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Yana Stefanyshyn

Interview: "Glücklich das Land, wo Helden Helden sind"

von Juri Andruchowytsch
von Michael Braun
von Bernd Löhmann

Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch über russische Kriegsverbrechen, die Aufgabe des Schriftstellers im Krieg und die Bedeutung des Euromaidan

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Sie sind trotz des Krieges in Ihrer Heimat geblieben. Wie geht es Ihnen und den Ihren im April 2022?

Juri Andruchowytsch: Ich traue mich, jetzt zu sagen, dass es uns etwas bessergeht als noch im Februar und März. In unserer Stadt haben wir ständig Luftalarme, an die alle schon gewöhnt sind; und viele Menschen reagieren nicht mehr. Aber unsere Situation unterscheidet sich sehr von der in anderen Gebieten der Ukraine, wo die russischen Attacken grausam sind und vor allem auf Zivilisten zielen. Aus dem Grund relativer Ruhe sind wir zu einer Stadt mit vielen Neuankömmlingen geworden; insbesondere Familien aus ost- und südukrainischen Städten. Die Hauptsache ist, dass die russische Offensive Richtung Kiew zerschlagen worden ist.

 

Was nehmen Sie vom Verlauf des Krieges wahr?

Juri Andruchowytsch: Totale Vernichtung des Lebens. Das Ausmaß der russischen Kriegsverbrechen umfasst Erschießungen, Folterungen, Vergewaltigungen – alles massenhaft und alles als ein Teil des Kriegsplans! Also keine einzelnen Fälle, keine Exzesse – alles planmäßig. Die Russen wollen unseren Schmerz – so viel, wie es nur geht – und kennen dabei keine Grenzen. Sie rechnen auf den Moment, wo wir diesen Schmerz nicht mehr ertragen können und kapitulieren werden. Sie haben sich aber mit ihrem Terror verrechnet: Die Ukrainer sind heute hartnäckig wie nie.

 

Lässt es die Situation zu, dass Sie als Schriftsteller arbeiten?

Juri Andruchowytsch: An einem Roman zu arbeiten, ist nicht möglich. Es gibt viele Interviewanfragen, vor allem von ausländischen Medien. Wenn man pro Tag drei bis vier Interviews in drei bis vier Fremdsprachen führt, richtet sich der Gedanke nicht auf Kunstphantasie und stilistische Raffiniertheit. Neue Gedichte kann ich mir vorstellen, aber nur vorstellen. Kurz gesagt, meinen heutigen Beruf würde ich als „öffentliche Person“ bezeichnen. Das bedeutet, nicht unbedingt als Schriftsteller zu arbeiten, aber als jemand, der kommentiert und vermittelt.

 

„Ich steige aus“, schreibt die Schriftstellerin Antje Rávik Strubel. „Alles umsonst“, resümierte kürzlich der Schriftsteller Maxim Biller. Was kann die Aufgabe des Schriftstellers im Krieg sein?

Juri Andruchowytsch: Ein literarischer Text, auch wenn er genial ist, kann keinen Krieg stoppen. Es ist vielleicht besser, auf so eine Aufgabe zu verzichten, weil im Krieg jede Täuschung tödlich sein kann. Die Aufgabe bleibt dieselbe wie immer und besteht aus einer synonymischen Reihe: wahrnehmen, miterleben, sehen, hören, erzählen, lieben. Die heute offene Frage besteht darin, wie es mit der Sache des „Hasses“ steht. Soll ich, muss ich, darf ich den blutigen Vergewaltiger von Butscha hassen? Ja, die Emotionen verschärfen sich. Und das kann für einen entstehenden Text sowohl günstig als auch schädlich sein. Also, sehr vorsichtig mit Emotionen! Gleichzeitig aber – kein Dogmatismus, keine abstrakte Political Correctness. Die Aufgabe liegt darin, so zu schreiben, als ob es Political Correctness nie gegeben hätte. Und – obwohl das Böse banal ist – jede Banalität zu vermeiden. Nur so kann man wirklich etwas Hochwertiges zum Gedächtnis der Menschheit beitragen.

 

„Unglücklich das Land, das Helden nötig hat“, lässt Bertolt Brecht Galileo sagen. Was hat diese Formel einer postheroischen Gesellschaft aktuell zu sagen?

