Asset-Herausgeber

Transatlantische Kontroversen über das Sparen

Asset-Herausgeber

Die USA und Europa haben unterschiedliche Sichtweisen, wie die Schuldenkrise bewältigt werden soll. Von Sparpolitik halten die Amerikaner offenbar wenig – ganz im Gegensatz zu uns Deutschen.

Roland Benedikter: Ja. Die USA sind nicht zu „Austerity“-Politiken wie Deutschland bereit, weil sie eine ganz andere Geldkultur und ein anderes Finanzverständnis haben. Für die USA ist Geld an sich nichts. Es ist kein Wert wie in Europa, sondern ausdrücklich nur eine soziale Konvention, um Zukunft in die Gegenwart hereinzulocken – ein Systemtrick sozusagen. In Europa werden Schulden als Belastung für die Zukunft angesehen – in den USA als Ermöglichung von Zukunft. Obwohl Geld in Europa an sich nicht anders funktioniert, ist das in den USA eine kulturelle Grundüberzeugung, die das gesamte Handeln prägt – was in Deutschland nicht der Fall ist.

Die gesamte US-Kultur ist seit der amerikanischen Verfassung und der Abnabelung der Kolonie auf Schulden aufgebaut, und zwar sowohl im privaten wie im öffentlichen Bereich. Schulden zu machen heißt hier, von der Zukunft her in die Gegenwart zu leben: jetzt so zu leben, wie ich es mir eigentlich erst in zwanzig Jahren leisten könnte. Nicht sparen, sondern Schuldenmachen ist also für die USA in Umkehrung des landläufigen europäischen Verständnisses das Zukunftsprinzip, wenn es um Geld geht. Das bedeutet nicht, dass Sparen schlecht ist und Schulden gut sind. Es heißt auch nicht, dass Geld und Schulden dasselbe sind. Wenn ich Geld in der Tasche habe, verfüge ich über eine Forderung, die einen Rechtsanspruch darstellt, der aus der Vergangenheit kommt. Wenn ich Schulden habe, habe ich das Geld in der Regel ausgegeben. Ich verfüge damit über eine Realität, der ich erst noch gerecht werden muss.


Das hat Folgen …

Roland Benedikter: In der Tat. Es erzeugt eine völlig andere gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Dynamik. Geldpolitik und Wirtschaftspolitik werden in den USA als dasselbe angesehen – im Gegensatz zu Europa, das diese beiden Dimensionen sauber trennen will. Amerika druckt Geld und gibt es aus, um die Wirtschaft anzukurbeln. Es nimmt Inflation nicht nur in Kauf, sondern setzt auf sie als zentralen Wirtschaftsfaktor: Nur wenn es Inflation gibt, kann ich unbegrenzt Geld drucken, weil die Inflation einerseits den Geldwert „tötet“, nämlich indirekt reduziert, was nötig ist, weil es sonst zu schnell zu viel Geldwert, bezogen auf die Realwerte, gäbe; Inflation reduziert indirekt auch den Schuldenwert, sofern Einkommen und Steuern mit ihr mitgehen.

Das ist der Grund dafür, dass der amerikanische Notenbankchef Ben Bernanke auch „Helikopter-Ben“ genannt wird. Er sagt mit voller Überzeugung: Wenn es keine Inflation gibt, fliege ich persönlich mit dem Hubschrauber über die Stadt und werfe frisch gedruckte Dollarscheine hinab. Für Europa sind solche Aussagen schauderhaft. In Amerika versteht sie jedes Kind als selbstverständlich.

 

Wozu führt das?

