Die Auseinandersetzung mit dem politischen Extremismus steckt im Subtext immer auch ab, welches Meinungsspektrum legitim geäußert werden darf und wo die gesellschaftliche Ächtung beginnt. Das macht das Thema Extremismusbekämpfung politisch so brisant – wer die Deutungshoheit hat, bestimmt darüber, was im gesellschaftlichen Diskurs geäußert werden kann, ohne sich weiterer Anschlussfähigkeit zu berauben. Lange war die Extremismusbekämpfung der Bundesrepublik Deutschland von einem antitotalitären Konsens im Geiste Hannah Arendts geprägt. In den 1950er- und 1960er-Jahren wussten viele Menschen aus unmittelbarer eigener Erfahrung, was die jüdische Philosophin meinte, wenn sie eindrücklich beschrieb, dass Nationalsozialismus und Stalinismus bei allen Unterschieden notwendig auf die „Ausscheidung von ‚Schädlichem‘ oder Überflüssigem zugunsten des reibungslosen Ablaufs einer Bewegung hinauslaufen“.[1]
Die erbarmungslose „Herrschaft des Terrors“, die daraus folgte, war für Arendt, die 1933 vor den Nazis floh, ein Element totaler Herrschaft. Nationalsozialismus und Stalinismus hielt sie für „Variationen des gleichen Modells“, und dieser Geist prägte die junge Bundesrepublik.
Mit der 68er-Bewegung wurde dieser Konsens erstmals in größerem Umfang angegriffen. Der Feind stand rechts und saß im Zweifel in Gestalt des eigenen Vaters am Küchentisch. Ho Chi Minh, Mao Tse-tung und Che Guevara waren die umjubelten Popstars der Bewegung, und man kann zugunsten der jungen Akademiker dieser Zeit nur hoffen, dass im antiimperialen Kampf schlicht zu wenig Zeit blieb, sich mit dem Denken und Wirken dieser Figuren wirklich auseinanderzusetzen. Unter den entscheidenden bundespolitischen Akteuren stand eine grundsätzliche antitotalitäre Haltung allerdings nicht zur Debatte, und es war mit Bundeskanzler Helmut Schmidt ein Sozialdemokrat, der sie im Kampf gegen die RAF eindrucksvoll mit Leben erfüllte.
Zwölf Jahre nach dem Deutschen Herbst brach der Kommunismus zusammen, und der antitotalitäre Konsens erlebte eine letzte Blütezeit. Die Schicksale der Menschen, die dem Stasigefängnis Hohenschönhausen, der Frauenhaftanstalt Hoheneck oder dem Jugendwerkhof Torgau entkommen waren, zeigten drastisch, wie die vermeintlich so menschenfreundliche Ideologie des Sozialismus dem „neuen Menschen“, auf den sie angewiesen war, auf die Sprünge half. Die Staatsräson des wiedervereinigten Deutschlands war daher zunächst noch immer antitotalitär. Daran änderte auch die zunehmende Bedeutung der Auseinandersetzung mit rechtsextremer Ideologie und Gewalt in den frühen 1990er-Jahren erst einmal nichts. Es gab eine Welle rechtsextremer Übergriffe und Morde, auf die die Politik, wenn auch zuweilen erst spät, reagierte, und es entstand eine Vielzahl von Initiativen und Organisationen, die sich diesem Thema widmeten; Bundesfamilien-, Bundesinnen- und Bundessozialministerium stellten in den folgenden Jahren stetig wachsende staatliche Mittel zur Verfügung.[2]
Methodische Taschenspielertricks
Schleichend fand dabei ab Mitte der 1990er-Jahre allerdings eine zweifache Umdeutung statt, die den antitotalitären Konsens sukzessive aufkündigte: Zum einen wurde linker Extremismus in seiner Existenz, zumindest aber in seiner Gefährlichkeit, zunehmend geleugnet. Rechte Extremisten wollten mit falschen Mitteln das Schlechte, linke Extremisten hingegen mit falschen Mitteln das Gute – diese Deutung hat sich weitgehend durchgesetzt. Zum anderen wurde aus der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus der „Kampf gegen rechts“. Wer glaubt, hier sei bloß sprachliche Faulheit am Werk, ist naiv. Vielen, die im „Kampf gegen rechts“ aktiv sind, geht es tatsächlich darum, alles zu bekämpfen, was ihnen nicht links, nicht progressiv genug erscheint. Die alte 68er-These, dass die kapitalistische Gesellschaft eine zumindest präfaschistische sei, hallt hier nach – ergänzt um die zwei neueren Überzeugungen, dass unsere westliche Art, zu leben und zu wirtschaften, „strukturell“ zerstörerisch und ebenso „strukturell“ diskriminierend sei.
