Herr Professor Kleine-Kraneburg, Ihr verstorbener Architektenkollege, der weit mehr als Schriftsteller bekannte Max Frisch, hat in den 1950er-Jahren ein Hörspiel über den Städtebau geschrieben. Die Fragen, die er an seinen imaginären Architekten richten ließ, stelle ich Ihnen fast sechzig Jahre später noch einmal: „Wie denken Sie sich, dass unsere Städte von morgen aussehen werden? Wird es dann noch lustig sein, in unseren Städten zu leben? Ich frage Sie als Fachmann, als Architekt: Was habt Ihr im Sinn?“
Helmut Kleine-Kraneburg: Das sind fantastische, erstaunlich aktuelle Fragen. Ich versuche sie relativ kurz zu beantworten. Erstens, die Städte von morgen werden sich nicht so wesentlich ändern gegenüber denen von heute oder gestern. Zweitens: Ja, es wird nach wie vor insgesamt „lustig“ und spannend sein und hoffentlich „noch reizvoller“ werden, in den Städten zu leben. Und drittens hat mit zweitens zu tun: Wir Architekten sollten im Sinn haben, dass es in der Stadt lebenswert bleibt und also den Anreiz pflegen, nicht nur in den Städten zu arbeiten, sondern auch dort zu wohnen.
Die jahrtausendealte Idee der Stadt ist überaus robust. Brigitte Reimann beschreibt es in ihrem Roman Franziska Linkerhand treffend: „Die Stadt ist die kostbarste Erfindung der Zivilisation, die als Vermittlerin von Kultur nur hinter der Sprache zurücksteht.“ Allerdings stellt beispielsweise die extreme Zunahme der Stadtbevölkerung ein schwieriges, relativ neues Phänomen dar, das beispielsweise in den sogenannten Megacitys vor allem der Entwicklungsländer längst nicht bewältigt ist. In Deutschland stehen selbstverständlich andere Aufgaben im Mittelpunkt, wobei für mich der zentrale Punkt ist: das Leben in der Stadt von der Geburt bis ins Alter. Also, wie erreichen wir, dass Familien in den Städten bleiben und nicht, wie über Jahrzehnte geschehen, in die Vorstädte ziehen? Die Frage, wie wir es älteren oder auch behinderten Menschen erleichtern, nicht abgeschieden irgendwo außerhalb der Stadt zu leben, sondern ihr Umfeld so zu gestalten, dass sie in ihrem Zuhause bleiben können? Das betrifft auch das Thema der Migranten oder überhaupt der Menschen, die von „außerhalb“ kommen, weil Stadt ja Offenheit und Fluktuation bedeutet. Wie gelingt es, die Gettoisierung zu verhindern und eine soziale Durchmischung zu erreichen, ohne dass die eine oder andere Gruppe ein Übergewicht bekommt?
Als Architekt werbe ich besonders dafür, dass wir dem Aspekt der Baukultur und der architektonischen Qualität – Stichwort: die Schönheit der Städte – wieder mehr Bedeutung geben. Das gerät zurzeit arg ins Hintertreffen.
Dank für Ihre konstruktive Antwort. Frischs Architekt weicht den Fragen aus und meint, ins Grab zu blicken, wenn er in eine Baugrube sieht. Vor allem stellt er infrage, ob es die Architekten sind, die die Städte von morgen entwerfen. Wer bestimmt heute, wie unsere Städte aussehen werden? Inwieweit ist das noch ein Anliegen der Polis?
Helmut Kleine-Kraneburg: Dem Architekten des guten Max Frisch kann ich überhaupt nicht folgen. Wenn ich in eine Baugrube schaue, beschleichen mich eher Glücksgefühle, bedeutet „Baugrube“ doch Bauen und damit eine Erneuerung, ein „Neuerfinden“ der Stadt. Dennoch weist die Kritik in keine falsche Richtung, denn ich plädiere auch dafür, dass der Architekt als Baumeister, das heißt als Generalist des Bauens, wieder stärker in die Verantwortung bei der Stadtplanung genommen werden sollte.
Natürlich ist Stadtplanung ein Anliegen der Polis, an dem die Stadt als politische Einheit partizipieren muss. Aber spätestens seit Stuttgart 21, seit der Elbphilharmonie und dem BER steht ja die Frage im Raum, inwieweit die Politik noch legitimiert ist, im öffentlichen Interesse zu planen. Bürgerbeteiligung wird berechtigterweise ein immer wichtigeres Thema, über das man nachdenken muss.