Roland Benedikter: Nicht nur dreht der amerikanische Staat eifrig an der Gelddruckerpresse und vervielfältigt Dollars ad libitum, sondern er ist auch mit 107 Prozent des Bruttosozialprodukts verschuldet. Zusätzlich hat jeder durchschnittliche US-Haushalt 68.000 Dollar Privatschulden, im Grunde aber noch wesentlich mehr, da bekanntlich die US-Kreditkarten meist erst ein halbes Jahr nach dem Einkauf belastet werden. Privatschulden, mit denen Zukunft vorweggenommen wird, wodurch die Wirtschaft gleichsam zeitverzögert immer bereits in einem künftigen Zustand lebt, sind in den USA für den Durchschnittsbürger im Prinzip kein Grund zur Sorge, sondern normal. Nur die Höhe der Staatsverschuldung macht Sorgen, nicht das Prinzip der Verschuldung an sich. Denn Schulden sind das Lebensprinzip einer „Zukunftskultur“, die ganz in der Antizipation von Möglichkeiten lebt – nicht aus dem Auskosten von Errungenschaften wie in Europa. Europas Wirtschaft dagegen lebt in der Realzeit, in der Gegenwart. Sie sieht Geld weit eher als Mittel, nicht als Teil der Wirtschaft an. Ist Europas Wirtschaft daher realistischer? Nicht unbedingt. Das kommt darauf an, wo man seine Verankerung haben will und welche Rolle man dem Geld dabei zumisst.


Was ist in Europa anders?

Roland Benedikter: Europa ist im Gegensatz zu Amerika in wohlverstandenem Sinne eine „Vergangenheitskultur“, was sich im Sparen niederschlägt: Zuerst arbeite ich, dadurch erspare ich eine gewisse Summe Geld, dann kaufe ich mir etwas dafür. Das, was ich kaufe, ist also das Ergebnis, der physisch gewordene Ausdruck von Vergangenheit. Geld ist für viele Europäer eine Errungenschaft, ein Wert, ein Ergebnis; für den Amerikaner ist es eine Wette, ein Vorschuss, ein Versprechen. Beide Grundhaltungen haben ihre Vor- und Nachteile.
 

Geben Sie uns ein Beispiel für die kulturellen Unterschiede?

Roland Benedikter: Kürzlich fuhren meine Frau und ich mit einem Taxi von Palo Alto nach San Francisco zum Flughafen. Sie ist Europäerin und kam auf die Idee, den Taxifahrer vor Beginn der Reise zu bezahlen – noch dazu in bar. Bevor ich sie daran hindern konnte, hatte sie, bevor wir ins Taxi stiegen, fünfzig Dollar in Geldscheinen vorgestreckt, einschließlich einiger Dollar Trinkgeld. Statt sich zu freuen, wie es ein Taxifahrer in Europa wohl in der Regel tun würde, wurde der amerikanische Fahrer misstrauisch. Er konnte es vor dem Hintergrund seiner Kultur nicht glauben, dass jemand im Voraus und noch dazu in bar statt mit Kreditkarte bezahlte. Er prüfte jeden einzelnen Schein eingehend auf seine Echtheit. Beinahe hätte er uns nicht gefahren.

Am Ende hatten wir eine halbe Stunde Verspätung und einen schlecht gelaunten Taxifahrer, der glaubte, wir wollten nur vermeiden, ihm am Ende der Fahrt mehr Trinkgeld zu geben. Die Fahrt machte ihm keinen Spaß mehr, weil er bereits bezahlt war. Er gab uns zu verstehen, dass diese Fahrt in gewisser Weise unnütz, ja ein Déjà-vu sei. Richtig wäre es aus seiner Sicht gewesen, auf Schulden zu fahren und so spät wie möglich zu bezahlen – zum Beispiel mit Kreditkarte, von der erst drei Tage später abgebucht wird.
 

Daraus ergeben sich unterschiedliche Haltungen zum Umgang mit der Schuldenkrise.

Roland Benedikter: Ja. Amerika druckt Geld und gibt es über Stimulus- und Leihprogramme der Nationalbank an die Einzelbanken aus, die zum Verleihen an Mittel- und Kleinbetriebe gezwungen werden. Inflation ist dabei einkalkuliert, ja sogar erwünscht, weil sie die Kosten dieser Haltung gleichmäßiger auf die Gesellschaft verteilt als Sparprogramme – und die Schuldentragfähigkeit quasi ermöglicht.

Sie ist allerdings wegen der Weltreservewährungs-Rolle des US-Dollar auch eher möglich als in Europa, weil alle Länder wegen dieser Rolle gezwungen sind, Dollarreserven zu halten und damit einen Teil der Dollarüberschüsse zu absorbieren. Die Weltwährungsrolle des Dollar geht allerdings rasch ihrem Ende entgegen, da zum Beispiel China eine neue „Korbwährung“, zusammengesetzt aus Dollar, Euro, Britischem Pfund, Yen und vielleicht Yuan, fordert.