Wissenschaftlich untermauert wird dieser „Kampf gegen rechts“ durch regelmäßig erscheinende Studien und Publikationen, die sich meist des Konzepts der sogenannten „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ bedienen, das der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer – und in seiner Nachfolge Andreas Zick – geprägt haben.[3] Die Masche dieser Studien ist offenkundig: Man formuliert politische Aussagen bewusst so, dass ihnen nicht nur Rechtsextremisten zustimmen können, sondern dass sie auch Themen und Einstellungen aufgreifen, die dem bürgerlichen Spektrum rechts der Mitte wichtig sind. Der Kundige erkennt sicherlich sofort, dass eine Zustimmung hier zu einem Punkt auf der Rechtsextremismusskala der Studienautoren führt. Aber der mit den methodischen Taschenspielertricks der einschlägigen Forschung vielleicht nicht so vertraute Befragte, dem es nur darum geht, seiner politischen Haltung wenigstens einigermaßen Ausdruck zu verleihen, wird sich vielleicht doch noch zu einer Zustimmung verleiten lassen, denn moderat und vernünftig formulierte Positionen aus dem bürgerlichen Spektrum werden grundsätzlich gar nicht als Antwortmöglichkeit angeboten.[4]
So laufen diese Studien stets auf einen „Extremismus der Mitte“ hinaus und stoßen alljährlich in den Medien auf ein breites und weitgehend unkritisches Echo. Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen links der Mitte gelingt es auf diese Weise, das Thema „Rechtsextremismus“ beziehungsweise „Kampf gegen rechts“ weit oben auf der politischen Agenda zu halten und damit ihre staatliche Alimentation unantastbar zu machen. In den letzten Jahren ist jedoch gerade im bürgerlichen Lager das Bewusstsein für die – ganz im Sinne Antonio Gramscis – kulturprägende Macht dieses Netzwerks gewachsen.
Zu frappant war es, als im Bundestagswahlkampf nur wenige Stunden nach der heftig umkämpften gemeinsamen Abstimmung von Union, FDP und AfD Ende Januar 2025 bereits die ersten „Mahnwachen“ vor örtlichen CDU-Geschäftsstellen stattfanden. Innerhalb eines Tages gab es professionelle Aufrufe, Videoclips und Unterschriftensammlungen. Und weniger als 48 Stunden nach der letzten Abstimmung demonstrierten 160.000 Menschen unter dem Motto „Aufstand der Anständigen. Wir sind die Brandmauer“ vor dem Reichstag. „Ganz Berlin hasst die CDU“ wurde dabei an die Siegessäule projiziert.
Eine solche Mobilisierungsmacht ist beeindruckend – und sicherlich nicht allein damit zu erklären, dass so etwas in Zeiten von Messengerdiensten eben schneller geht. Sondern was sich hier zeigt, ist die Wirkungsmacht von finanziell großzügig ausgestatteten, sich gegenseitig pushenden und von einer breiten medialen Unterstützerszene getragenen Organisationen, die nur noch insofern „non-governmental“ sind, als sie nicht direkt in staatlicher Hand liegen. Allerdings werden sie überwiegend staatlich finanziert und übernehmen, etwa als „Meldestellen“, auch zunehmend staatliche Aufgaben.
Grundlinien der Extremismusbekämpfung
Eine neue unionsgeführte Bundesregierung hat jetzt die Chance, Extremismusbekämpfung wieder auf ihren eigentlichen Sinn zurückzuführen. Folgende Grundlinien könnten dabei hilfreich sein.
Erstens: Ein freiheitlicher Staat muss mit dem Verdikt „Extremismus“ zurückhaltend umgehen. Er muss präzise und nachvollziehbar begründen, in welchen konkreten Fällen und aus welchen Gründen er diese folgenreiche Etikettierung für angebracht hält. Doppelte Standards oder falschen Respekt gegenüber religiös verbrämten Extremismen sollte er dabei unbedingt vermeiden.
