Die Konrad-Adenauer-Stiftung verleiht Ihnen, Frau Göbel, am 2. September 2025 den Preis Soziale Marktwirtschaft. Was bedeutet Ihnen der Preis?
Heike Göbel: Diese Anerkennung meiner Arbeit freut mich sehr. Seit Langem werbe ich dafür, die Soziale Marktwirtschaft zu schützen und zu stärken. Wirtschaftliche Freiheit ist für mich eine Voraussetzung und ein Stützpfeiler unserer Demokratie. Das eine gehört zum anderen. Man muss das Bewusstsein für die Gefährdung, aber auch für den Nutzen der Marktwirtschaft und ihrer Wettbewerbsordnung schärfen. Dass ich diese Arbeit tun kann, verdanke ich der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, die mir dafür viel Freiraum lässt und in der ich den Rückhalt einer exzellenten Wirtschaftsredaktion habe, die seit 75 Jahren dafür wirbt, dass die liberale Wirtschaftsordnung erhalten bleibt.
Ihr Spezialgebiet in der Wirtschaftsredaktion ist „Die Ordnung der Wirtschaft“. Können Sie das kurz erklären?
Das Ordnungsdenken ist Teil des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft: Der Staat soll einen guten Rahmen setzen, innerhalb dessen sich private Unternehmen und Bürger im Wettbewerb entfalten können. Der Staat soll also nicht ständig eingreifen und auch nicht selbst Unternehmer sein.
„Die Ordnung der Wirtschaft“ ist eine traditionsreiche Seite im Wirtschaftsteil der F.A.Z., die ich verantworte. Der Titel mutet etwas antiquiert an, aber hier bieten wir hochkarätigen Gastautoren ein Forum, in dem sie sich tiefer mit den wirtschaftspolitischen Debatten auseinandersetzen, und zwar gerade auch mit Blick auf die Grundprinzipien unserer Wirtschaftsordnung: Welche Reformen sichern Freiheitsspielräume? Welche schränken sie ein?
An sich ist mein Gebiet die Wirtschaftspolitik, und da muss man als Ressortleiterin auch Generalistin sein: heute Zollkonflikt, morgen Rentenreform, übermorgen Pflegeversicherung und vieles mehr.
Sie wurden einmal als das „Gewissen der Sozialen Marktwirtschaft“ bezeichnet. Wo steht die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland heute?
Die Soziale Marktwirtschaft ist kein geschütztes, theoretisch fest gefügtes und starr umrissenes Konzept. Ihre Begründer um den ersten Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard haben eine eingängige Formel gesucht – und mit der „Sozialen Marktwirtschaft“ gefunden –, die den Menschen nach dem Krieg die Ängste nehmen sollte vor mehr Wettbewerb, vor der Freigabe der Preise und der Aufhebung anderer planwirtschaftlich lenkender Maßnahmen. Das hat sehr gut funktioniert, weil sich in den Wirtschaftswunderjahren der versprochene Wohlstandszuwachs durch die Soziale Marktwirtschaft schnell einstellte, sodass diese Formel bis heute einen guten Klang hat.
Sie hat aber leider auch das Missverständnis genährt, der Staat müsse diese Marktwirtschaft erst sozial machen, indem er viel Geld umverteilt. Ludwig Erhard hat aber immer darauf gepocht, dass die Marktwirtschaft an sich schon sozial sei. Denn sie bietet jedem, der sich anstrengt, Chancen, aufzusteigen, zu Wohlstand zu kommen – nicht nur Eliten oder Günstlingen, wie es in Planwirtschaften der Fall ist, etwa in der ehemaligen DDR. Natürlich ist dieses System nicht perfekt.
Die Soziale Marktwirtschaft beruht auf der Idee der Eigenverantwortung. Der Staat lässt große Freiräume, fordert aber auch ein, dass die Menschen ihr Leben selbst in die Hand nehmen, sich selbst kümmern und anstrengen. Wenn ihnen das nicht möglich ist, weil sie krank sind oder aus anderen guten Gründen ihren Lebensunterhalt nicht sichern können, gibt es subsidiären Schutz. Aber die Soziale Marktwirtschaft kann ihr Wohlstandsversprechen nur einlösen, wenn der Anreiz erhalten bleibt, dass die Menschen arbeiten und etwas leisten wollen.
