige „Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit“.6

 

Das Allgemeine in der Defensive

 

Vor der Folie dieser Entwicklungen ist das Allgemeine in die Defensive geraten. Freilich existieren Ideen zu seiner Reaktivierung, namentlich Vorschläge zur Rückbesinnung auf das Staatsvolk (Francis Fukuyama) beziehungsweise auf die Nation (Aleida Assmann). Die Zeichen der Zeit dürften allerdings vorerst auf einer Betonung gruppenbezogener Verschiedenheit stehen, wie etwa Vorschläge zur Einführung einer sogenannten Migrantenquote7 zeigen.

Der Abschied vom Allgemeinen ist damit aber jedenfalls begrifflich keineswegs eingeläutet. Denn die Abbildung der gesellschaftlichen Vielfalt soll nicht allein den jeweiligen Gruppenangehörigen, also etwa Frauen, Menschen mit uneindeutiger Geschlechtlichkeit, Menschen mit einer Migrationsgeschichte, nützen. Vielmehr soll sie im Interesse der Allgemeinheit liegen und dem Wohl der Gemeinschaft insgesamt dienen.8 Bestrebungen im Kontext von Repräsentation, Diversität und Teilhabe arbeiten aber zumindest in einem ersten Schritt mit einer Betonung der gruppenbezogenen Verschiedenheit. Freilich ist das Gemeinwohl ein hoch abstrakter, ausfüllungsbedürftiger Begriff, dessen Inhalt nicht ein für alle Mal feststeht, sondern sich permanent neu aushandeln lassen muss. Diversität kann durchaus Gegenstand des Gemeinwohls sein. Es entbehrt indes nicht einer gewissen Paradoxie, das Einende einer Gesellschaft durch gruppenbezogene Fragmentierung erschließen zu wollen.

 

Judith Froese, geboren 1985 in Köln, seit 2021 Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht mit Nebengebieten, Universität Konstanz.

 

1 Bundesverfassungsgericht: Beschluss des Ersten Senats vom 10. Oktober 2017, BVerfGE 147, 1.
2 Im Einzelnen Judith Froese: Der Mensch in der Wirklichkeit des Rechts. Zur normativen Erfassung des Individuums durch Kategorien und Gruppen, Tübingen 2022.
3 Zum Menschenbild des Grundgesetzes, das „nicht das des isolierten und selbstherrlichen Individuums, sondern das der gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Person“ ist: Bundesverfassungsgericht: Urteil des Ersten Senats vom 02.03.1999, BVerfGE 50, 290 (353).
4 Vgl. Thomas Duve: Die Justiz vor den Herausforderungen der kulturellen Diversität – rechtshistorische Annäherungen: Einführung in die Ringvorlesung des LOEWE-Schwerpunkts „Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung“, WS 2013/2014, FB Rechtswissenschaft der Goethe Universität, Working Paper Nr. 7, 18.03.2013, S. 2; eine grundlegende und kritische Analyse des Diversitätskonzepts liefert Frank Schorkopf: Staat und Diversität, Paderborn 2017.
5 Kathrin Eulers: Frauen im Wahlrecht, Baden-Baden 1991, S. 91 ff.
6 Bundesverfassungsgericht: Urteil des Ersten Senats vom 15.12.1983, BVerfGE 4, 7 (15 f.).
7 Dazu etwa Thomas Groß: „Die Verfassungskonformität einer Quote für Eingewanderte“, in: JuristenZeitung (JZ), 76. Jg., Nr. 18/2021, S. 880 ff.
8 Instruktiv (zum Minderheitenschutz): Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 13.11.2007, EGMR NVwZ 2008, 533 (534); Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 18.01.2001, Slg. 2001-I Rdnr. 93 f.

 

 

 

 

 

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