Zweitens: Innerhalb des Rahmens unserer Verfassung ist es nicht Aufgabe des Staates, das Meinungsspektrum zu gestalten, sondern Pluralismus zu ermöglichen.
Drittens: Der Beutelsbacher Konsens, ein Grundsatzpapier aus dem Jahr 1976, ist bis heute Leitlinie, zumindest Anspruch für die politische Bildung in Deutschland. Seine beiden Kerngedanken sind das „Überwältigungsverbot“, nach dem Schüler nicht mit bestimmten Meinungen indoktriniert werden dürfen, und das „Kontroversitätsgebot“, nach dem Themen, die in der Gesellschaft umstritten sind, auch im Unterricht als kontrovers dargestellt werden müssen. Diese beiden Grundsätze sind hervorragend geeignet, auch Maxime der Extremismusbekämpfung zu werden.
Viertens: Der Staat hat etablierte und parlamentarisch kontrollierte Strukturen politischer Bildung, auf die er auch im Rahmen der Extremismusprävention zuvorderst setzen sollte. Möchte er darüber hinaus einzelne, besonders beispielhafte Initiativen unterstützen, sollte er darauf achten, dass diese wirklich zivilgesellschaftlich breit verankert sind. Ein Indikator hierfür ist, wenn sich Initiativen überwiegend durch Spenden, Mitgliedsbeiträge oder Förderungen, etwa von privaten Stiftungen, finanzieren und maximal fünfzig, besser dreißig Prozent ihres Jahresetats aus staatlichen Mitteln erwirtschaften.
Fünftens: Die politische Ausgewogenheit dieser staatlich geförderten Nichtregierungsorganisationen muss wieder demokratische Selbstverständlichkeit werden. Das heißt nicht, dass eine einzelne Initiative innerhalb des verfassungsmäßigen Bogens nicht auch rechts oder links der Mitte stehen darf – sofern sie sich an die Grundsätze des Beutelsbacher Konsenses hält. In ihrer Gesamtheit müssen die geförderten Initiativen jedoch in ihren politischen Positionierungen etwa dem Meinungsspektrum der Bevölkerung entsprechen.
Sechstens: Diese Initiativen müssen sich dem stellen, was bei einem sorgfältigen Umgang mit Steuermitteln selbstverständlich sein sollte, und zwar einer unabhängigen und ergebnisoffenen Evaluation ihrer Arbeit. Deren Aufgabe ist es, anhand geschickt operationalisierter Parameter zu messen, ob die untersuchten Aktivitäten zumindest ein wenig dazu beitragen, das zu erreichen, was erreicht werden soll: unsere freiheitliche Demokratie gegen extremistische Worte und Taten zu schützen.
Kristina Schröder, geboren 1977 in Wiesbaden, 2002 bis 2017 Mitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 2009 bis 2013 Bundesministerin für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, heute unter anderem Unternehmensberaterin und stellvertretende Leiterin von „REPUBLIK21. Denkfabrik für neue bürgerliche Politik“.
[1] Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, Pieper Verlag, 8. Aufl., München 2001.
[2] Allein der Etat des Familienministeriums beläuft sich inzwischen auf über 200 Millionen Euro im Jahr – im Vergleich zu 25 Millionen in meiner Amtszeit (2009–2013).
[3] Vgl. Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Deutsche Zustände. Jährliche Studienreihe, Suhrkamp Verlag, 2002 bis 2011; „Die distanzierte Mitte“. Studien und Gutachten der Friedrich-Ebert-Stiftung unter Leitung von Andreas Zick und Beate Küpper, www.fes.de/referat-demokratie-gesellschaft-und-innovation/gegen-rechtsextremismus/publikationen/studien/gutachten [letzter Zugriff: 01.10.2025].
[4] Vgl. Kristina Schröder: „Diese Rechtsextremismus-Studie verengt den legitimen Meinungskorridor in Deutschland“, in: Die Welt, 02.10.2023, www.welt.de/debatte/kommentare/plus247761620/Kristina-Schroeder-Die-methodischen-Taschenspieler-Tricks-der-Umfragen.html [letzter Zugriff: 01.10.2025].