In einem Zeitschriftenbeitrag wurden Sie einmal als „Marktradikale“ charakterisiert. Wie wichtig ist das Soziale in einer Marktwirtschaft?
Ich wurde auch schon als „Mätresse des Marktes“ geschmäht; mit Angriffen und mit Kritik muss man leben, das galt schon in Zeiten vor Social Media. Wichtig ist mir ein soziales Sicherungsnetz, das diejenigen auffängt, die unverschuldet in Not geraten sind oder die nicht arbeiten können, aus welchen Gründen auch immer. Dieses untere Sicherungsnetz muss es zwingend geben. Sinnvoll finde ich auch, dass der Staat die Bürger zu einer Mindestabsicherung der elementaren Lebensrisiken verpflichtet: Vorsorge für Arbeitslosigkeit, Krankheit, Rente, Pflege. Sonst werden einige vorsorgen und andere sich darauf verlassen, dass die Solidarität der anderen sie auffängt, wenn sie in Not geraten. Das Entscheidende ist das Maß. Der Sozialstaat darf nicht den Eindruck erwecken, Eigenverantwortung, Anstrengung, Eigenvorsorge seien überflüssig, der Staat kümmere sich schon. Dieser Eindruck kann zum Beispiel beim Bürgergeld entstehen oder auch durch die Debatte über ein bedingungsloses Grundeinkommen, die immer wieder auflebt. Viele fasziniert die Idee, dass der Staat den Lebensunterhalt ohne Bedingungen sichert.
Das Grundgesetz erwähnt die Soziale Marktwirtschaft nicht, es heißt, es sei wirtschaftspolitisch neutral. Sollte die Soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsordnung in das Grundgesetz aufgenommen werden?
Ich habe diese Frage mit Verfassungsrechtlern diskutiert. Sie weisen zum einen darauf hin, dass die Soziale Marktwirtschaft immerhin im vorrangigen Europäischen Recht (EU-Recht) ausdrücklich verankert ist, und zum anderen, dass das Grundgesetz die zentralen Bausteine unserer freiheitlichen Wirtschaftsordnung schützt. Die Soziale Marktwirtschaft sei damit als Werteordnung im Grundgesetz angelegt. Das Grundgesetz sichert die Berufs- und Gewerbefreiheit, eine elementare Voraussetzung, den Beruf auszuüben, den ich möchte. Es sichert das private Eigentum mit einer gewissen Sozialbindung. Es sichert auch die Tarifautonomie in Artikel 9 und die Niederlassungsfreiheit in Artikel 12. Das Grundgesetz enthält auch das Sozialstaatsziel. Die Soziale Marktwirtschaft müssen wir also nicht unbedingt explizit hineinschreiben; wohler wäre mir allerdings, wenn wir den „Vergesellschaftungsartikel“ 15 streichen könnten. Er ist zwar nie angewendet worden, erlaubt aber, dass man Grund und Boden sowie Produktionsmittel zum Zwecke des Gemeinwohls vergesellschaftet. Dieser Artikel wird in Berlin für eine große Kampagne zur Enteignung privater Wohnungskonzerne genutzt.
Die Staatsquote lag in Deutschland 2024 bei etwa 49,5 Prozent. Was bedeutet das, und ist sie zu hoch?
Die Staatsquote besagt, dass fast die Hälfte der Wirtschaftsleistung in staatlicher Regie ausgegeben wird. Diese Zahl sagt aber nichts darüber, wie sinnvoll das Geld ausgegeben wird, wie effizient der Staat das Geld verwendet. Aus meiner Sicht ist sie jedoch ein wichtiger Anhaltspunkt für den ökonomischen Freiheitsgrad eines Landes. In Deutschland bleibt denjenigen, die das Geld erwirtschaften, nur noch knapp die Hälfte der Erträge als Lohn für Mühen und Risiken, die sie eingegangen sind. Die andere Hälfte verteilt die Regierung nach eigenen Vorstellungen. In einer Marktwirtschaft sollte das zu denken geben; wirtschaftliche Dynamik gibt es nicht, ohne dass sich Privatleute einsetzen, Risiken eingehen und auch Verluste hinnehmen. Wenn die Ertragschancen zu gering sind, weil der Staat zu viel abzieht, um es in seine Verwendungen zu leiten, bleibt zu wenig, um diese Anreize aufrechtzuerhalten. Darin liegt ein Risiko für eine Marktwirtschaft.
