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Interview: Wenn plötzlich alles weg ist

Die Flutkatastrophe aus Theologen- und Augenzeugensicht

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Herr Professor Ulrich, Psalm 69, wohl ein Klagewort König Davids, stand am Anfang des Gottesdienstes am vorigen Sonntag in Halle: „Gott, hilf mir, das Wasser geht mir bis an die Kehle!“ Die schlimme Erfahrung von Flutkatastrophen, die viele Menschen im Raum Halle und in anderen Regionen Deutschlands jetzt neu durchleiden, ist uralt. Können Sie auch im Lichte Ihrer Erlebnisse beschreiben, was diese Erfahrung für Betroffene und Helfer bedeutet?

Jörg Ulrich: Die Flutkatastrophe ist in der Tat eine elementare Erfahrung. Die davon ausgehenden Gefährdungen und Verluste werden bei den Menschen in allen Zeiten wohl ähnliche Gefühle ausgelöst haben. Selbst wenn uns hier in Halle das Wasser nicht immer bis an die Kehle ging, sondern vielleicht nur bis ans Knie. Wer in diesen Tagen Psalm 69 liest, dem kommt die Sprache, die uns die Bibel für eine solche Situation zur Verfügung stellt, besonders nahe, vielleicht näher, als man das will. Sind wir doch hier mit der grundsätzlichen Botschaft von der Brüchigkeit des menschlichen Lebens konfrontiert.

Auch jetzt sind es die Gefühle von Angst und Ohnmacht, die die Betroffenen besonders bewegen. Der Eindruck, man kann nichts dagegen tun, wiegt schwer. Dann schmerzt der Verlust von elementarem Eigentum, von vertrauten Dingen, die man bisher wie selbstverständlich um sich hatte – eigenes Mobiliar, eigene Bücher oder Bilder. Vieles von dem, was man sich aufgebaut hat, ist plötzlich dahin: die Wohnung, die man sich schön eingerichtet hatte, das Geschäft, das man mühsam in Gang gebracht hatte und das jetzt eigentlich ganz gut lief, kommt durch die enormen Schäden zum Erliegen. Es bedeutet auch die Bewältigung von Schwierigkeiten im Alltäglichen, etwa wenn Schulen oder Kindergärten geschlossen sind. All das wird mit großem Improvisationsgeist aufgefangen, ist aber natürlich mit erheblichen Anstrengungen verbunden.

 

Und die Helfer?

Jörg Ulrich: Es haben ungeheuer viele Menschen geholfen und mit angepackt, das war schon sehr eindrucksvoll. Aus erster Hand weiß ich von den Studentinnen und Studenten unserer Universität, dass die Auseinandersetzung mit der Gefahr, die ihnen plötzlich gegenüberstand, eine wesentliche Rolle spielte. Aber da sind auch andere elementare Erfahrungen, zum Beispiel die Erschöpfung, wenn man Tag und Nacht Sandsäcke gefüllt und geschleppt hat, wie auch das schöne Gefühl, gemeinsam etwas getan zu haben, und der Stolz, ein Unglück zumindest teilweise abgewendet zu haben.

 

Wie verändert eine Flutkatastrophe biblischen Ausmaßes das Leben der Betroffenen?

Jörg Ulrich: Natürlich verändert sie das Leben in einem starken Maße. Nach der Katastrophe stehen Neuanfänge bevor. Es geht um Wiederaufbau und Wiederbeschaffung. Man fragt sich: Wie kann es weitergehen? Wo kann ich wieder neu ansetzen? Woher bekomme ich Hilfe?

Die Verunsicherung, die mit dem Erlebnis der Flut und ihren materiellen Schäden einhergeht, wirkt sich natürlich auch psychologisch aus. Es ist der Zusammenbruch von scheinbar Selbstverständlichem, also: Ich verlasse wie jeden Tag morgens mein Haus und gehe davon aus, dass es am Abend, wenn ich zurückkomme, noch genauso dasteht. Aber nun kehre ich zurück und muss feststellen, dass es in einem unbewohnbaren Zustand ist.

Hier kommt ins Spiel, was ich eben mit der Brüchigkeit des menschlichen Lebens gemeint habe. Als Universitätsprediger weise ich in jeder zweiten oder dritten Predigt darauf hin. Dass es aber wirklich auch das eigene Leben sein kann, das brüchig und verletzlich ist, das kommt vielen erst in einer Katastrophe wie dieser zu Bewusstsein.