Juri Andruchowytsch: Seit Februar 2014 – der letzten Woche des Maidan – bin ich aus einer postheroischen Gesellschaft kommend in einer neuheroischen Gesellschaft gelandet. Der Grund des Wunders, warum ich seit dem 24. Februar 2022 und bis heute immer noch am Leben bin, in keiner Folterkammer gequält, in keinem Straflager geschlagen wurde und warum ich immer noch atmen, lachen, schreiben und denken kann, ist vor allem der Heroismus. Nicht mein Heroismus – sondern der unserer Armee, die mich und uns alle rettet. Und das kostet sie viele, viele Menschenleben, Soldatenleben. Aber sie kämpft weiter gegen eine riesige Masse und sie hat keine Angst, diese Gegenmasse zu besiegen. Natürlich hatte Brechts Galileo recht. Man kann das aber paraphrasieren: „Glücklich das Land, wo Helden Helden sind.“

 

In einem Interview haben Sie bezweifelt, dass der Rest Europas die Entschlossenheit der Ukrainerinnen und Ukrainer, zu kämpfen und zu sterben, schwer nachvollziehen kann. Liegt es nur an der, wie Sie sagten, „warmen Badewanne des Daseins“, die die Menschen im Westen für die Nöte anderer unempfindlich gemacht hat? Offenbar noch mehr verärgert haben Sie Äußerungen wie die von Hans-Ulrich Wehler, nach der „Russland, Weißrussland und die Ukraine nie Bestandteile des historischen Europa“ gewesen seien.

Juri Andruchowytsch: Erst einmal nur die Reaktion auf das Zitat: Arroganz und Ignoranz. Russland, das ist eine spezielle Geschichte: Immer hat es sich gegen Europa gestellt und eine eigene fremdenfeindliche „Religion“ entwickelt – Euroasiatismus. Ukraine und Belarus, bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts vom Moskauer (so hieß es damals) Zarenreich absolut getrennt, gehörten der anderen Welt, wo Polen und Litauen zusammen eine „Res Poloniae“ gebildet haben. Waren Polen und Litauen auch keine Bestandteile Europas? Und was ist mit späteren Epochen, etwa der habsburgischen? Hier aber gibt es keinen Platz für die weitere „Erklärung des Offensichtlichen“.

Zu Ihrer Frage: Nein, natürlich gibt es nicht nur „die Badewanne“, es gibt auch die Kehrseite des Komforts – Angst. Man wird allmählich in die „russische Mächtigkeit“ immer tiefer hineingezogen und von diesem Konstrukt paralysiert beziehungsweise hypnotisiert. Wie kann man es nur wagen, diesem Monster zu widerstehen? Ausgerechnet die Ukraine? Im Augenblick wird sie von der „grenzlosen Supermacht“ Russland verschluckt! Was, will sie nicht kapitulieren? Mehr als vierzig Tage lang kämpft sie? Wieso?

Ich denke, dass die Ukraine für sehr viele Europäer zu einer Art schlechtem Gewissen geworden ist. Zum Teil wegen ihrer Furchtlosigkeit.

 

Sie haben die Proteste auf dem Maidan im Winter 2013/14 miterlebt. Sie waren dabei, als Zehntausende gegen die Gewalt demonstrierten, mit der die Janukowitsch-Regierung ihre Macht erhalten wollte. Welche Bedeutung hat die Erfahrung des Euromaidan für die Ukrainer? Warum hat das westliche Europa diese Ereignisse offensichtlich unterschätzt?

Juri Andruchowytsch: An den Protesten auf dem Maidan haben sieben bis zehn Prozent der ukrainischen Gesellschaft teilgenommen. Das waren die Aktivsten und die Tapfersten. Und ich spreche jetzt über das ganze Land, nicht nur über Kiew, jede Stadt hatte damals ihren eigenen Maidan, groß oder klein. Der andere Teil, die Mehrheit konnte sympathisieren oder auch nicht – abhängig von den Umständen.

Aber die Maidan-Leute wurden zu einer gesellschaftlichen Kraft. Sie haben das Land in der ersten Phase des „kleineren Krieges“ (2014 bis 2015) gerettet, als wir praktisch keine Armee hatten. Sie haben viele notwendige Reformen in der Ukraine durchgesetzt. Unter ihrer Ägide ist die Armee modernisiert und so effektiv geworden, wie sie heute ist.

Und heutzutage, mit der Mobilisierung gegen die russische Aggression, ist das ganze Land zu einem großen Maidan geworden, mit all den damaligen Werten, die wieder lebendig sind: Freiheit, Würde, Solidarität, Demokratie. All das, was unser Feind uns wegnehmen will. Der Maidan hat sich also im ganzen Land ausgebreitet. Ein Beispiel nur: Im Laufe der ersten zwei Kriegstage, am 24. und 25. Februar, haben die einfachen Leute aus der ganzen Ukraine umgerechnet 300 Millionen Euro für ihre Armee gespendet! Leute, die nicht reich sind. 300 Millionen in 48 Stunden! Das ist wie der Maidan – diese Bereitschaft, zu spenden, zu opfern, zu unterstützen.