Außerdem ist die Weltreservewährung an den Handel mit der Schlüsselressource Öl gebunden, die in spätestens fünfzig Jahren zu Ende geht. Damit nähert sich auch das Ende der Dollar-Hegemonie. Das ist der Grund dafür, dass die Amerikaner nichts mehr fürchten als das Ende des Erdöls und seines Zeitalters. Nicht weil sie kein Umweltbewusstsein hätten, sondern weil der Dollar und damit die Stellung der USA in der Welt mit davon abhängen.
 

Und Europa?

Roland Benedikter: Im Gegensatz zu Amerika ist Zentraleuropa aufgrund der katastrophalen Erfahrung mit Inflation im zwanzigsten Jahrhundert antiinflationär eingestellt. Vor allem Deutschland erlaubt es der Europäischen Zentralbank (EZB) nicht, Geld-, Finanz- und Wirtschaftspolitik aus einem Guss, letztlich als Einheit zu sehen wie die USA. Europa druckt daher nicht einfach Papiergeld ohne Gold- oder Realwirtschaftsbindung durch seine Zentralbank und leiht es zu Niedrigstzinsen an seine verschuldeten Nationen aus, wie das Amerika zumindest teilweise machen würde, um die Schuldzinsen zu senken. Sondern es setzt stattdessen auf Sparen, verbunden mit Systemkorrekturen – wenngleich die aktuelle Politik der EZB krisenbedingt wenigstens teilweise einen amerikaähnlicheren Weg einschlägt als noch vor Jahren.
 

Geschieht nicht unter umgekehrtem Vorzeichen dasselbe in den USA: Letztlich kommt ja auch Amerika ums Sparen nicht herum?

Roland Benedikter: Wenigstens teilweise ja. Die USA sparen trotz ihrer „Geld-als-Mittel-zum-Zweck“-Politik, beginnend mit dem Budgetentwurf von Barack Obama vom September 2012, nach unterschiedlichen Angaben zwischen zwei und 4,5 Billionen Dollar über die nächsten zehn Jahre ein, den größten Teil davon mit Ausgabenkürzungen und etwa ein Viertel mit Steuererhöhungen.

Das Ziel ist auch die Halbierung des Defizits. Die US-Regierung ist sich im Gefolge der aktuellen Berechnungen ihrer Berater bewusst, dass das Defizit sinken und die Gesamtschuldenlast um etwa vier bis fünf Billionen Dollar verringert werden muss, also um etwa ein Viertel bis ein Drittel, um nachhaltig tragbar werden zu können. Sie setzt das nach den schmerzlichen Erfahrungen mit dem „fiscal cliff“ nun beinhart um. Es ist genau die Kombination von offensiver, also antizipierender Geldpolitik mit Kürzung von Regierungsausgaben und Schuldenreduktion, wovon sich die Obama-Administration die Lösung der amerikanischen Schuldenkrise verspricht. Das ist ein Mittelweg zwischen „Austerity“ und Stimulus.

Zusätzlich beendet man die teuren Kriege: Irak bereits im Dezember 2011, Afghanistan in Kürze. Die Mehrheit der Amerikaner hält das zusammengenommen für eine klare Strategie, die die Krise beenden wird.

Allerdings wird das Sparen in den USA niemals zum Prinzip oder gar zum Zentrum der Wirtschaftspolitik werden, wie das Europa ins Auge fasst. Sparen ist nur ein temporärer Notstand. Wichtiger ist aus US-Sicht die Ankurbelung der Wirtschaft. Wenn diese wieder läuft, braucht man auch nicht mehr zu sparen, sondern wird, so die Hoffnung, sogar wieder Überschüsse haben wie in der Clinton-Ära – und zwar ohne zu sparen. Sparen ist aus US-Sicht an sich nicht positiv, sondern ein Zwang und ein temporärer Kunstgriff des „Common Sense“.
 

Und Europa?