Aber das alles sollte nicht dazu führen, dass es zu einem Stimmengewirr kommt, das das Ergebnis verwässert. Was die Fachdisziplin Planung im engen Sinne betrifft, gehört sie in die Hände von Experten, die nachweislich Gutes gebaut und entwickelt haben. Das müssen nicht die sogenannten Stararchitekten sein, denn diese neigen ja bisweilen zu gewissem Autismus und erzeugen – wie zum Beispiel in Bilbao – städtebauliche Fremdkörper.
Stadtplanerische Entscheidungen auf eine breite Basis zu stellen ist also Gefahr und Chance zugleich. Das zu bewerkstelligen ist sehr, sehr schwierig, aber erfolgversprechende Verfahren sollten bei der Grundlagenermittlung ansetzen. Dabei sammelt man alle Daten, Anregungen und Einwände zu geplanten Projekten, bevor man mit der Planung anfängt.
Wenn ich sage, dass man die Leute relativ frühzeitig einbinden sollte, meine ich weniger die Beteiligung am formalen Planungsprozess, deren Ergebnisse allzu oft in den Amtsstuben versteckt bleiben. Sondern ich meine, dass man im Vorfeld aktiv die breite Öffentlichkeit sucht, sich äußert, Verständnis weckt und diskutiert. Über diese „aktive Transparenz“ lässt sich eine größere Akzeptanz erzielen.
Ihr Büro ist in Frankfurt angesiedelt. Ist dort nicht mit Händen zu greifen, dass Kapital und Kommerz eigentlich bestimmend für das Aussehen unserer Städte geworden sind?
Helmut Kleine-Kraneburg: Das ist zwar richtig. Aber glücklicherweise ist wenigstens noch privates Kapital vorhanden, um die Städte zu entwickeln. Leider müssen wir ja feststellen, dass die sogenannte öffentliche Hand, die vor Jahrzehnten mit öffentlichen Bauten ganz selbstverständlich städtebauliche Marksteine gesetzt hat, sich mit dem Totschlagargument des Sparzwangs weitgehend aus dem Baugeschehen zurückgezogen hat. Dass ausgerechnet die wenigen anspruchsvollen Projekte wie die Hamburger Oper oder auch der Berliner Flughafen zurzeit finanziellen Schiffbruch erleiden, wird dem öffentlichen Bauen wohl auch nicht förderlich sein.
Kommerzielle Bauvorhaben sind also nicht grundsätzlich von Übel, sie sollten nur nicht zu Monostrukturen in den Städten führen. Gerade am Beispiel Frankfurt wird aber deutlich, dass Renditeziele auch eine positive Wirkung entfalten können: Lange ist es lukrativer gewesen, in Büroflächen zu investieren. So entstanden die Hochhäuser der Frankfurter Skyline – alles private Investments. Inzwischen gibt es ungefähr zwei Millionen Quadratmeter Leerstand bei den Gewerbeimmobilien, sodass man sich langsam wieder auf die Ursprünge der Stadt, nämlich auf das Wohnen, besinnt. Es gibt immer mehr hervorragende Beispiele dafür in Frankfurt, dass vormals leer stehende Bürogebäude mit erstaunlichen Konzepten zu neuen Wohngebäuden umfunktioniert werden.
Die Occupy-Bewegung hat mit der Besetzung zentraler Plätze in den Städten ein Zeichen des Protestes setzen wollen. Positiv könnte man das als eine Rückeroberung des öffentlichen Raumes verstehen, beispielsweise gegen die um sich greifende Kommerzialisierung. Wie sehen Sie die Occupy-Bewegung in diesem Zusammenhang?