 

In Ihrem Essay „Mein Europa“ ziehen Sie ein Register der Ruinen in der Ukraine, der Ruinen der Industrie, der Natur, der Zivilisation und der Hoffnung. Was bedeuten die Kriegsruinen, die jetzt in ukrainischen Städten entstehen, für Sie, und was bedeuten sie für „unser Europa“?

Juri Andruchowytsch: Die Kriegsruinen sind die Kriegsruinen – da haben wir die ganze Bedeutung. Die Stadt Mariupol, wo ich in den Jahren 2015 bis 2018 dreimal aufgetreten bin, wo das Publikum meine Auftritte sehr warmherzig aufgenommen hat, ist zu neunzig Prozent eine Ruine geworden. Und die Straßenkämpfe gehen dort weiter, also sind diese neunzig Prozent nicht das Ende der Zerstörung. Wie ich schon gesagt habe – totale Vernichtung des Lebens.

Nach unserem Sieg wird man alles neu aufbauen. Ich hoffe auf riesige Bauinvestitionen, vor allem der Europäischen Union. Ich hoffe auf die Verwandlung der ukrainischen Nachkriegslandschaften in die schönsten und technologisch modernsten Städte Europas. Ich hoffe, dass die besten Architekten und Urbanisten zu uns kommen werden, um ihre progressivsten Ideen zu verwirklichen. Paradox, aber Putins Russland vernichtet jetzt im Osten der Ukraine auch alles Hässliche – Objekte der Stalin’schen Industrialisierung, es vernichtet alles, was dort sowjetisch ist, jede Spur der damaligen

„Modernisierung“. So bekommen wir, bei allem Leid, trotzdem eine Chance, dort völlig neue urbanistische Landschaften zu kreieren.

 

Sie kennen Russland sehr genau und haben dort noch zu Zeiten der Sowjetunion gelebt. Was bedeutet die Erfahrung einstiger „Verbundenheit“ für Sie heute im Krieg?

Juri Andruchowytsch: Verbundenheit? Gab es sie? Na ja, es musste so etwas geben in der Sowjetunion mit ihrem gemeinsamen wirtschaftlichen Raum, wo sehr viele Ukrainer ihre Arbeitsstellen in Russland gefunden haben, besonders viele in Sibirien und im Norden mit seinen Erdöl- und Gasfeldern. Man konnte dort damals mehr Geld verdienen und danach eine höhere Pension erhalten.

Für mich persönlich kam das nicht in Frage, und nach Moskau kam ich nicht deshalb, weil ich Russland so liebte, sondern weil ich nach neuen Erfahrungen und Stipendienmöglichkeiten suchte. Moskau war mir eher fremd, dennoch auch sehr interessant. Besonders, weil ich dort den Zerfall der UdSSR unmittelbar aus seinem Zentrum beobachten konnte.

Heute sehe ich keine Möglichkeit, mit Russen zu kommunizieren, absolut keine. Die Unzähligen, die ich damals gekannt habe, sind schon längst aus meinem Leben verschwunden. Die letzten im Jahr 2014, als die Krim annektiert wurde: Sie hatten nichts zu sagen. Manche haben ihr Land verlassen. Die anderen waren schon damals, also in der Zeit von 1989 bis 1991, sehr aggressiv, großimperialistisch und monarchistisch eingestellt. Einige versprachen mir den gnadenlosen Krieg gegen die ukrainische Freiheit bereits im Jahr 1990. Soll ich mit ihnen Verständigung finden? Nein, danke!

 

Sie sagen, eine Zeit schlimmster Tragödien schaffe immer auch eine Welt neuer kreativer Möglichkeiten. Selbst Lachen sei nicht ausgeschlossen. Können Sie uns ein Beispiel dafür geben?

Juri Andruchowytsch: Der schwarze Humor, mit dem unser Alltag voll ist, ist meistens unübersetzbar. Es ist mehr als undankbar, einen Witz zu kommentieren beziehungsweise sein komisches Wesen zu erklären. Deshalb kann ich kein konkretes Beispiel nennen, sondern nur sagen, dass mir persönlich die offiziellen Berichte des ukrainischen Generalstabs am besten gefallen – wahrscheinlich gibt es dort einen sehr begabten Sprachstilisten. Die Tonalität finde ich meistens ziemlich elegant: kalt ironisch, zurückhaltend, ohne Pathos, dafür aber immer optimistisch, mit zwei oder drei Schwerpunkten, wo der Feind und seine Stumpfheit witzig belacht wird. Ich wollte so etwas können!

 

Die Fragen stellten Michael Braun, Literaturreferent der Konrad-Adenauer-Stiftung, und Bernd Löhmann, Chefredakteur der Zeitschrift Die Politische Meinung, schriftlich Anfang April 2022.

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