Roland Benedikter: In den USA sieht man Europas „gemischte“ Krisenstrategie konservativer Geld- und Währungspolitik, die von der Wirtschaftspolitik weitgehend abgekoppelt bleibt, in Kombination mit strikter Sparpolitik insbesondere in den südeuropäischen Ländern und einer wachsenden Diskrepanz zwischen den Euroländern, die nur notdürftig von der Paradoxie permanent werdender „Rettungsschirme“ verdeckt wird, mehr als skeptisch. Rettungsschirme permanent einzurichten, bedeutet aus US-Sicht, die Krise zur Normalität zu machen, um zugunsten nationaler Interessen den Weg zu einer echten politischen Union als unbedingt notwendiger Stütze der Währungsunion zu vermeiden. Da sich die Unterschiede zwischen Gewinnerund Verliererländern innerhalb derselben Währungszone, mit Gewinnern wie Deutschland, Österreich und den Niederlanden auf der einen Seite, „Mittelländern“ wie Frankreich auf der anderen und den Krisenländern Italien, Spanien, Portugal und Griechenland als Verlierern, durch die Sparmaßnahmen nicht verringert, sondern verstärkt haben, fühlen sich die USA bestätigt. Sie meinen, dass in Europa faktisch jedes Land national Sparmaßnahmen durchführen muss, wobei die gemeinsame Solidarität sehr dürftig und in den Augen der Finanzmärkte eher Schein und Alibi als Realität bleibt. Daher halten die meisten US-Strategen und -Analytiker die derzeitigen Bewältigungsstrategien Europas für nicht zielführend.
 

Warum?

Roland Benedikter: Die Art, wie die Nordländer den Südländern das Sparen geradezu aufzwingen, halten viele in den USA nicht für eine Tugend, sondern für eine Strategie des Untergangs. Die Rezession Italiens mit mehr als 2,5 Prozent und einem Konsumrückgang von fünfzehn Prozent 2012 wird dabei oft als Beispiel herangezogen. Sie wurde mutmaßlich durch den Sparkurs bei gleichzeitig auf Rekordniveau erhöhten Steuern mit verursacht. Für Amerika ist diese Kombination genau die falsche Strategie; sie wird die europäischen Länder eher ruinieren als gesunden, weil sie sie – gemäß dem Vergangenheitsprinzip des Sparens – in die Vergangenheit zurückwirft, und zwar nicht nur in ihrer Leistungsfähigkeit, sondern auch in ihren Strukturgrundlagen.

Andererseits versteht man in den USA, dass es ganz ohne Sparen so wie bisher auch nicht weitergeht. Es ist ein Teufelskreis. Die Einsicht darin veranlasst Amerika, Europa als unweigerlich absteigend anzusehen – und sich von ihm strategisch zu distanzieren, zum Beispiel im Rahmen von Obamas „Asia-First“-Globalstrategie. Dass gleichzeitig ein transatlantisches Freihandelsabkommen vorbereitet wird, von dem sich beide Partner eine Zunahme des Bruttosozialprodukts um bis zu zwei Prozent erwarten, ist dazu kein Widerspruch, sondern vielmehr angewandte Realpolitik. Man sucht keine größere Nähe, sondern den beiderseitigen Vorteil.
 

Amerika wird also europaskeptisch bleiben?

Roland Benedikter: Ja. Amerika traut Europa aufgrund seiner Zersplitterung in Einzelinteressen nicht zu, dass es die Krise mit der bisherigen „gemischten“ Strategie von Sparpolitik und Steuererhöhungen in den Krisenländern bewältigen wird. Sie wird die Unterschiede zwischen Nord- und Südländern eher vergrößern. Denn erstens ist eine solche Strategie nicht einheitlich sichtbar, wenn beispielsweise die „französisch-italienische Allianz“ unter Hollande und Monti seit Ende 2012 bereits wieder mit der Forderung nach größeren Verschuldungsspielräumen und Reduktion der Sparzwänge an Deutschland herantritt. Und sie ist zweitens bei der Vielzahl der Entscheidungsträger auch zu kompliziert, um klare Signale zu setzen, wie die USA das versuchen.

 

Welche Rolle wird in zehn Jahren die Stabilitäts- und Sparkultur innerhalb Europas spielen?