Aus meiner Sicht ist unsere Staatsquote heute zu hoch, auch wenn es keine feste, wissenschaftlich belegte Grenze gibt, an der man das festmachen kann. Wir sehen allerdings, dass unser Staat sehr viel Geld in eigener Regie ausgibt, aber nicht das leistet, was wir erwarten. Wir erwarten ja, dass die Brücken tragfähig sind, dass die Bahn pünktlich ist, dass wir digital gut aufgestellt sind und dass die äußere Sicherheit gewährleistet ist.
Seit 1957 haben wir die dynamische Rente. Ist dieses System noch zukunfts- und generationengerecht?
Die Verrentung der Babyboomer stellt das System jetzt vor seine härteste Belastungsprobe, weil die viel schmaler besetzten nachfolgenden Jahrgänge die stark wachsende Rentenlast stemmen und finanzieren sollen. Meines Erachtens hätten wir vor zwanzig Jahren stärker auf eine ergänzende kapitalgedeckte Altersvorsorge setzen sollen, um die Kraft der Finanzmärkte zu nutzen und das System auf eine stärkere weitere Säule zu stellen. Die Riester-Rente war eine gute Idee, die aber schlecht umgesetzt und nicht entscheidend nachgebessert worden ist. Das Wichtigste wäre, dass die Bundesregierung jetzt nicht noch den Demografiefaktor außer Kraft setzt. Er sorgt dafür, dass die Renten in den nächsten Jahren, wenn sich das Verhältnis der Beitragszahler zu Rentnern absehbar zulasten der Beitragszahler verschiebt, etwas langsamer ansteigen als die Löhne. Diesen Faktor nun ausgerechnet jetzt nochmal außer Kraft setzen zu wollen, wo er anfängt, die jüngeren Jahrgänge vor zu hoher Belastung zu schützen, halte ich für einen großen Fehler.
2023 lag die Sozialleistungsquote bei geschätzten 30,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Welche Folgen hat das?
Fast jeder dritte Euro, der in Deutschland erwirtschaftet wird, fließt damit in staatlich geregelte Sozialleistungen. Das ist ein sehr großer Teil, entsprechend weniger Geld bleibt für Verteidigung, Infrastruktur oder Bildung. Diese Aufgaben haben wir vernachlässigt. Es gibt Nachholbedarf in der Digitalisierung, in der Modernisierung der Infrastruktur oder in der Grenzsicherung. Das kostet alles Geld, und die Ausgaben, die in staatlicher Regie in die Sozialabsicherung fließen, stehen für Investitionen in die anderen Aufgaben nicht mehr zur Verfügung. Darunter leidet die Wettbewerbsfähigkeit unseres Standorts. Insofern kann ein zu teurer Sozialstaat die Marktwirtschaft gefährden.
Sie haben bereits vor Jahren eine „Sozialstaatsbremse“ gefordert. Was ist damit gemeint?
Mir scheint es sinnvoll, ähnlich der Schuldenbremse im Grundgesetz einen Orientierungspunkt zu verankern, eine Obergrenze für die Sozialausgaben im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung. Es könnte beispielsweise festgelegt werden, dass in normalen Zeiten nicht mehr als dreißig Prozent der Wirtschaftsleistung in staatlicher Regie für Soziales ausgegeben werden. Wenn man eine starre Quote nicht möchte, könnte auch vereinbart werden, dass die Sozialausgaben künftig nicht schneller steigen dürfen, als die Wirtschaft wächst. Das heißt, wenn der Wohlstand wächst, können wir uns einen weiteren Ausbau des Sozialstaats leisten.