Helmut Kleine-Kraneburg: In diesem Zusammenhang finde ich sie grundsätzlich gut. Im Speziellen, bei den Aktionen in Frankfurt, wurde es aber mit Fortdauer der Aktionen dramatisch schlecht. Der besetzte Platz in der Mitte Frankfurts vermüllte zusehends, aus einer vormals öffentlichen Grünfläche wurde ein Schandfleck. So lässt sich kein öffentliches Verständnis erreichen. Dabei ist eine „positive Rückeroberung“ der Innenstädte absolut notwendig. Die zentrale Frage ist dabei, wie der öffentliche Raum positiv und anspruchsvoll genutzt wird. Einhalt geboten werden muss der grassierenden „Walt-Disney-Vermüllung“ der öffentlichen Plätze – mit Kirmesbuden, Fressständen und so weiter. Da sollte mehr Feingefühl bei den Verwaltungen und Verantwortlichen einziehen. Dass diskutiert und protestiert wird, dass Kundgebungen stattfinden, ist hingegen einer der Ursprünge des öffentlichen Platzes. Dass er aber sozusagen von einer Gruppierung über Wochen quasi besiedelt wird, ist vielleicht dann doch eine Überforderung dieser großartigen Tradition und ist für mich nur in extremen Situationen wie in Ägypten auf dem Tahrir-Platz legitim.
Davon abgesehen hat die „Renaissance der Innenstädte“ ja bereits eingesetzt, weil man gemerkt hat, dass das Thema der Zersiedelung eine Sackgasse ist. Dass bestimmte Städte wie Frankfurt, besonders auch Berlin einen extremen „Run“ erleben, ist eine positive Entwicklung aus den letzten zehn Jahren. Das Häuschen im Grünen war jahrzehntelang das oberste Gut. Mittlerweile gibt es einen Perspektivenwechsel. Die unbestrittenen Vorzüge der gewachsenen Stadt gerade in Europa werden wieder erkannt, die Städte waren und sind wertvolles und unersetzliches Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsgut und waren somit auch immer lebenswert. Dies rückt glücklicherweise wieder tiefer ins Bewusstsein gerade der jüngeren Generationen.
Aber das Leben in den beliebten Städten wird doch immer teurer. Was hilft gegen die Wohnungsnot?
Helmut Kleine-Kraneburg: Der Druck auf die fünf Metropolengebiete ist in der Tat hoch. Jetzt könnte man sagen: Schafft billigen Wohnraum. Nur was ist billiger Wohnraum, erschwinglich für alle? Da wären wir schnell wieder beim Thema des sozialen Wohnungsbaus, der ja leider in den letzten Jahren auch in Verruf gekommen ist. Aber er ist meines Erachtens ein relativ gutes Instrument. Nur können wir das Problem des Wohnungsnotstands nicht allein durch die Wohnbaugesellschaften oder Wohnungsbaugenossenschaften lösen.
Muss man die „Gentrifizierung“ aufhalten?
Helmut Kleine-Kraneburg: Ganz klar, sie muss aufgehalten werden, denn sonst bekommen wir diese Gettoisierung einzelner Stadtteile, die keiner will. Das aber ohne die Auswüchse eines strikten „Milieuschutzes“, denn „Stadt“ bedeutet ja auch immer Fluktuation und Wandel. Was Sie ansprechen, ist ein schwieriges Thema, das man nicht durch ein paar Regularien wie das Verbot des Einbaus eines zweiten Bades, wie es zurzeit in Berlin geschieht, löst. Für einen gewissen Zeitraum sind Instrumente wie die Mietpreisbindung hilfreich, aber langfristig lässt sich der Mechanismus von Angebot und Nachfrage nicht aushebeln, zumal man ja auch die privaten Investoren zum Bauen bewegen muss. Ohne sie wird man der Wohnungsnot nicht Herr werden.
Selbst wenn es sich so anhören sollte, als ob ich das aus Eigeninteresse sage: Es muss gebaut werden, damit die Preise auf dem Wohnungsmarkt der Metropolen nicht dauerhaft steigen, wobei steigende Preise natürlich auch immer Ausdruck für die Attraktivität einer Stadt sind. Ich plädiere in diesem Zusammenhang für eine sinnvolle und behutsame Nachverdichtung in den Innenstädten, für eine vernünftige Revitalisierung und Umwandlung von Gewerbein Wohnflächen und, wenn möglich und nötig, für die Ausweisung von neuen Wohnbauflächen in direkter Nähe zur Stadt.
Helmut Kleine-Kraneburg, geboren 1961 in Rheda-Wiedenbrück. Nach Mitarbeit bei O. M. Ungers gründete der Architekt gemeinsam mit Martin Gruber ein Architekturbüro in Frankfurt am Main.
Das Gespräch führte Bernd Löhmann.