 

Ein wenig deuten Sie an, dass ein Ereignis wie die Flut dazu beitragen kann, die Grundorientierungen im Leben zu schärfen?

Jörg Ulrich: Ja, man besinnt sich wieder neu auf die Dinge, die wirklich im Zentrum stehen. Gut lässt sich das festmachen an der Stärke von Gemeinschaft und Solidarität, die neu erlebt worden ist. Was beispielsweise unter „Nachbarschaftshilfe“ verstanden wird, hat jetzt eine ganz andere Dimension bekommen.

 

Und bezogen auf unsere Gesellschaft: Kann das Hochwasser zu einem Sinneswandel oder – lutherischer – zur Umkehr beitragen?

Jörg Ulrich: Auf einer gedanklichen Ebene könnte man so etwas wie „Umkehr“ in den Blick nehmen. Wenn es aber um die praktische Umsetzung geht, halte ich das für schwierig. Da bin ich, vielleicht sogar in Fortführung einer gewissen lutherischen Linie, eher wenig optimistisch. Ob der Mensch also tatsächlich je vernünftiger wird, ist mir nicht so klar.

Man hat es nach 2002 gesehen und sieht es schon jetzt, dass die Menschen sagen: Wir müssen mehr tun. Wir brauchen mehr Deiche und Retentionsflächen. Aber wenn es darum geht, dass „meine“ Aussicht verstellt oder „mein“ Acker zum Flutungsgebiet werden soll, dann will niemand seine persönlichen Interessen zurückstellen.

 

Also, viel Solidarität in der konkreten Notlage! Aber kein Zusammenhalt zur Abwendung abstrakter Zukunftsrisiken?

Jörg Ulrich: Ich sehe erhebliche Probleme bei der politischen Durchsetzung – gerade in unserer Gott sei Dank demokratischen und damit interessenpluralen Gesellschaft, die größte Schwierigkeiten damit hat, einen Konsens über Maßnahmen zu finden, die möglicherweise zulasten Einzelner gehen, selbst wenn sie darauf abzielen, Unglück für die Gesamtheit abzuwenden.

 

Woher sollen die Betroffenen die Kraft nehmen, nach der zweiten „Jahrhundertflut“ innerhalb von elf Jahren wieder neu anzufangen? Nicht alle sind so leidensfähig und gottesfürchtig wie Hiob!

Jörg Ulrich: Ja, und selbst der war nicht immer so gottesfürchtig, wie wir aus dem Hiob-Buch wissen. Zum Teil hat sich das Hochwasser dieses Mal andere Orte gesucht, aber beispielsweise im Mulde-Tal hat es die Menschen in der Tat zum zweiten Mal in kurzer Zeit voll erwischt. Und bei ihnen ist zu befürchten, dass es schwieriger werden wird, neue Kraft zu schöpfen. Denn die psychische Barriere, nach nur elf Jahren erneut mit dem Wiederaufbau zu beginnen, liegt natürlich deutlich höher. Jeder wird sich fragen: Für wie lange soll es denn diesmal sein? Da kommt so eine Art Sisyphos-Angst auf, dass der hinaufgeschaffte Stein ja doch nur wieder herunterrollt.

Wenn man jetzt positiv fragt, woher die Menschen ihre Kraft nehmen, dann ist es vor allem die empfangene persönliche Anteilnahme und Solidarität, die guttun und ermutigen. Das kann die Nachbarschaftssolidarität, aber auch die überregionale Hilfsbereitschaft sein, wie die erheblichen Förderprogramme, die aufgelegt worden sind. Und für die, die im christlichen Kontext unterwegs sind, bedeutet die erfahrene Solidarität aller Helfer auch ein starkes Glaubenszeugnis, das durchaus Mut macht.

 

Gott sei Dank gibt es hauptsächlich Schäden an Hab und Gut zu beklagen. Dürfen die Menschen darum trauern? Oder anders gefragt: Welchen moralischen Wert können materielle Werte für sich beanspruchen?

Jörg Ulrich: Ob ich vom „moralischen“ Wert sprechen würde, weiß ich nicht, aber materielle Werte können und dürfen durchaus einen persönlichen Wert haben. Nämlich in der Weise, dass sie eine Lebensgrundlage sind. Ich würde hier denken an die Auslegung des ersten Artikels des Glaubensbekenntnisses über Gott als Schöpfer in Martin Luthers Kleinem Katechismus. Danach gehört alles, was zur Erhaltung des Lebens und zu Bewältigung des Alltags nötig ist, zu Gottes Gaben, wobei Luther hier aufzählt: Kleider, Schuhe, Haus, Hof, Vieh, Weib et cetera.