Wächst die Wirtschaft nicht, müssen wir über den Umbau und die Zielgenauigkeit des Sozialstaats nachdenken. Nicht alle Sozialleistungen sind heute so ausgestaltet, dass sie denen helfen, die es am meisten brauchen. Und nicht immer bleibt genug Anreiz, Grundsicherungshilfen so kurz wie möglich in Anspruch zu nehmen. Ein Problem liegt darin, dass sich die Aufnahme einer Arbeit für Bürgergeldbezieher oft nicht lohnt, weil dann staatliche Hilfen wegfallen, sodass ihnen unter dem Strich nicht viel mehr Geld bleibt. Das demotiviert; die neue Regierung muss diese Übergänge aus Sozialleistungsbezug in Arbeit glätten.
Die Industriepolitik der Ampelregierung war durch ein starkes Engagement des Staates geprägt. Wie beurteilen Sie das?
Der Staat ist, dafür gibt es viele Belege, nicht der bessere Unternehmer. Das heißt nicht, dass einzelne staatliche Unternehmen nicht auch gut funktionieren können. Was der Markt verlangt, spüren private Investoren, die ihr eigenes Geld riskieren, aber meistens schneller und reagieren darauf. Ein Staatsunternehmen unterliegt politischem Einfluss. Es hat mehr Möglichkeiten, Marktsignale zu ignorieren und sich zusätzliches Geld zu besorgen, weil andere Erwägungen zählen als der Wettbewerb, etwa Arbeitsplätze oder Regionalförderung. Und mit einer Industriepolitik, die bestimmte Geschäftsmodelle als zukunftsträchtig fördert oder alte Geschäftsmodelle aus sozialen Erwägungen stützt, haben wir in Deutschland schon eine Menge Steuergeld in den Sand gesetzt. Das hätte man besser einsetzen können, um die wirtschaftlichen Standortbedingungen für alle Unternehmen zu verbessern, also Ordnungspolitik zu machen.
Industriepolitik ist sicher in gewissem Rahmen notwendig. Es ist nicht einfach, zu sagen, wir machen gar nichts, wenn andere Länder anfangen, Start-ups zu fördern, Unternehmen aufzukaufen oder sie stark zu subventionieren. Aus meiner Sicht sollte Industriepolitik aber in erster Linie darauf zielen, ein „Level Playing Field“ zu schaffen, auf dem alle die, die etwas unternehmen wollen, unter den gleichen Bedingungen investieren und arbeiten können. Industriepolitik verstößt schnell gegen die Grundsätze guter Ordnungspolitik.
Wie geschwächt sind die Unternehmen in Zeiten der Überregulierung?
Unternehmen sollen unternehmen dürfen – sich also im Rahmen der Gesetze ihre Marktchancen suchen. Je mehr man ihnen vorschreibt, was sie alles zu berücksichtigen haben, je enger der Rechtsrahmen ist, in dem sie handeln können, desto höher die Kosten, und desto schwieriger wird es, im Wettbewerb mit Konkurrenten aus Ländern mitzuhalten, die weniger strikt regulieren. Aktuell sind wir an einem Punkt, an dem wir dringend Regulierung abbauen müssen.
Welche Themen werden Sie mit Blick auf die Soziale Marktwirtschaft künftig genau verfolgen?
Der Handelskrieg und die Auseinandersetzung zwischen den USA und China bestimmen vorerst auch die Agenda der F.A.Z.-Wirtschaftsredaktion. Wie behauptet sich Deutschland in diesem Rahmen? Wie gewinnen wir neue Wirtschaftsstärke als Voraussetzung für Sicherheit und Freiheit? Das ist das Thema, das in nächster Zeit vermutlich über allem stehen wird. Wir wollen dazu beitragen, diese Gemengelage zu erklären: Was bewirken höhere Zölle, wer trägt die Zusatzkosten, befeuern sie die Inflation? Was macht politische Unsicherheit mit Unternehmen?
Wir möchten Wissen vermitteln, indem wir die Hintergründe analysieren. Und wir werden in unseren Kommentaren weiter Flagge zeigen und für unsere Vorstellung einer guten, freiheitlichen Wirtschaftsordnung werben. Dazu gehören offene Märkte. Vieles von dem, was im Moment passiert, widerspricht leider den Prinzipien, auf die wir setzen.
Heike Göbel, geboren 1959 in Leverkusen, verantwortliche Redakteurin für Wirtschaftspolitik der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung und Kuratoriumsmitglied der Friedrich-August-von-Hayek-Stiftung.
Das Interview führte Ralf Thomas Baus am 20. Mai 2025.