Roland Benedikter: Ich denke, dass die Stabilitätskultur statt der Sparkultur das neue Paradigma werden muss – und wird, da ich Optimist bin! Das bedeutet nicht vorrangig Budget- oder Schuldenstabilität innerhalb einzelner Nationalstaaten in einer zwischen Nord und Süd, Gewinnern und Verlierern auseinanderfallenden Währungszone wie bisher, sondern vor allem eine neue Stabilität zwischen den sich stärker miteinander verbindenden europäischen Nationen. Es bedeutet vor allem politische Stabilität durch Einheit – mehr als rein monetäre oder fiskalische Stabilität. Letztere werden dann folgen.

Die Sparkultur auf der anderen Seite wird Europa wohl weiterhin stärker prägen als die USA – weil Europa in der beschriebenen Weise eben eine „Vergangenheitskultur“ ist. Das ist kein Nachteil, sondern die Eigenheit Europas. Wenn sie richtig, nämlich komplementär zur und in Kooperation mit der „Zukunftskultur“ der USA eingesetzt und gestaltet wird, kann sie – im Rahmen einer neuen transatlantischen Rationalität – zu einer langfristig wirksamen Stärkung des Westens gegenüber aufsteigenden, auch nichtdemokratischen Weltgesellschaften wie China werden. Dazu ist allerdings ein ausgewogenes Bewusstsein, beruhend auf der Kenntnis beider Seiten des Atlantiks, notwendig. Ich wünsche mir für die Zukunft europäische Politiker, die von einem solchen Bewusstsein informiert und inspiriert sind – und zwar nicht auf einer schwärmerischen, sondern auf einer nüchternen und rationalen Basis.

 

USA und Europa: Wie stehen die bei- den Wirtschaftsräume aus Ihrer Sicht im Moment da?

Roland Benedikter: Generell stehen die USA meiner Meinung nach derzeit besser da als Europa. Das wird auch bis auf Weiteres so bleiben. Und zwar zunächst ganz einfach deshalb, weil bei ihnen Zivilreligion, nationales Ideal, Regierung sowie Wirtschafts- und Währungsordnung eins sind. Die USA haben zwar ein hohes Schuldenniveau, aber dafür im Vergleich zu Europa sehr niedrige Steuern, also viel mehr Handlungsspielraum. Viele US-Staaten haben null Prozent Mehrwertsteuer, Kalifornien als der wichtigste Zukunftsstaat hat neun Prozent. Die USA haben eine jüngere und sich ständig – mittlerweile allerdings nicht mehr aus dem Osten, sondern vorwiegend aus dem Süden – erneuernde Bevölkerung. Wirtschaftszyklen laufen schneller, Amerikaner glauben mehrheitlich fraglos an ihr Land.

Man kann geteilter Meinung sein, ob das nur gut ist. Aber das alles ist in Europa mehrheitlich nicht der Fall – wenn man einmal Großbritannien ausnimmt, das sich nicht ohne Grund nicht als Europa zugehörig versteht, seit David Camerons Amtsantritt weniger denn je. Wirtschaftlich und Innovationen betreffend sind die USA immer noch flexibler und schneller als alle anderen Räume. Sozial sind sie in der Krise wegen ihrer ideologischen Polarisierung und damit einhergehenden politisch-institutionellen Lähmung. Aber Europa ist in einer noch größeren sozialen Krise mit seiner schwächelnden Mittelklasse – nicht zuletzt aufgrund der auf Rekordsummen steigenden Steuern wie in Italien, das 2013 die höchsten kombinierten Steuern der Welt aufweist. In Nachhaltigkeitskriterien ist Europa weiter, wenn man sie eng fasst und also auf grüne Technologien und erneuerbare Energien fokussiert. Versteht man Nachhaltigkeit aber als kulturelle, gesellschaftliche und zivilisatorische Resilienz, also als Kombination von Nachhaltigkeit, Widerstandsfähigkeit und Erneuerungsfähigkeit, dann ist die Frage, wer langfristig die besseren Karten hat. Ich habe weit mehr Sorge um ein wieder in Nationen auseinanderfallendes Europa als um die national und zivilreligiös gefestigten USA.
 

Roland Benedikter, geboren 1965 in Bruneck (Südtirol), European Foundations Research Professor für Zeitanalyse, Kontextuelle Politikanalyse und Politische Antizipation an der Universität von Kalifornien in Santa Barbara und an der Stanford- Universität (USA).

Das Gespräch führten Matthias Schäfer und Bernd Löhmann.

comment-portlet