 

Und Luxus? Es muss ja nicht gleich Maserati oder Porsche sein.

Jörg Ulrich: Auch beim Luxus würde ich das Kriterium des ideellen Wertes anlegen. Wenn es sich beispielsweise um den Schmuck der verstorbenen Großmutter handelt, dann darf man um den Verlust durchaus trauern. Wenn es Dinge sind, die der Maßlosigkeit oder dem Übermaß geschuldet sind, dann kann man den Betroffenen durchaus fragen: Ist denn der Verlust wirklich so schrecklich, wie du denkst? Geht es im Leben nicht um ganz andere Dinge? Meinst du nicht, dass du auf einen deiner drei Maseratis verzichten könntest?

 

Klingt das Kirchentagsmotto „Soviel du brauchst“ mit seiner doch leicht materialismus-skeptischen Note heute anders, wenn viele Tausend Menschen unter hohen materiellen Verlusten leiden?

Jörg Ulrich: Das hängt davon ab, wie man das Kirchentagsmotto versteht, wobei es für mich dazu eingeladen hat, sich eine relative innere Freiheit von den materiellen Dingen zu bewahren und zu sehen, was wir alles im Übermaß haben. Die Frage, was das rechte Maß ist, hat uns interessiert. Und natürlich die Besinnung darauf, dass der Mensch viel mehr ist als das, was er hat. Insofern habe ich den Kirchentag nicht nur materialismus-skeptisch verstanden, sondern eher skeptisch gegenüber einer Identifikation des Menschen mit seinem Besitz.

Das ändert selbstverständlich nichts daran, dass die materiellen Verluste beim Hochwasser schlimm sind. Etwas anderes zu behaupten, wäre zynisch. Trotz allem verhilft uns das Kirchentagsmotto, die Relationen zu wahren. Es sind bei uns Gott sei Dank alle mit Leib und Leben davongekommen. Wir haben enorme Hilfe erfahren. Im Handumdrehen sind milliardenschwere Hilfsprogramme bereitgestellt worden. Sieht man das beispielsweise im Verhältnis zu der fürchterlichen Tragödie in Syrien oder zur Situation in den Hunger- und Flüchtlingsgebieten dieser Welt, dann muss man gerechterweise sagen: Wir haben immer noch so viel, wie wir brauchen. Und denjenigen, denen es jetzt schlecht geht, muss im Rahmen unserer großen Möglichkeiten geholfen werden. Aber dass an anderen Orten ebenfalls Hilfe nötig ist, sollten wir darüber nicht vergessen.

 

Das Lukas-Evangelium (12,24) rät dazu, sich nicht zu sorgen und es zu tun wie die Raben, die weder säen und ernten, auch keine Keller und Scheunen haben. Da ist von „der falschen und rechten Sorge“ die Rede. Wie falsch oder wie richtig ist die menschliche Vorsorge beispielsweise gegen erneute Hochwasser?

Jörg Ulrich: Man muss schon unterscheiden zwischen „Sorge“ und „Vorsorge“. Und da ist Vorsorge natürlich eine kluge Sache. Jeder vernünftige Mensch hat beispielsweise eine Haftpflichtversicherung. Wir gehen mit unserem Auto zum TÜV, um sicher zu sein, dass die Bremse auch funktioniert. Insofern ist Lukas 12 bestimmt kein Plädoyer für Fahrlässigkeit. Aber wenn ich mich permanent sorge und gräme, dann wird „Sorge“ etwas ungeheuer Unproduktives, sogar Lähmendes und steht der Bewältigung der Zukunft im Wege. Dagegen richtet sich die Grundbotschaft des Evangeliums: Denn wenn es stimmt, dass die Welt schon längst gerettet ist – obwohl es für uns nicht immer so aussieht –, dann muss ich mir um die Unbill, die mich jeden Tag treffen könnte, nicht ständig sorgen, sondern kann davon befreit agieren.



Jörg Ulrich, geboren 1960 in Stuttgart, Universitätsprediger der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Am 9. Juni 2013 leitete er den Gottesdienst in der Marktkirche „Unser lieben Frauen“ zu Halle, in dem der vielen vom Hochwasser betroffenen Menschen gedacht wurde. Bundespräsident Joachim Gauck besuchte den Gottesdienst.

Das Gespräch führte Bernd Löhmann.

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